Feministisches Positionspapier: Weder sogenannter Lebensschutz noch neoliberaler Feminismus

Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, von dem das GeN Teil ist, hat auf seiner Jahrestagung im Sommer ein Positionspapier beschlossen, in dem es sich eindeutig und unmißverständlich von fundamentalistischen AbtreibungsgegnerInnen und "Lebensschützern" abgrenzt.

Feministisches Positionspapier des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik
Weder sogenannter Lebensschutz noch neoliberaler Feminismus (Juni 2017)

Im Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik engagieren sich Menschen beruflich, privat und politisch gegen die fortschreitende Suche nach unerwünschten Merkmalen des Fötus vor und in der Schwangerschaft. Sie mischen sich seit mehr als 20 Jahren in die frauen-, behinderten- und gesundheitspolitische Debatte ein.
Eine Qualität der Arbeit im Netzwerk war und ist ein feministischer Blick auf das vorgeburtliche Suchen und Testen und die kritische Frage nach Auswirkungen für behinderte/beeinträchtige Menschen und deren Familien, ohne dabei die Selbstbestimmung von Frauen über ihre Schwangerschaft grundsätzlich in Frage zu stellen.

Aktuell wird die Debatte zur Normalisierung selektiver Verfahren vielfach von Gruppierungen dominiert, die entweder „pro life“ oder „pro choice“ im Munde führen. Diese Begriffe aus der amerikanischen Diskussion entsprechen im Deutschen etwa dem Gegensatz von „Lebensschutz“ und „Selbstbestimmung“. Eine feministische Stimme, die diese beiden Kampfbegriffe genauer definiert und eine frauen- und behindertenpolitisch reflektierte Posi-tion jenseits dieser Pole ermöglicht, ist uns wichtig.


Die behindertenfeindliche Logik der Pränataldiagnostik
Verfahren der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik stehen exemplarisch für ein defizit-orientiertes Verständnis, das Behinderung mit Leid und Belastung gleichsetzt. In der medizinischen Praxis wird mit unterschiedlichen Methoden gezielt, umfassend und mit großem Aufwand nach möglichen Behinderungen gesucht. In der Konsequenz sollen oder können Paare bzw. Frauen entscheiden, ob ein behindertes Kind auf die Welt kommen soll oder nicht. Auf einer gesellschaftlich sehr tief greifenden Ebene werden so Menschen diskriminiert, die mit einer Behinderung leben, nach der auf diese Weise gesucht wird. Ihre indivi-duelle Beschaffenheit wird auf der Grundlage gesellschaftlicher Lebenswerturteile als problematisch bewertet, ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt. Die Annahme eines behinderten Kindes ist zu einer begründungsbedürftigen Entscheidung geworden. Menschen mit Behinderung müssen mit der Vorstellung leben, dass ihre Existenz keine Selbstverständlichkeit ist.
Durch die Inanspruchnahme der Untersuchungen und Tests findet eine Auswahl statt, welcher Fötus zu einem Baby werden soll, welche (Wunsch)Schwangerschaft ausgetragen wird und welche nicht. Der Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer pränatalen Diagnose wird mit der Unzumutbarkeit für die Frau begründet. Wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, in der das Leben mit einer Behinderung nicht als Zumutung, sondern als selbstverständlich empfunden wird. Die angenommene Andersartigkeit macht behinderte Menschen zur Projektionsfläche für Ängste vor Schmerzen, Abhängigkeit, Immobilität und Verlust von Kontrolle. Behinderung fungiert so als Chiffre für ein Unglück, das potenziellen Eltern möglichst erspart bleiben sollte.
Wir kritisieren nicht nur Ableismus und Behindertenfeindlichkeit sondern Leistungs- und Gesundheitsnormen, die unsere neoliberale Gegenwart bestimmen.


