Willkommenskultur für Ungeborene?

Bericht vom „Marsch für das Leben”

Zum elften Mal fand am 19. September der „Marsch für das Leben“ in Berlin statt. Die Proteste dagegen nehmen zu.

Töten sei schlecht, wiederholte der Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht (BVL), der katholische Publizist Martin Lohmann, immer wieder in seiner Rede auf der Auftaktkundgebung vor dem Kanzleramt. Der anschließende „Schweigemarsch“ richtete sich gegen Abtreibung, PID, PND, Embryonenverwertung und jede Form der als „Euthanasie“ bezeichneten Sterbehilfe. Die radikalen AbtreibungsgegnerInnen betrachten diese Phänomene als Ausdruck einer „Kultur des Todes“, der sie eine „Kultur des Lebens“ entgegensetzen wollen. In der ersten Reihe dabei - die Europaabgeordnete der Alternative für Deutschland (AfD), Beatrix von Storch.

Inklusion und Willkommenskultur

Das Highlight der letztjährigen Auftaktveranstaltung bildete der Auftritt des ehemaligen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU). Er verwob die Grundüberzeugung der „Lebensschützer“, das Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod liege allein in Gottes Hand, mit aktuellen behindertenpolitischen Diskursen, als er postulierte: „Inklusion fängt schon vor der Geburt an“.1 Auch in diesem Jahr versuchten sich die „Lebensschützer“ als die einzig wahren Verbündeten von Menschen mit Behinderung zu positionieren: Gegen eine Liberalisierung der Sterbehilfe legte Rolf R., der seit einem Suizidversuch im Rollstuhl sitzt, „Zeugnis“ dafür ab „wie schön das Leben ist“.2

Solche Interventionen lenken die aktuelle Diskussion um das Sterbehilfegesetz in die Richtung des restriktivsten parlamentarischen Antrags. Mit Patrick Sensburg (CDU) und Hubert Hüppe schicken zwei Initiatoren dieses Antrags seit Jahren Grußworte an den Marsch.

Wie so oft bedienten sich die AbtreibungsgegnerInnen auch in diesem Jahr wieder eines aktuellen Themas, um ihr Anliegen populär zu machen. Diesmal war es die Willkommenskultur für Geflüchtete: So hieß es auf vielen Schildern „Babys welcome“ oder „Willkommenskultur für Ungeborene“. Eine „echte und glaubwürdige Willkommenskultur“ forderte auch Lohmann in seiner Rede, sie müsse „Flüchtlinge, Alte und Nichtgeborene“ einbeziehen.3 Der sehr unterschiedliche Applaus für die drei genannten Gruppen - Flüchtlinge keiner, Alte spärlich, „Nichtgeborene“ rauschend - verdeutlichte, dass es vor allem das Wohlergehen von Föten ist, das „Lebensschützern“ am Herzen liegt.

Zwei Bündnisse

Gegen den Marsch hatten zwei Bündnisse zum Protest aufgerufen: Das linksradikale what the fuck und das linksliberale Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.4 Das what the fuck Bündnis hatte explizit dazu aufgerufen, den Marsch der Abtreibungsgegner zu blockieren. Es spricht sich auch gegen Pränataldiagnostik und selektive Abbrüche aus. In einem während der Demonstration immer wieder abgespielten Jingle hieß es: „Sie (die ‚Lebensschützer‘) behaupten, sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einzusetzen, für Inklusion und gegen pränatale Diagnostik. Doch reale Lebensbedingungen nach der Geburt interessieren sie überhaupt nicht.“ In einem Redebeitrag betonte die Gruppe no fundi(m)ärsche, die Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologien nicht den ReaktionärInnen überlassen zu wollen.

Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung macht sich diese Kritik nicht zueigen. In ihm sind vielmehr Gruppen vertreten, die 2011 die Einführung von PID in Deutschland ausdrücklich begrüßt haben, so etwa Pro Familia oder die Giordano Bruno Stiftung (GBS). Die GBS hat zudem im gleichen Jahr dem Bioethik-Professor Peter Singer, der die Tötung Behinderter befürwortet, ihren Ethik-Preis verliehen. In diesem Jahr hat Singer in Berlin den Peter-Singer-Preis der neu gegründeten Peter-Singer-Stiftung erhalten. Der ursprünglich als Laudator vorgesehene Vorsitzende der GBS, Michael Schmidt-Salomon, verzichtete erst im letzten Moment darauf, die Lobrede zu halten, ohne Singer allerdings grundsätzlich zu kritisieren.5

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
232
vom Oktober 2015
Seite 39

Kirsten Achtelik arbeitet als freie Autorin und Journalistin zu behinderten- und geschlechterpolitischen Themen.

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