Fragwürdige Forschungsethik
Kontroverse um britische Autismus-Studie
Die Spectrum 10K Studie sollte die größte Datenbank der britischen Autismusforschung werden, mit DNA und Gesundheitsdaten von 10.000 Personen – doch es hagelte Kritik. Bereits kurz nach ihrem Launch wurde die Studie aufgrund des öffentlichen Drucks pausiert. Wir haben mit dem britischen Journalisten Liam O’Dell über die Studie gesprochen.

Interview mit dem britischen Journalisten Liam O’Dell. Foto: © privat
Vor allem autistische Menschen selbst hatten große Bedenken hinsichtlich der Forschungsziele und der Nutzung der Daten. Sie haben sehr viele Hintergrundinformationen zur Spectrum 10K Studie recherchiert – was hat Ihr Interesse am Thema geweckt?
Die Kontroverse um Spectrum 10K tauchte im August und September 2021 auf. Ich hatte das Gefühl, dass hinter der Studie mehr steckte als das, was die Forscher*innen öffentlich sagten und wollte mehr herausfinden.
Was ist das für eine Studie und was waren die angegebenen Forschungsziele?
Die Spectrum 10K Studie wurde im August 2021 gestartet und hatte zum Ziel, die DNA von 10.000 autistischen Personen zu sammeln, um „die genetischen und Umweltfaktoren zu verstehen“, die zum Wohlbefinden einer autistischen Person beitragen. Die Studie wird vom Autism Research Centre der Universität Cambridge geleitet, in Zusammenarbeit mit dem Wellcome Sanger Institute und der University of California Los Angeles.
Spectrum 10K hat sehr viel Kritik bekommen, besonders aus autistischen Communities. Ein großes Bedenken galt der fragwürdigen Forschungsethik. Was genau war das Problem?
Bei der Entwicklung und dem Launch von Spectrum 10K gab es so viele Punkte, an denen das Studienteam schreckliche Fehler gemacht hat. So haben sie es versäumt, Autist*innen in das Design der Studie einzubeziehen, also bereits bevor die Studie gestoppt und eine Konsultation angeordnet wurde. Und in zwei E-Mails, die ich im Rahmen der Informationsfreiheitsgesetze erhalten konnte, hatte das Studienteam diejenigen, die das Projekt in den sozialen Medien kritisierten, als „Trolle“ bezeichnet.
Die größten ethischen Bedenken im Zusammenhang mit Spectrum 10K betreffen jedoch die Befürchtung, dass die Studie auf „Eugenik“ hinausläuft – etwas, das die Forscher*innen nach eigenen Angaben ablehnen. Da es um DNA und Genetik geht, äußerten autistische Menschen die Befürchtung, dass die Sammlung solch sensibler Daten die biologischen „Ursachen“ von Autismus aufdecken und somit zur Entwicklung eines pränatalen Tests für Autismus führen könnte – das Studienteam hatte wiederholt betont, das nicht beabsichtigt zu haben. An anderer Stelle konnte ich aber eine E-Mail einsehen, in der die Forscher*innen erklären, dass sie mit Spectrum 10K die „Ursachen von Autismus“ finden wollen.
Darüber hinaus enthüllte eine nicht geschwärzte Version des Antrags des Studienteams an den Wellcome Trust, die der Autismusforscher Panda Mery erhalten hatte, dass die Wissenschaftler*innen die Studie als Suche nach den „biologischen Korrelaten“ von Autismus beschrieben hatten – nämlich „welche Gewebe, Gensätze, Zelltypen und Entwicklungsperioden“ indikativ sind für ein „genetisches Risiko“ der Behinderung.
Beides steht im Widerspruch zu öffentlich erklärten Zielen der Studie, das Wohlergehen autistischer Menschen verbessern zu wollen – obwohl die Beteiligten diese Diskrepanz zwischen öffentlicher und interner Kommunikation über die Studienziele immer bestritten haben.
Für wie realistisch halten Sie die Sorge, die Daten aus der Studie könnten zur Entwicklung vorgeburtlicher Tests genutzt werden?
Ich bin zwar Journalist und kein Genetiker, aber der Autismusforscher Heini Natri sagte im März auf Twitter/X, dass Spectrum 10K versuche, polygene Scores zu entwickeln, um die Wahrscheinlichkeit von Autismus zu messen, was in der Vergangenheit für die Embryonenselektion verwendet wurde. Ich denke, dass die Möglichkeit, dass die Daten jeder Forschungsstudie dieser Art für pränatale Tests oder andere kontroverse „Interventionen“ verwendet werden, immer ein Problem darstellen wird. Dies hat der an der Studie beteiligte Professor Baron-Cohen selbst eingeräumt, als er im April 2019 gegenüber Spectrum News [Nachrichtenplattform rund um Autismus; Anmerkung der Redaktion], erklärte: „Wir können nicht ausschließen, dass ein*e zukünftige*r Politiker*in oder ein*e Wissenschaftler*in die [genetische] Forschung für eugenische Zwecke nutzen wird“.
