„Fürsorge für die Eingeborenen“

Deutsche koloniale Bevölkerungspolitik

Heute geht es in der deutschen Entwicklungspolitik, zum Beispiel in einem Programm in Tansania darum, das Bevölkerungswachstum einzudämmen. Mit der Verbreitung moderner Verhütungsmittel soll ein Entwicklungsweg nach deutsch/europäischem Vorbild beschritten werden, der klar vorgibt, welches Sexual- und Gebärverhalten als rational gilt. Programme sexueller und reproduktiver Gesundheit gelten dabei als altruistisches Projekt für die lokale Bevölkerung. Ökonomische Interessen daran, die global vom Kapitalismus nicht benötigten Arbeitskräfte einzudämmen oder auch Kontrazeptiva zu verkaufen, geraten aus dem Blick. Bevölkerungspolitische Interventionen waren bereits vor mehr als hundert Jahren ein Thema für deutsche ExpertInnen in „Deutsch-Ostafrika“, welches das Gebiet des heutigen Tansanias umfasste. Damals ging es um die Vermehrung der Kolonialbevölkerung - und ökonomische Interessen wurden offener benannt. Aber auch eine zivilisierungs-missionarische Idee prägte die Debatten: Hier wird eine Kontinuität des Blicks auf Sexualität, Körper und Geschlechterverhältnisse der „Anderen“ bis heute deutlich. Der Regierungsarzt Hermann Feldmann brachte das Spektrum an Motivationen für bevölkerungspolitische Eingriffe folgendermaßen zum Ausdruck: „Vom ärztlich-menschlichen, vom moralisch-religiösen und vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist durchgreifende Fürsorge für die Eingeborenen erforderlich.“1
Im Kontext der brutalen Niederschlagung von Befreiungsbewegungen in „Deutsch-Ostafrika“ mit hunderttausenden von Toten Anfang des 20. Jahrhunderts gab es besonders in kolonial-reformerischen Kreisen Debatten über Bevölkerungsentwicklung und Gesundheitsverhältnisse. Kolonialadministration, Ärzte und Missionare äußerten ihre Besorgnis über einen „Bevölkerungsrückgang“ in „Deutsch-Ostafrika“ und erklärten, „daß niemals ein kräftiges Eintreten für Schutz und Förderung der Farbigen so notwendig war wie heute“.2 Offizielle Statistiken über Geburtenhäufigkeit und Kinderzahlen proklamierten eine sehr geringe Fortpflanzung. Als Gründe für eine wahrgenommene Abnahme der Bevölkerung wurden geringe Fertilität, hohe Kindersterblichkeit und das Überhandnehmen von Abtreibungen diskutiert. Dafür verantwortlich gemacht wurden auf der einen Seite das unkontrollierte Vordringen „moderner“ Wirtschafts- und Lebensweisen, auf welche die Kolonisierten nicht vorbereitet gewesen seien, und auf der anderen Seite „Sitten und Gebräuche“. Hier wurden insbesondere Geschlechterverhältnisse problematisiert und eine „niedere […] Stellung der Frauen im Volkskörper“ als Erklärung für Bevölkerungsrückgang herangezogen. Das Ziel, die Bevölkerungsgröße zu erhöhen, erwuchs vor allem daraus, dass die Menschen des besetzten Territoriums als ökonomische Ressource betrachtet wurden. Sie sollten ausgebeutet werden, mussten dafür aber auch geschützt und erhalten werden. Gekoppelt war diese Argumentation immer an das Motiv, zivilisierungs-missionarisch auf die Kolonisierten einzuwirken. So wollte man den afrikanischen Bewohnerinnen und Bewohnern eine „vernünftige“ Pflege von Müttern und Kindern nahe bringen, die gesellschaftliche „Stellung der Frau“ verbessern und Abtreibungen moralisch und strafrechtlich verdammen. Man griff selbst zu solch zeitgenössisch anmutenden Mitteln wie Flugblättern, die von der Medizinal-Verwaltung verbreitet wurden und Müttern Empfehlungen gaben, wie sie ihre Kinder versorgen, sich während der Schwangerschaft verhalten und was sie im Fall von Komplikationen während der Schwangerschaft tun sollen.3 Insgesamt wurden patriarchale und bürgerliche deutsche Geschlechternormen propagiert, denen zufolge Monogamie zu herrschen habe, Männer arbeiten lernen und Frauen ihre natürliche Rolle der Kinderaufzucht und Hausarbeit einnehmen sollten. Neben „Aufklärungsarbeit“ wurden gesetzliche und polizeiliche Eingriffe, die Errichtung biomedizinischer Gesundheitseinrichtungen, die Entsendung deutschen Gesundheitspersonals, die Ausbildung von OstafrikanerInnen zu Hebammen und KrankenpflegerInnen, schulische Bildung und Christianisierung vorgeschlagen und implementiert. Von all diesen Maßnahmen versprachen sich die Kolonisierenden wiederum, dass die Bevölkerungsgröße steigen würde.

  • 1Feldmann, Hermann (1923): Die Erhaltung und Vermehrung der Eingeborenen-Bevölkerung. In: Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde. Wissenschaftliche Beiträge zur Frage der Erhaltung und Vermehrung der Eingeborenen-Bevölkerung. Ergebnisse der Eduard-Woermann-Preisaufgabe, Hamburg: L. Friederichsen & Co, S. 83-148, hier S. 119.
  • 2Deutsche Gesellschaft für Eingebornenschutz (1914): Eingebornenschutz. Koloniale Rundschau - Monatsschrift für die Interessen unserer Schutzgebiete und ihrer Bewohner (1): S. 1-5, hier S. 3.
  • 3Zitiert in Peiper, Otto (1912): Sozial-medizinische Bilder aus Deutsch-Ostafrika. Zeitschrift für Säuglingsschutz: S. 244-59, hier S. 259.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
217
vom April 2013
Seite 20

Daniel Bendix hat 2012 an der University of Manchester promoviert mit der Dissertation „Colonial Power in Development - Tracing German Interventions in Population and Reproductive Health in Tanzania“. Er ist Mitglied von glokal e.V., einem Berliner Verein für machtkritische Jugend- und Erwachsenenbildung.

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