Wem nützen Lebensmittel-Standards?

Private und staatliche Tierschutz-Kennzeichnungen konkurrieren

Aktuell findet ein Wettstreit zwischen privaten und staatlich reglementierten Tierschutz-Standards für die Kennzeichnung tierischer Produkte statt. Kein anderes Lebensmittel-Label wird in den Medien derart ausgiebig verhandelt.

Lidls „Haltungskompass"

Lidls „Haltungskompass" ist ein 4-Stufen-System für die Kennzeichnung von Fleischprodukten. Foto: TheS

Der Einzelhandelskonzern Lidl hat seit Anfang April dieses Jahres ein neues Label: den Tierwohl-Haltungskompass. Er soll den KonsumentInnen Orientierung geben. Wie bei allen Standards stellt sich auch hier die grundsätzliche Frage: Was bringen die von Politik, Wirtschaft und vielen NGO gepriesenen Transparenzoffensiven der Konzerne mit ihren privaten Standardsetzungen? Haben die Verbraucherinnen und Verbraucher überhaupt Einflussmöglichkeiten? Zwei grundlegende Positionen stehen sich hierbei gegenüber: BefürworterInnen und KritikerInnen von gelabelten Lebensmitteln.

Das zeigt sich auch in mehr oder weniger aktuellen Büchern: Tanja Busse1 , Katarina Schickling2 , Katrin Hartmann3 und Sina Trinkwald4 sind oder waren mit ihren Büchern sehr präsent in den deutschsprachigen Medien. Denn das Thema des nachhaltigen Konsums von Lebensmitteln mittels gekennzeichneter Standards beschäftigt die Menschen sehr.
Busse und Schickling zählen zu den UnterstützerInnen der Idee, dass das politisch-ethisch richtige Kaufverhalten möglichst vieler Verbraucherinnen und Verbraucher die Lebensmittelwirtschaft in die richtige Richtung lenken kann. Hartmann und Trinkwald halten dagegen den Glauben, die KonsumentInnen könnten die Konzerne an einem Nasenring durch die Manege herumführen, für illusionär und naiv - schlimmer: Eher das Gegenteil sei der Fall.

Lidls neues Tierwohllabel

Lidls Haltungskompass zufolge werden die Bedingungen der Nutztierhaltung in vier verschiedene Stufen aufgeteilt und per Label am Fleischprodukt sichtbar gemacht. Gerade neu eingeführt, gilt es momentan nur für Geflügelfrischfleisch; Schweinefleisch soll alsbald folgen. Jan Bock, in der Konzernzentrale zuständig für das Programm, hofft, dass bald alles bei Lidl verkaufte Fleisch der Transparenzinitiative folgt und dass dann nur noch die höheren Standardstufen 2-4 in der Fleischtheke zu finden sind. Der Lidl-Ableger Kaufland wird die neuen Regeln später einführen.

Aus VerbraucherInnensicht

Allgemein wird die Lidl-Initiative begrüßt. Selbst Stephanie Töwe von Greenpeace hat die Lidl-Initiative gelobt, ebenso wie Verbraucherschützer Klaus Müller von der Verbraucherzentrale Bundesverband. Jeder Schritt zur Qualitätsdifferenzierung und Verbesserung der Haltungsbedingungen sei erst einmal gut. Nichtregierungsorganisationen hatten schon seit längerer Zeit eine stufenförmige Kennzeichnung für Tierwohl - nach dem Vorbild der Eierklassifizierung - gefordert. Dass Lidl hier mit gutem Beispiel vorangeht löst Verwunderung, aber auch Kritik aus. Die neue Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) hält ein bundeseinheitliches, staatliches, mehrstufiges System für die beste Lösung. Das hat sie in ihrer ersten Ministerinnenrede im Bundestag schon deutlich gemacht. Nun steht zu befürchten, dass die Vorgabe eines so mächtigen Konzerns wie Lidl Fakten schafft, an denen die Politik nicht mehr vorbeikommt; allein um eine Verwirrung der VerbraucherInnen zu vermeiden. Fraglich ist auch, ob die Kriterien von Lidl, ihre Umsetzung, Überwachung und die Stufeneinteilung einer kritischen Überprüfung standhalten.

