Eiweißnotstand in der EU?

Nulltoleranz für nicht zugelassene GVO muss erhalten bleiben

Die Agrarindustrie versucht, die Nulltoleranz der Europäischen Union gegenüber nicht zugelassenen gentechnisch veränderten Organismen zu kippen.

Glaubte man den Aussagen der Futtermittel- und Fleischindustrie, dem Agrarhandel, den Spitzen der europäischen Bauernverbände sowie der Generaldirektion Landwirtschaft der EU-Kommission, so droht der Europäischen Union (EU) bald ein Futtermittelnotstand. Die Preise würden explodieren und die Schweine- und Geflügelproduktion verlören ihre Wettbewerbsfähigkeit. Gründe hierfür, so die Lobbyisten, seien das Festhalten der EU an der Nulltoleranz für nicht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (GVO) und die Verzögerung der Zulassung neuer GVO.1

Gezielte Fehlinformation

Um politischen Druck zu erzeugen, streuen die Gegner der Nulltoleranz seit Sommer 2009 folgende Botschaft: Weil die Sojaimporte aus Argentinien und Brasilien aufgrund geringer Ernten dramatisch eingebrochen seien, sei die EU von nur einer Quelle abhängig: den USA. Die zwischen September 2009 und März 2010 benötigte Menge von sechs bis siebeneinhalb Millionen Tonnen Soja sei nur von dort zu beziehen. Weil aber seit Juni 2009 die Einfuhr von Sojabohnen und Sojaschrot aus den USA in die Europäische Union aufgrund der hier geltenden Nulltoleranz „praktisch verhindert“ werde, drohten der europäischen Lebens- und Futtermittelindustrie allein für diesen Zeitraum Verluste von dreieinhalb bis fünf Milliarden Euro.

Eindeutige Faktenlage

Belege dafür, dass die Einfuhr von Soja aus den USA in die EU seit Juni 2009 „praktisch zum Erliegen“ gekommen seien, gibt es nicht. Allein die 13 seitdem dokumentierten Verunreinigungsfälle bei US-amerikanischen Sojalieferungen, die sowohl für Lebens- und Futtermittel als auch für Heimtiernahrung bestimmt waren, zeigen, dass die USA den EU-Markt sehr wohl weiter beliefern. Auch eine aktuelle Meldung in dem landwirtschaftlichen Fachblatt „Agra-Europe” vom 19. Oktober 2009 konstatiert für Sojaschrot, dass die „von Brüssel gefahrene ‚Nulltoleranzpolitik’ bisher keinen Niederschlag in den US-Statistiken findet; die amerikanischen Sojaschrotexporte sollen gegenüber 2008/09 sogar leicht steigen“. Bezogen auf die gesamten Sojaimporte in die EU (zirka 32 Millionen Tonnen so genanntes Sojaäquivalent) muss man festhalten, dass die USA als Exporteur in die EU eher eine untergeordnete Rolle spielt: Bei Sojaschrot-Importen in die EU ist ihr Anteil marginal (etwa 2,3 Prozent). Das Gros des Schrotes wird aus Argentinien (56 Prozent) und Brasilien (41 Prozent) bezogen. Bei Sojabohnen stellt die USA derzeit weniger als ein Sechstel der importierten Menge in die EU - hier kommt knapp 70% aus Brasilien. Zwar sind die Erntemengen der Hauptsojalieferanten in die EU - Argentinien und Brasilien - in der Anbausaison 2008/09 trockenheitsbedingt gesunken, die Prognosen für die neue Ernte in 2009/2010 sind jedoch wieder äußerst positiv. Sicherlich gehen die Sojabestände in Brasilien und Argentinien kurz vor der neuen Ernte, die aus Südamerika ab März 2010 auf den Markt kommt, turnusmäßig zurück, da ein Großteil der Ware bereits Monate vorher zu einem festgelegten Preis verkauft worden ist. Knapp 90 Prozent der vom Europäischen Schnellwarnsystem RAFFS seit 2004 bis Ende Juli 2009 erfassten Fälle von (mit nicht zugelassenen GVO) verunreinigten Futtermitteln gehen allein auf Importe aus den USA zurück. Kein einziger Verunreinigungsfall der letzten fünf Jahre wurde aus Argentinien oder Brasilien gemeldet, den beiden anderen Hauptanbauländern gentechnisch veränderter Soja (GVO-Anteil in Argentinien 99 Prozent, in Brasilien zirka 55 Prozent). Anscheinend werden hier erst neue GVO-Sorten angebaut, wenn die entsprechenden Zulassungsprüfungen im eigenen Land, aber auch in Importländern durchlaufen worden sind.