Einige an der Studie beteiligte Forscher haben in der Vergangenheit eine problematische Haltung gegenüber Autismus gezeigt, darunter Daniel Geschwind, der an einem von Cure Autism Now finanzierten Projekt beteiligt war, und Simon Baron-Cohen, der für die Aufrechterhaltung von Stereotypen kritisiert wurde, die besonders für autistische Frauen und geschlechtliche Minderheiten schädlich sind. Können Sie das näher erläutern? Wie könnte sich dies auf die Studie auswirken?
Beispielsweise wird Daniel Geschwind von der UCLA die Leitung der Entwicklung des Autism Genetic Resource Exchange von Cure Autism Now zugeschrieben, das inzwischen zu der nicht unumstrittenen Wohltätigkeitsorganisation Autism Speaks gehört, die sich zuvor für eine Heilung von Autismus eingesetzt hatte.
Was Professor Sir Simon Baron-Cohen anbelangt: er hat in seinen früheren Forschungsarbeiten behauptet, dass es Autist*innen an einer „Theory of Mind“ (d.h. an der Fähigkeit, auf den Geisteszustand anderer zu schließen) fehle und dass Autismus ein „Extrem“ des männlichen Gehirns sei. Das hat in den Augen vieler Autist*innen nicht gerade dazu beigetragen, das Missverständnis auszuräumen, Autismus sei eine Behinderung, die nur Männer betreffe. Die Theorie des „extremen männlichen Gehirns“ hatte auch das Problem, dass ihr ein binäres Verständnis von Geschlecht zugrunde lag, das die gelebte Erfahrung nicht-binärer Menschen nicht anerkannte.
In Anbetracht ihrer früheren Arbeit bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich der von Dr. Geschwind und Professor Baron-Cohen eingenommenen Haltung zur Autismusforschung und der Frage, ob dies in ihre Arbeit an Spectrum 10K einfließen könnte.
Datensicherheit ist ein weiteres Problem bei Spectrum 10k. Welche Mängel gibt es in Bezug auf den Datenschutz?
In der Erklärung von Boycott Spectrum 10K, in der sie ihre Bedenken im Zusammenhang mit der Studie darlegen, beziehen sich die Kritikpunkte am Umgang mit Daten auf Themen wie mangelnde Klarheit über die Datennutzung und die Anforderung, dass die Teilnehmer*innen zustimmen, dass ihre anonymisierten Daten und ihre DNA „in zukünftigen Studien verwendet, mit akademischen Mitarbeitenden geteilt und in externe Forschungsdatenbanken für die zukünftige Verwendung aufgenommen werden“.
Bei den Webinaren im Mai während der abschließenden Konsultationsphase erwähnte das Spectrum 10K-Studienteam, dass es über eine Änderung des Widerrufsverfahrens diskutieren wolle, um die drei Widerrufsoptionen zu einer einzigen Option zusammenzufassen, nämlich die Daten aus der Nutzung zu nehmen und für Archivierungszwecke zehn Jahre lang aufzubewahren.
Es gab viele Aktionen, die darauf abzielten, die Studie zu stoppen, darunter die sehr sichtbare Kampagne #BoycottSpectrum10k. Wie haben sich die Menschen organisiert und was machte die Proteste so erfolgreich?
Die Kampagne „Boycott Spectrum 10K“ war eines der wichtigsten Mittel, mit denen die Autismus-Community ihre Besorgnis über die Studie zum Ausdruck brachte. Sie veranstaltete einen Online-Runden Tisch zu dem Projekt, gleichzeitig organisierten Autist*innen und Verbündete im November 2021 einen Protest an der Universität Cambridge.
Ich denke, dass der Erfolg dieser beiden Aktivitäten, neben zusätzlichem Druck im Internet, auf den Austausch von Ressourcen und Informationen zurückzuführen ist, auf die außergewöhnliche Wissensbasis, die die autistische Community darstellt – wo viele von uns Autismus als eines unserer Spezialinteressen angeben.
Die Studie wurde nach einer Welle von Kritik kurz nach ihrem Start unterbrochen und einer zweiten Ethikprüfung sowie einem längeren Konsultationsprozess unterzogen. Wie beurteilen Sie diesen Prozess und das Ergebnis?
Das endgültige Ergebnis der Konsultation steht noch aus, aber ich war beunruhigt, als die Forscher*innen in den Konsultations-Webinaren im Mai erwähnten, dass sie eine Wiederaufnahme der Studie zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahr anstrebten. Das empfand ich als unglaublich nachteilig für das Ergebnis der Konsultationsumfrage, bei der die Mehrheit der Befragten die Einstellung des Projekts gefordert hatte.
Wenn man Autist*innen einlädt, ihre Gedanken zu einer Studie mitzuteilen, muss man letztlich alle Meinungen zu diesem Thema zulassen und erst dann eine endgültige Entscheidung treffen, wenn ein breites Spektrum an Perspektiven vorliegt.
Spectrum 10K betonte, dass sie dem Ergebnis der Konsultation nicht vorgreifen wollten, indem sie ihre Absicht mitteilten, die Studie während des Befragungszeitraums wieder aufzunehmen. Aber die Meinung einiger Personen zur Einstellung der Studie während eines Prozesses zu ignorieren, bei dem man alle Meinungen zu dem Projekt einholen sollte, ist absolut unsinnig und macht den gesamten Konsultationsprozess zu einer Farce. Ich denke, dass die Community ihren Widerstand gegen die Studie erneuern wird, wenn sie – unvermeidlich – wieder aufgenommen wird.
Die meisten Mittel für die Autismusforschung werden für die sogenannte Grundlagenforschung (insbesondere Neurowissenschaften und Genetik) bereitgestellt, während Umfragen gezeigt haben, dass die Forschung in diesen Bereichen offenbar nur sehr geringe oder gar keine positiven Auswirkungen auf das Leben autistischer Menschen hat. Wie müsste ein Forschungsaufbau aussehen, um tatsächlich positive Auswirkungen zu haben?
Lustigerweise befasst sich mein demnächst erscheinendes Sachbuch mit dem Titel „Selling Out the Spectrum“ (Ausverkauf des Spektrums), das 2024 veröffentlicht wird, mit genau dieser Frage des Vertrauens in die Autismusforschung und damit, was Studien über die Behinderung untersuchen müssen, damit sie einen tatsächlichen Mehrwert für die autistische Community haben.
Ich denke, dass zunächst einmal angemerkt werden sollte, dass Spectrum 10K offen zugegeben hat, dass die Teilnahme an der Studie den betroffenen Personen keinen Nutzen bringt. Zweitens denke ich, dass ein wesentlicher Teil der Antwort in einer sinnvollen Konsultation mit autistischen Menschen von Anfang an liegt – etwas, das Spectrum 10K nicht getan hat.
Wenn diese Art des Engagements stattfindet, erhält man nicht nur ein wirklich gutes Verständnis dafür, was autistische Menschen für wertvoll halten, und es ist wahrscheinlicher, dass die Forschung diese Kriterien erfüllt, sondern die Arbeit selbst wird detaillierter, authentischer, forensischer und vielfältiger.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Jonte Lindemann.
Liam O’Dell ist preisgekrönter behinderter Journalist und Campaigner aus Großbritannien, spezialisiert auf Nachrichten rund um Taubheit, Behinderung, soziale Medien, Politik und Popkultur. Er schreibt regelmäßig für indy100 und auf seiner eigenen Website, liamodell.com.
Autismus
Autismus kommt laut aktueller Studienlage bei bis zu einem Prozent der Bevölkerung vor. Diese Zahl ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen – u.a., weil mehr Menschen Zugang zur Diagnostik erhalten haben. Bestimmte Gruppen sind aber unterdiagnostiziert, dazu zählen Frauen und geschlechtliche Minderheiten. Das hat mit älteren Ideen auf dem Gebiet der Autismusforschung zu tun, wie z.B. der „extreme male brain theory“, aber auch mit klischeebeladenen popkulturellen Darstellungen von Autismus wie etwa im Film „Rainman“. Dass sich Autismus bei Mädchen sozialisationsbedingt häufig anders äußert, wurde lange von der Forschung vernachlässigt. Auch Schwarze Menschen und People of Colour erhalten deutlich seltener eine Autismusdiagnose.
Mit der Verbreitung Sozialer Medien ist die Sichtbarkeit autistischer Selbstvertretungen gestiegen und damit auch die Kritik an der öffentlichen Wahrnehmung von Autismus sowie therapeutischen Interventionen. So wird etwa die ABA-Methode (Applied Behaviour Analaysis) von vielen inzwischen erwachsenen autistischen Menschen als schädlich beschrieben, sie sei zu sehr auf ein Funktionieren nach neurotypischen Standards ausgelegt und überschreite dabei regelmäßig die Grenzen der Kinder. Auch an der bisherigen Autismusforschung wird Kritik geübt. Unter anderem wird bemängelt, dass autistische Menschen nicht oder nicht ausreichend in die Entwicklung von Forschungsdesigns einbezogen werden. Eine britische Studie zeigt zudem, dass es eine große Diskrepanz zwischen dem Fokus der aktuellen Forschung und den von autistischen Menschen als nützlich empfundenen Forschungsfragen gibt. Während ein Großteil der Fördergelder in sogenannte Basisforschung in Neurologie und Genetik fließen, wünscht sich die Mehrheit der Befragten mehr Forschung zu Unterstützungsmöglichkeiten – also Forschung, die einen direkten praktischen Nutzen für das Alltagsleben autistischer Menschen hätte. Die Suche nach den genetischen „Ursachen“ von Autismus wird von vielen kritisch gesehen. Sie befürchten, dass Autismus mit der Entwicklung pränataler Tests als vermeidbar angesehen werden könnte. Tatsächlich gibt es bereits Tests, die die Wahrscheinlichkeit von Autismus berechnen – diese gelten aber als ungenau. Unbegründet ist die Sorge vor selektiven Schwangerschaftsabbrüchen nicht – in einer Befragung von Müttern autistischer Kinder in Taiwan gaben mehr als 53 Prozent an, sie würden eine Schwangerschaft nach einem positiven Testergebnis abbrechen.