Die Bestimmungen

Lidl führt, anders als zum Beispiel bei der Kennzeichnung von Eiern erprobt, kein drei-, sondern ein vierstufiges System ein. Der Konzern benutzt aber noch zwei zusätzliche Unterkategorien, die die Klarheit untergraben; Übersichtlichkeit sieht anders aus. Die inhaltliche Kritik bezieht sich unter anderem auf Lidls „Tierwohlindikatoren“, die unter KennerInnen der Markenfleischprogramme als „dünn“ gelten.5 Die Kritik richtet sich nicht gegen die höchste Stufe 4. Bei ihr gelten die Regeln der EU-Öko-Verordnung, allerdings mit einer Prämienvariante, die auch für konventionelle Tierhalter geöffnet ist. Die Stufe 1 gewährleistet allein den gegenwärtigen gesetzlichen Status quo. Und bei den weiteren Stufen geht es um ein bisschen mehr Platz pro Tier, auch muss gestaffelt für Beschäftigung für die Tiere gesorgt werden - zum Beispiel durch Einstreu. Außerdem muss zum Beispiel ab Stufe 3 begrenzter Auslauf - kurzerhand umformuliert als „Zugang zum Außenklimabereich“ - gewährt werden. Der Anbindestall beim Rind ist ab Stufe 2 ausgeschlossen.

Was fehlt?

Völlig unbekannt bleibt die Kosten-Ertrags-Formel: Wie werden die Erzeuger für ihr Fleisch in den verschiedenen Stufen entgolten? Reichen die Prämienpreise, um die Zusatzkosten zu decken, und bleibt dann auch noch ein Ertragsanreiz, um eine höhere Stufe erreichen zu wollen? Aussagen über tiermedizinische Versorgung und Medikamentenverwendung fehlen gänzlich. Auf das Schreddern von männlichen Küken und das Schwanzbeißen bei Schweinen wird nicht eingegangen. Was jedoch in bäuerlichen Kreisen Anerkennung findet, ist, dass Lidl plant, von jedem verkauften Kilogramm der höheren Stufen 6,25 Cent an einen Fonds abzuführen, der den LandwirtInnen bei der Finanzierung der Umstellung auf ein höheres Tierwohlniveau helfen soll.

Gentechnikfreiheit

Gentechnikfreiheit in der Fütterung ist ab Stufe 3 Pflicht. Allerdings sind die Durchführungsbestimmungen bisher nicht transparent. Das liegt nicht zuletzt an der komplexen Praxis: Gilt die Futterbestimmung nur für das Masttier, oder auch für dessen Aufzucht und für das Muttertier? Sind hier Zeitlimits vorgesehen? Wie exakt ist der Nachweis zu erbringen? Sind Futtermittel, die mit neuen Gentechnik-Verfahren hergestellt wurden, bereits inbegriffen? Auch schlägt die ausschließliche Verwendung von gentechnikfreiem Futter kostenmäßig zu Buche. Gentechnikfreies Soja ist zum Beispiel etwa 20 Prozent teurer als gentechnisch verändertes Soja, und Soja aus Europa wieder- um etwa acht Prozent teurer als solches aus Südamerika. Antwort könnte die Initiative Lidls zur Versorgung der eigenen LieferantInnen mit gentechnikfreier Soja geben.6

Donau Soja

Wenn im Rahmen von Lidls Haltungskompass die Futtermittel europäischen Ursprungs sein sollen, liegt es nahe, die potentielle Hauptquelle, die „Multistakeholder Initiative Donau Soja“ einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Unter ihrer Vermittlung wurde der Anbau und die Vermarktung von europäischem, gentechnikfreiem Soja auf dem Balkan, in den Visegrád-Staaten Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn, sowie in Österreich und Bayern sehr stark angeregt. Der Zusammenschluss erhebt den Anspruch, dass sein Sojaschrot gentechnikfrei ist, von kleinen und mittleren Agrarbetrieben angebaut wird und nicht in Monokultur wächst.7

