Rezension: Vergleichende empirische Bioethik

Ausgehend von der Anerkennung einer kulturellen Einbettung der Bioethik sowie der Unzulänglichkeit eines reinen ExpertInnendiskurses stellen die Bioethikerin Silke Schicktanz (Göttingen) und der Soziologe Aviad Raz (Beer Sheva, Israel) ihren spannenden Ansatz einer vergleichenden empirischen Bioethik vor. Dieser soll Perspektiven von Laien und Betroffenen in den bioethischen Diskurs einbringen und kulturelle Einflüsse sichtbar machen. Hierzu wurde mittels Interviews und Fokusgruppen Menschen mit verschiedenen Perspektiven (deutsch/israelisch, religiös/säkular und betroffen/nicht-betroffen) in Israel und Deutschland einbezogen. An Hand vorgegebener Fälle diskutierten sie über Auffassungen zu „Verantwortung“ und „Risiko“ im Kontext der Planung des eigenen Lebens und Sterbens. Als Beispiele dienten genetische Tests auf Anlageträgerschaft beziehungsweise Prädisposition zu spätmanifestierenden Krankheiten (Chorea Huntington und Darmkrebs) sowie Entscheidungen am Lebensende. Israel und Deutschland wurden unter anderem deshalb gewählt, weil sie sich in regulatorischer Sicht auf manchen Gebieten der Biomedizin deutlich unterscheiden. So ist am Beginn des Lebens die Rechtslage in Israel permissiver, am Ende des Lebens hingegen in Deutschland. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur beschreibenden (deskriptiven) Bioethik. Die normative Debatte um die ethischen Fragen im Kontext der gewählten Themen kann und will es aber nicht ersetzen. Auch für das zentrale Anliegen der Einbeziehung der Perspektive Betroffener kann die Studie nur ein Anfang sein, denn so interessant diese im Buch aufgearbeitet wird, so schwierig bleibt die Auswahl derer, die als„Betroffene“ zu allgemeinen biopolitischen Themen befragt werden (in der Studie neben PatientInnen auch Angehörige, potenzielle PatientInnen und Pflegende). Hier wären weitere Befragungen auf breiter Basis wünschenswert.

Lilian Marx-Stölting

➤ Aviad E. Raz, Silke Schicktanz: Comparative Empirical Bioethics. Dilemmas of Genetic Testing and Euthanasia in Israel and Germany, Springer (2016), 130 Seiten, 53,49 Euro, ISBN 978-3-319-32731-0.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
237
vom September 2016
Seite 44

Lilian Marx-Stölting ist Mitarbeiterin der IAG Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeberin des Buches „Organoide. Ihre Bedeutung für Forschung, Medizin und Gesellschaft“.

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht