EU-Saat: Ein- oder Vielfalt?

Biodiversität wird nicht durch das Saatgutrecht geschützt

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem Verfahren, in dem es um das Recht auf Vermarktung von Saatgut für alte Gemüse- und Blumensorten ging, gegen die französische Saatgut-Initiative Kokopelli entschieden.

In einem Punkt sind sich alle einig: Das Saatgutrecht der Europäischen Union ist kompliziert. Die meisten Insider würden vermutlich auch noch diesem Satz zustimmen: Das Saatgutrecht der europäischen Union ist zu kompliziert. Danach hört aber jegliche Einigkeit auf. Das konnte unlängst wieder beobachtet werden, als der Europäische Gerichtshof sein Urteil in dem Fall „Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS“ verkündete. Das Besondere in dieser Sache: Auch die sonst oft mit einer Stimme sprechenden kritischen Landwirtschafts- und Umweltverbände waren sich in der Bewertung des Urteils deutlich uneinig. Unklar blieb aber für einen Großteil der Öffentlichkeit, warum dem so war.

Der Fall Kokopelli

Kokopelli ist ein französischer Verein, der alte und bewährte Gemüse- und Blumensorten hegt und pflegt und das Saatgut dieser Sorten verkauft beziehungsweise an seine Mitglieder abgibt. Die Sorten verfügen im Regelfall nicht über eine Zulassung als Sorte im Sinne des europäischen Saatgutrechtes. Kokopelli war im Jahre 2005 in Frankreich von dem Saatgut-Unternehmen Graines Baumaux wegen des Verkaufs nicht zugelassener Sorten und unlauteren Wettbewerbs auf die Zahlung von Schadensersatz verklagt und im Januar 2008 auch verurteilt worden. Das zuständige französische Berufungsgericht, der Cour d’appel in Nancy, fragte den Gerichtshof konkret nach der Gültigkeit der Richtlinie über den Verkehr mit Gemüsesaatgut (Richtlinie 2002/55/EG) und der Richtlinie mit Ausnahmeregelungen für „Erhaltungssorten“ und „für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteter Sorten“ (Richtlinie 2009/145/EG). Die Fragen zielten auf die Klärung des Verhältnisses der Saatgutgesetzgebung der EU zu verschiedenen Grundrechten, zum Beispiel der freien wirtschaftlichen Betätigung, der Verhältnismäßigkeit oder der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung. Die Richterinnen und Richter des EuGH haben sich nun klar auf die Seite der Saatgutindustrie geschlagen. Das derzeit gültige Saatgutrecht der Europäischen Union sei angemessen - es ist somit weiter gültig. Das französische Gericht muss dieses Urteil nun auf den konkreten Fall „Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS“ anwenden und festlegen, ob Kokopelli - zum Beispiel - tatsächlich die Schadensersatzzahlung an Graines Baumaux leisten muss, wie es in der ersten Instanz entschieden worden war. Auch die Frage der rechtmäßigen Weitergabe von Saatgut, das nicht über die notwendige EU-Zulassung verfügt, wird dort entschieden.

Diversität oder Produktivität?

Eng verwoben mit diesem Fall ist die Frage nach dem vorrangigen Ziel des europäischen Saatgutrechts. In den vergangenen Jahrzehnten stand die Produktivität der Sorten ganz oben auf der Prioritätenliste. Demgegenüber ist in den letzten Jahren immer klarer geworden, dass der Verlust der Diversität von landwirtschaftlichen und gärtnerischen Tierrassen und Pflanzensorten Anlass zu massiver Sorge bietet. Nicht zuletzt auch internationale Abkommen versuchen sich an Lösungen für dieses Problem. Deshalb ist es nach Ansicht vieler Initiativen an der Zeit, die Saatgut-Regulierung zu überarbeiten und den Schutz der Biodiversität zu stärken beziehungsweise in den Vordergrund zu stellen. Nun hat sich der Europäische Gerichthof jedoch eindeutig zu dem traditionellen Ziel der Produktivität bekannt. Kokopelli selbst kritisiert das Urteil des EuGH entsprechend scharf: „Nach einer erstaunlich oberflächlichen Analyse des Falls und einer Entscheidung, die eher einer Pressemeldung als einem Gerichtsurteil ähnelt, rechtfertigt der Gerichtshof das Handelsverbot alter Saatgutsorten mit dem als höher beurteilten Ziel ‚der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität‘. (...) Dieses Paradigma [des Produktivismus], das der [Saatgut-]Gesetzgebung in den 1960er Jahren vorstand, hat also auch im Jahr 2012 seinen Platz behauptet. Die Biodiversität kann demzufolge gebührend auf dem Altar des Produktivismus geopfert werden.“ Aus der Sicht der Initiative hatte insbesondere das Votum der Generalanwältin des EuGH, Juliane Kokott, die Hoffnung genährt, das Gericht könnte der Ansicht der Erhaltungsinitiativen folgen und die Regeln für die Vermarktung von Saatgut deutlich öffnen (siehe dazu auch „EuGH: Kokopelli mit guten Chancen“ im GID 210, Februar 2012, Seite 26). Kokott hatte bezüglich der Ziele der Saatgut-Regulierung neben der Versorgung der Landwirtschaft mit ertragreichem und zuverlässigem Saatgut auch den Schutz der Agrobiodiversität betont. Sie hält die Regulierung in ihrer aktuellen Form für nicht verhältnismäßig. Auch die Kampagne für Saatgut-Souveränität beklagt die jetzt erfolgte Bestätigung der geltenden Regulierungen durch den Europäischen Gerichtshof, „die in der Praxis Bäuer_innen und Erhalter_innen unnötige Beschränkungen auferlegen und so die Erosion der Biodiversität“ beförderten.

Widersprüchliche Bewertung

Insgesamt entstand in der Folge des Urteils in den Medien ein verwirrendes Bild, da die Kommentare insbesondere der sonst einhellig kritischen Verbände sehr unterschiedlich ausfielen: Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) wertete das Urteil des EuGH zum Beispiel als Erfolg, da das Gericht „das europäische Saatgutverkehrsrecht mit dem Urteil zwar bestätigt [habe], aber eben nur deshalb, weil es seit 2009 eine Ausnahmeregelung für den Saatguthandel dieser alten Landsorten“ gebe, wie der AbL-Bundesvorsitzende Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf erklärt. Er war selbst an den Verhandlungen über die Einführung dieser Regulierung für gewisse Ausnahmen beteiligt. Graefe zu Baringdorf ist sich in diesem Zusammenhang durchaus bewusst, dass es noch Bedarf gibt, die Richtlinie auf europäischer Ebene beziehungsweise deren Umsetzung in deutsches Recht zu verbessern. Der Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt (DKN) ist da ganz anderer Meinung: Im Zentrum der Kritik des Dachverbandes steht die Auflage, dass von einer Erhaltungssorte eine amtlich vorgeschriebene Gesamtmenge nicht überschritten werden darf, „gerade so, als ob es bereits zu viele traditionelle Sorten gäbe. Dabei sind drei Viertel aller Sorten laut Weltlandwirtschaftsorganisation FAO bereits verloren“, wie Susanne Gura aus dem Vorstand kommentiert. Angenommen, in der EU werden von einem bestimmten Gemüse insgesamt 1.000 Kilogramm Saatgut verkauft, dann darf nur ein bestimmter Prozentsatz - beispielsweise zehn Prozent - der Gesamtmenge Saatgut von „Erhaltungssorten“ sein. Der EU-Gesetzgeber will damit sicherstellen, dass die Produktivität der europäischen Landwirtschaft nicht unter der Öffnung des Saatgutmarktes für mehr alte Sorten leidet. Insbesondere die Details der Auflagen bereiten Susanne Gura Sorgen, zum Beispiel die besondere Dokumentationspflicht über „jedes verkaufte Gramm“. „Für Erhalter, die Hunderte von Sorten allerdings nur in kleinen Mengen verkaufen könnten, ist das ein immenser Aufwand, der über den Verkauf nicht wieder hereinkommt“, fügt Roland Wüst von Freie Saaten, einer Initiative im Dachverband hinzu. Der Dachverband verweist in seiner Pressemitteilung zudem auf die von Kokopelli vorgeschlagene Alternative, dass Saatgut-Erzeuger Vielfaltssorten entsprechend etikettiert ohne eine staatliche Zulassung verkaufen dürfen. Dieser Vorschlag sei vom EuGH verworfen worden, „weil damit Saatgut verkauft werden könne‚das keine bestmögliche landwirtschaftliche Produktion erlaube.‘ Die ‚bestmögliche Produktion‘ sei aber nur durch homogene Sorten gewährleistet, glaubt der EuGH und folgt damit der Sichtweise der mächtigen Agrarkonzerne, die homogene Sorten und Agrochemie als Geschäftsmodell verknüpfen.“
Quellen: Urteil des EuGH in der Rechtssache C-59/11 „Association Kokopelli / Graines Baumaux SAS“ vom 12.07.12, www.curia.europa.eu. PM Kokopelli, 13.07.12. PM AbL, 12.07.12. PM Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt e.V., 18.07.12. „11 Fragen und Antworten zum EU-Saatgutrecht anlässlich des EuGH-Urteils vom 12. Juli 2012“. Kampagne für Saatgut-Souveränität, im Netz unter: www.saatgutkampagne.org. Schlussanträge der Generalanwältin des EuGH, 19.01.12, Rechtssache C-59/11 „Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS“.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
213
vom September 2012
Seite 45 - 46

Christof Potthof war bis Ende April 2020 Mitarbeiter im GeN und Redakteur des GID.

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Kommentare zum Urteil des EuGH


„Wichtiger Erfolg für Bauern und Saatgut-Vielfalt“ (AbL)
„Sieg für die Artenvielfalt und die kleinen Züchter“ (Graefe zu Baringdorf in dradio Kultur, vor dem Urteil)
„Saatgut-Vielfalt bleibt bedroht! Saatgut-Handelsverbote durch EuGh Urteil bestätigt“ (Arche Noah, Österreich)
„Gericht gibt altes Saatgut frei“ (n-tv)
„Strich durch Rechnung der Saatgut-Industrie“ (BUND)
„EuGH bestätigt Verkaufshürden für Saatgutvielfalt“ (Dachverband Kulturpflanzen und Nutztiervielfalt)
„EuGH kippt Saatgut-Monopolmissbrauch“ (telepolis)
„Biodiversität wird auf dem Altar des Produktivismus geopfert“ (Kokopelli)