Lebensschutz? So nicht!
Die Mobilisierung radikaler AbtreibungsgegnerInnen nimmt europaweit zu. Der zentrale deutsche „Marsch für das Leben“ in Berlin verzeichnet einen Anstieg der TeilnehmerInnen von ca. 600 Leuten im Jahr 2008 auf ca. 5.000 im Jahr 2016. Sie bedienen sich zwar im Vergleich zu früher einer abgemilderten Rhetorik. Es ist nicht mehr vom „Mord an ungeborenen Kindern“ die Rede. Mit dem letztjährigen Motto „Kein Kind ist unzumutbar“ bezog sich der Bundesverband Lebensrecht (BVL) 2016 auf die Problematik pränataler Diagnostik. Europaweit bemühen sich die „Lebensschützer“ darüber hinaus um die Besetzung weiterer biopolitischer und behindertenpolitischer Themen wie Embryonenforschung, Sterbehilfe und Eizellenspende, kurz um alles, was sich für sie unter das Motto „für das Leben“ fassen lässt. Sie positionieren sich dabei in allen ethischen Debatten als die vermeintlich einzig konsequenten KritikerInnen an menschenfeindlichen Techniken und versuchen sich - teilweise durchaus erfolgreich - als Verbündete der Behindertenbewegung darzustellen. Dabei schrecken sie auch nicht davor zurück, Behinderte für eine Verschärfung des § 218 zu funktionalisieren.
Unsere Kritik an den Positionen der „Lebensschützer“ bezieht sich vor allem auf die undifferenzierte Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen und die damit einhergehende einseitige und individualethisch verengte Schuldzuweisung an Frauen, die von einem Schwangerschaftskonflikt betroffenen sind. Eine schwangere Frau sollte nicht gezwungen werden, eine Schwangerschaft auszutragen, wenn sie das aufgrund ihrer Lebensumstände oder angesichts unzureichender gesellschaftlicher Unterstützung nicht kann oder will. Das Abbrechen einer Schwangerschaft sollte keine Straftat sein, sondern sollte zivilgesetzlich geregelt werden.
Wir kritisieren an der Praxis der pränatalen Diagnostik nicht in erster Linie einen möglichen Schwangerschaftsabbruch, sondern bereits grundsätzlich die Suche nach Abweichungen und die dahinterstehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Während die „Lebensschützer“ Pränataldiagnostik meist als direkte Diskriminierung des „ungeborenen Kindes“ bezeichnen, verstehen wir im Netzwerk im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention selektive Untersuchungen als „schädliche gesellschaftliche Praktiken“, die Menschen mit Behinderungen mit Lebenswerturteilen überziehen und die bedingungslose Annahme von Menschen, die in diese Welt geboren werden, in Frage stellen.


Selbstbestimmung? Ja, aber immer im Kontext!
Die Bewegung für das Leben - „pro life“ - entstand in den 1970er Jahren in den USA. Diesem Slogan stand der Slogan „pro choice“ - für das Selbstbestimmungsrecht der Frau - gegenüber. Auch heute gibt es eine feministische „pro choice“-Fraktion, die öffentlich gegen die „Lebensschützer“ auftritt. Einige „pro choice“-Feministinnen fordern mit der Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs auch die uneingeschränkte und kostenlose Verfügbarkeit von selektiver Pränataldiagnostik und neueren Fortpflanzungstechniken und sehen in der Stärkung der Entscheidungskraft der Frauen eine hinreichende Abwehr von Fremdbestimmung.
Der von ihnen vertretene Selbstbestimmungsbegriff hat die innerfeministische und behindertenpolitische Kritik nicht aufgenommen. Eine nur an individuellen Wünschen orientierte Selbstbestimmung in der Schwangerschaft reduziert sich auf die individuelle Wahlfreiheit auf dem Markt der pränataldiagnostischen Angebote, folgt einer Logik der Machbarkeit und erhält und verfestigt die herrschenden Machtverhältnisse. Das auch von vielen Feministinnen angestrebte Selbstbild als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt, das selbstdiszipliniert, „frei“ und gesellschaftlich funktionstüchtig ist, lässt Verletzlichkeit, Schwäche und Kontrollverlust als bedrohlich erscheinen. Es ist zudem nicht zufällig, sondern durchaus gewollt, dass dieses vorgestellte autonome Subjekt in eine Gesellschaft passt, in der es zunehmend wichtig ist, sich selbst als möglichst anpassungsfähig und funktionsfähig zu Markte zu tragen.
Für das Netzwerk ist eine Bezugnahme auf den Selbstbestimmungsbegriff immer mit einer gesellschaftlichen Kontextualisierung der jeweiligen Entscheidungsumstände verbunden. Kriterium für Selbstbestimmung ist die Frage, welche sozialen und realen Handlungsmöglichkeiten Frauen haben, um Handlungs- und Problemlösungskompetenzen zu entwickeln. Ein solcher Selbstbestimmungsbegriff berücksichtigt alle Frauen, auch Frauen mit Behinderungen und Mütter von behinderten Kindern.

14. September 2017

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