Standhaft bleiben

Zuerst war es der Bayerische Bauernverband - jetzt gefolgt vom Westfälisch Lippischen Landwirtschaftsverband, dem Rheinischen Landwirtschaftsverband und dem Landvolk Niedersachsen - die ins gleiche Horn stoßen und ihre Mitglieder auffordern, eine Postkarte mit dem Aufruf: „GVO-Nulltoleranz darf Schweinehalter nicht von Markt verdrängen - Versorgung mit Eiweißfuttermitteln sicherstellen!” an Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) zu schreiben. Diese Kampagne, bei der sich Ilse Aigner auf EU-Ebene für die Aufhebung der Nulltoleranz einsetzen soll, wird selbst innerhalb des Bayrischen Bauernverbandes (BBV) kritisiert. Franz Lenz verurteilt diese Aktion trotz seiner Funktion als Kreisobmann des BBV-Kreisverbandes Ebersberg in einem Brief an den Bayrischen Umweltminister Markus Söder aufs Schärfste. Lenz’ Meinung nach wäre ein Kippen der Nulltoleranz ein katastrophales Signal an die Sojaproduzenten und die Händler. Ihnen würde ein Freischein für die Verunreinigung mit in der EU nicht zugelassenen GVO erteilt. Mit einer stringenten Haltung den Produzenten (und dem Handel) gegenüber würden dagegen diejenigen, die jetzt schon GVO-Freiheit liefern können, gestärkt und nicht für ihre Bemühungen um Reinheit bestraft.

Es gibt Alternativen

Auf dem brasilianischen Markt ist gentechnikfreie Soja in Mengen vorhanden, mit denen ein Großteil des EU-Sojabedarfs, in jedem Fall aber ganz Deutschland, beliefert werden kann. Auch andere Lieferanten (beispielsweise Indien und China) stehen in den Startlöchern. Um die enormen Abhängigkeiten der europäischen Bauern von „billigem“ Soja zu schmälern, aber auch hinsichtlich ihres klima- und ressourcenschonenden Potentials sollten wieder verstärkt einheimische Eiweißfutterpflanzen angebaut werden. Hierzu bedarf es auch vermehrter Forschung, Züchtung und Förderung des Anbaus. Derzeit ist die Verwendung von Rapsschrot finanziell attraktiv.

Koexistenz unmöglich

Trotz der Bekundungen seitens der Gentechnik-Befürworter, dass eine Koexistenz von gentechnisch veränderten und nicht gentechnisch veränderten Systemen möglich sei, beweisen die USA das Gegenteil. Sie bekommen ihre Probleme mit den Verunreinigungen nicht in den Griff. Es ist die US-Agrarindustrie, die sich seit Jahren weigert, ein Trennungssystem für Produkte mit und ohne Gentechnik beziehungsweise für in der EU zugelassene und nicht zugelassene GVO aufzubauen. Die Einführung von Schwellenwerten für nicht zugelassene GVO würde die Verunreinigungen im Verborgenen lassen. Die Transparenz für Bauern und Verbraucher wäre verloren. Auch wäre zu befürchten, dass dies nur ein erster Schritt ist. Erst werden niedrige Schwellenwerte für Futtermittel eingeführt, dann für Lebensmittel, bald auch für Verunreinigungen mit gentechnisch veränderten Pflanzen zur Herstellung pharmakologisch wirksamer oder industrieller Stoffe - und letztendlich auch für Saatgut. Die Folgen sind immer höhere Grenzwerte für nirgendwo in der Welt zugelassene und nicht sicherheitsbewertete GVO. Kurzum: Die Nulltoleranz für in der EU nicht zugelassene GVO muss aufrecht erhalten bleiben, das EU-Recht darf nicht aufgeweicht werden. Und eine Bundesregierung, die ernst genommen werden will, muss die Interessen ihrer Bürger vertreten, nicht die der Agrar- und Gentechnikindustrie. Sie muss das Recht auf eine gentechnikfreie Landwirtschaft und auf gentechnikfreie Lebensmittel sicherstellen und deshalb klar für die Nulltoleranz nicht zugelassener GVO eintreten.

  • 1Alle Nachweise von in der Europäischen Union nicht (als Lebens- und/oder Futtermittel) zugelassenen gentechnisch veränderten Organismen in Lebens- oder Futtermitteln führen derzeit zum Verlust der Verkehrsfähigkeit der verunreinigten Produkte. Die letzten Fälle bei Lebensmitteln waren Leinsamen, verschiedene Reissorten (unter anderem der so genannte LL601 von Bayer CropSciences) oder die Kontaminationen von Honig mit gentechnisch verändertem MON810-Maispollen.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
197
vom Dezember 2009
Seite 52 - 53

Annemarie Volling ist Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und dort zuständig für die Sicherung der gentechnikfreien Landwirtschaft sowie Saatgut und Patente.

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„Wie die Agrarindustrie versucht, die Nulltoleranz zu kippen”

Gentechnik-kritische Verbände, darunter die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und das Gen-ethische Netzwerk, haben zusammen ein umfangreiches Hintergrundpapier zu diesem Thema veröffentlicht, das von den Seiten des GeN heruntergeladen werden kann. Die Forderung der Verbände ist schlicht und einfach: „Keine Schwellenwerte für nicht in der EU zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (GVO)”.
(Christof Potthof)
Hintergrundpapier: „Wie die Agrarindustrie versucht, die Nulltoleranz zu kippen”. 16 Seiten; im Netz unter http://www.gen-ethisches-netzwerk.de/files/0911verbaende_nicht_zugelass… .

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