Allerdings opponiert der globale Kleinbauernverband La Via Campesina stark gegen Donau Soja. Die Gründe sind allgemeiner Natur, weil für die Mitglieder von La Via Campesina Soja grundsätzlich Teil einer industrialisierten Tierhaltungswirtschaft ist. Unter den Mitgliedern von Donau Soja befindet sich alles, was Rang und Namen im internationalen Agrobusiness hat, sowie die großen Einzelhandelskonzerne. Auch Lidl ist Mitglied bei Donau Soja. La Via Campesina wirft dem Zusammenschluss vor, er biete landwirtschaftlichen Akteuren eine Plattform, die den fairen Zugang von KleinbäuerInnen zu Land und Märkten untergraben. Maßgeblich für diese Haltung der europäischen La Via Campesina-Sektion ist deren rumänische Mitgliedsorganisation Ecoruralis. Bisher können diese Kritikpunkte jedoch nicht belegt oder durch wissenschaftliche Studien untermauert werden.

VerbraucherInnenmacht

Sehr viele verarbeitete und verpackte Lebensmittel in den Supermarktregalen tragen inzwischen irgendein Label wie „grün“ oder „nachhaltig“; ohne dieses hübsche Alibi geht es in der Wirtschaft offenbar nicht mehr. Allein in der EU sind inzwischen 630 Labels für den Agrar- und Ernährungsbe- reich gelistet, und ständig werden es mehr. Der ratlose Verbraucher findet sich in dem Dschungel nicht mehr zurecht. Welche der vielen Versprechungen sind glaubwürdig? Was besagen die Standards wirklich? Gehen sie an den Kern der Umwelt-, Tierwohl- und Sozialdebatte?

Noch schwerer zu überblicken sind die Nachhaltigkeitsstandards, die für Business-to-Business-Geschäfte gelten. Sie sind für die KonsumentInnen nicht sichtbar, für die ProduzentInnen aber sehr wohl von Bedeutung. In der Regel sind das Qualitäts- und Nachhaltigkeitsprüfsysteme des Agrobusiness und der Supermarktkonzerne. Sie steu- ern die globalen Lieferketten.

Wo bleibt der Staat?

Die privaten Siegelinitiativen werden von Staaten allseits begrüßt, entheben sie doch die Regierungen der Gefahr, sich bei der Regulierung der Wirtschaft die Finger zu verbrennen. Wenn sich der private Sektor selbst ethische Regeln setzt, scheint eine staatliche Regulierung und Aufsicht unnötig. Versuche, etwa der Bundesregierung, hier etwas mehr Übersicht in das Durcheinander zu bringen, wirken eher hilflos. So zum Beispiel kam deren Initiative „siegelklarheit.de“ - anders als geplant - kaum über Textilien hinaus.

Die Politik bleibt ambivalent. Einerseits soll die ganze Palette von Standards gefördert werden, andererseits bleibt ungeklärt, wann was tatsächlich geregelt wird. Deutlich wurde dies zum Beispiel beim G20-Treffen in Hamburg im vergangenen Jahr8 , sowie in der Regierungserklärung der alten, wie auch der neuen Großen Koalition.9 Es tut sich nichts. Die Bekenntnisse der Politik halten nicht bis zur Gesetzesinitiative durch. In der Zwischenzeit setzen sich privatwirtschaftliche Interessen durch und übernehmen die Führung.

Cheerleader der Standards

Die Bundesrepublik gehört - ebenso wie die ganze Riege der internationalen Organisationen UNCTAD, WTO und FAO10 - zu den Cheerleadern der Standard-Initiativen. Gleiches gilt für viele Organisationen der Zivilgesellschaft, allen voran für den WWF. Auf internationaler Ebene wird die „schöne heile Welt der freiwilligen Nachhaltigkeitsstandards“, wie Ulrich Hoffmann vom Forum für Nachhaltigkeitsstandards der Vereinten Nationen (UNFSS) es einmal nannte, speziell von neoliberaler Seite geradezu beschworen. Es scheint der Königsweg zu sein, die Debatte um die Nachhaltigkeits-Ziele (Sustainable Development Goals - SDG) der UNO marktkonform umzusetzen, indem man sie in die Hände der Privatwirtschaft legt. Dabei wird das Freiwilligkeitsprinzip der Standards zum Mantra der Debatte. Bloß den Staat draußen lassen! Das ist das höchste Credo, denn die Setzung und Kontrolle der Standards muss den Geschäftsinteressen untergeordnet bleiben. Das verkauft sich dann so schön als Lerneffekt der Unternehmen, die ihrer Weltverantwortung jenseits ihres Profitinteresses nachkommen.

Doch in Wirklichkeit handelt es sich bei den Standards um nichts weiter als um Qualitätskontrollverfahren in globalen Wertschöpfungsketten unter dem Diktat der Einzelhandelskonzerne. Würde nicht die öffentliche Meinung und die kritischen Medien den Konzernen im Nacken sitzen, wären die Alibivorstellungen überflüssig.

Täuschung und Medienmacht

Für die Medien tun sich hervorragende Gelegenheiten auf, irgendwo auf der Welt Fälle aufzutreiben, bei denen das Versprechen eines Standards mit der Wirklichkeit vor Ort in einem krassen Widerspruch steht. So geschehen zum Beispiel in dem aktuellen Kinofilm „Die grüne Lüge“ von Werner Boote, und den beiden ZDF-Sendungen „Der Preis der süßen Früchte“ vom 15. Oktober 2017 und „Fleisch aus artgerechter Tierhaltung“ vom 4. Oktober 2017. Das dürfte für die Anhänger der Standards und ihre vielen Protagonisten - Auditgesellschaften, Zertifizierer, Akkreditierungsorganisationen, Standardsetzer, Consul- tingfirmen, Software-Anbieter - mehr als peinlich sein. Aber schwarze Schafe, die der Täuschung überführt werden, stärken nur das teure privatwirtschaftliche System. Sie führen zu einer Verschärfung der Bedingungen, die ihrerseits dazu führen, dass noch mehr kleinen Erzeugern der Marktzugang verwehrt ist.

Fazit

Lidl hat mit seinem Tierwohllabel eindrücklich demonstriert, wie ein Konzern sich an die Spitze eines grünen Trends setzt und damit Staat und VerbraucherInnen bevormundet. Der Standard mag zwar gewisse Verbesserungen bringen, aber grundsätzlich erhalten die Konzerne durch die privaten Standards eine Definitionshoheit über sensible gesellschaftliche Anliegen, die zu regeln eigentlich Sache staatlicher Intervention wären.

 

  • 1Tanja Busse, Die Einkaufsrevolution - Konsumenten entdecken ihre Macht, München 2006.
  • 2Katarina Schickling, Besser einkaufen - Der Lebensmittelratgeber für kritische Verbraucher, Freiburg 2018.
  • 3Kathrin Hartmann, Die Grüne Lüge - Weltrettung, München 2018.
  • 4Sina Trinkwald, FAIRarscht - Wie Wirtschaft und Handel die Kunden für dumm verkaufen, München 2016.
  • 5Zitat von Christof Zimmer, Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall.
  • 6Siehe dazu den Beitrag „Lidl Soja Initiative” von Christof Potthof auf Seite 8 in diesem Heft.
  • 7Siehe dazu auf Seite 17 in dieser GID-Ausgabe.
  • 8G20 (2017) Abschlusserklärung, Seite. 5, www.bundesregierung.de oder www.kurzlink.de/gid245_s.
  • 9Koalitionsvertrag, 14. März 2018, Seite 18, www.bundesregierung.de oder www.kurzlink.de/gid245_r.
  • 10Konferenz zu Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNC- TAD), Welthandelsorganisation (WTO) und Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO).
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
245
vom Mai 2018
Seite 10 - 12

Rudolf Buntzel ist langjähriger Agrarreferent beim Kirchlichen Entwicklungsdienst. Er beschäftigt sich mit globalen Fragen der Standardsetzung bei Lebensmitteln und ist Berater von Brot für die Welt.

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