„Die Sicherheitsdebatte ist eine Nebelkerze“

Genome Editing am Menschen aus Sicht der Behindertenrechte

In ihren Berichten und Empfehlungen transportieren diverse Ethik- und Wissenschaftsgremien ein problematisches Bild von Behinderung als etwas grundsätzlich Vermeidenswertes. Selbst Kritiker*innen von Keimbahneingriffen schaffen es oft nicht, sich von einer behindertenfeindlichen Per­spektive zu lösen.
 

Portraitfoto von Gregor Wolbring

Interview mit Prof. Dr. Gregor Wolbring. Foto: © privat

Dr. Wolbring, Sie sind Professor für Disability Studies, was bedeutet das für Menschen, die davon noch nichts gehört haben?

Ich benutze Disability Studies, aber auch Ability Studies, als Analyserahmen in den verschiedenen Forschungsfeldern, in denen ich arbeite. Disability Studies oder Behindertenstudien sind kurzgefasst die Kritik der gesellschaftlichen Realität von Menschen, die behindert werden, weil sie nicht zu den vorherrschenden Fähigkeitsnormen passen. In den Ability Studies geht es darum, wer welche Fähigkeiten fördert und entscheiden kann, welche Fähigkeiten wichtig sind. Ableism wird oft als Kurzbezeichnung für Diskriminierung gegen Behinderte benutzt. Ich sehe Ableism als generelle gesellschaftliche Realität, in der alle Menschen anhand ihrer Fähigkeiten beurteilen werden. Die Personen und gesellschaftlichen Gruppen in Machtpositionen können dann entscheiden, welche Fähigkeiten wichtig sind und welche nicht. Dabei spielt Genetik natürlich permanent eine Rolle, da Gene oft diskursiv mit Fähigkeiten verbunden sind.

Was ist der Unterschied zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung?

Das Wort „Behinderung“ wird – genauso wie das englische Wort „disability“ – für sehr verschiedene Sachen benutzt. Zum einen um einen Körper zu beschreiben, zum anderen um zu benennen, was eine Person behindert. Wenn du den Körper betrachtest, hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst den Körper als defizitär bezeichnen oder als eine Variation innerhalb der menschlichen Vielfalt. In der Beschäftigung mit dem, was einen Menschen behindert, hast du drei Möglichkeiten: Du kannst den Körper oder die Gesellschaft oder beides als Ursache der Behinderung identifizieren. Den Körper als defizitär anzusehen und als Ursache der Behinderung, ist das traditionelle medizinische Modell – aus dieser Perspektive ergeben sich dann als Hauptlösungen Eliminierung oder Behandlung.

Du kannst als zweite Option auch sagen, mein Körper ist defizitär, aber ich werde auch sozial behindert und fordern, dass diese Behinderung aufhört. Denn nur, weil du deinen Körper als defizitär wahrnimmst, heißt das nicht, dass du keine soziale Diskriminierung erfährst. Das ist ein Zusammenschluss von dem medizinischen Modell des Körpers und dem sozialen Modell der Behinderung. Drittens hast du die Gehörlosenkultur, die Neurodiversen 1und andere, die ihren Körper nicht als defizitär sehen und dementsprechend nicht den Körper als Ursache für ihre Behinderung sehen, sondern nur die Sozialstruktur. Das ist das soziale Modell des Körpers und das soziale Modell der Behinderung. Viele Menschen benutzen das Wort Behinderung ohne es genau zu definieren, sodass unklar bleibt, was sie genau meinen.

In diesem GID-Schwerpunkt geht es ja um Keimbahneingriffe – wie würde eine Disability- oder Ability-­Studies-Perspektive auf das Thema aussehen?

Disability Studies würde untersuchen, wie der Bedarf begründet wird und fragen, warum wir uns auf das „Fixing“ stürzen. Gemäß der Disability Studies hat der Genome Editing-­Diskurs dieselben Probleme wie die Gentest-Debatte, wobei die Eingriffsweisen bei Genome Editing vielfältiger sind: auf somatischer Ebene 2, in der Keimbahn, pränatal oder nach der Geburt. Genome Editing erlaubt nicht nur die Veränderungen von Genen, die mit sogenannten Erkrankungen assoziiert sind, sondern auch von Genen, die zu somatischem und vererbbarem Enhancement über die Norm hinausgehen – also die „Verbesserung“ von Eigenschaften jenseits dessen, was typischerweise Teil der menschlichen Vielfalt ist. Als je sicherer Genome Editing angesehen wird, desto mehr werden auch Gene anvisiert, die nicht mit Krankheiten assoziiert sind – ein Ziel, das Transhumanist*innen klar vorantreiben. Man wird also Menschen, die als krank angesehen sind, zuerst behandeln und wenn dort keine großen Probleme auftauchen, dann werden auch andere Merkmale in Angriff genommen. Hier stellen die Disability Studies die Frage, was die sozialen Konsequenzen des Enhancements für nicht-behandelte Behinderte wären. Die Ability Studies fragen, wer welches Enhancement in Richtung einer neuen Fähigkeitsnorm vorantreibt und warum.

Stichwort Enhancement – in Berichten von Ethikkommissionen und wissenschaftlichen Organisationen wird immer unterschieden zwischen Erkrankung und Enhancement. Was halten Sie davon, dass da so eine klare Linie gezogen wird? 

Diese Trennung wird schon seit Langem in Frage gestellt, auch außerhalb vom Genome Editing. Wir haben 2013 eine Umfrage mit Menschen aus der Gehörlosenkultur gemacht und gefragt, ob sie lieber ein Cochlea-Implantat hätten, das ihnen ein durchschnittliches Gehör gibt, oder ein Implantat, das über das normale Gehör hinaus geht. Die meisten Befragten haben geantwortet, dass sie ein Implantat wählen würden, das ihnen ein überdurchschnittliches Gehör ermöglicht, wenn sie gezwungen sind, sich zu verändern, weil sie nicht akzeptiert werden, so wie sie sind und ihre Fähigkeitsunterschiede zu vielen gesellschaftlichen Behinderungen führen. Ich denke, die Präferenz für Enhancements trifft auf die meisten Menschen zu. So wird es auch mit dem Genome Editing sein, wenn es mal als sicher angesehen wird. Im Endeffekt wird sich der Krankheitsbegriff verändern und viele „normale“ Menschen werden als krank bezeichnet werden, wenn sie mit den Menschen mit Enhancements nicht mithalten können.

Was sind Ihre Gedanken dazu, wie Menschen mit Behinderungen momentan in der Debatte um Genome Editing dargestellt werden?

Sie werden mit dem medizinischen Modell von Körper und Behinderung dargestellt, sonst kann man Genome Editing nicht vorantreiben. Momentan werden Keimbahneingriffe in der Debatte als etwas schlechtes, aber somatische Gentherapien und andere Interventionen wie Gentests leider oft als okay, als sicher dargestellt. Von einer Perspektive der Behindertenstudien aus denke ich, dass Behinderte im Stich gelassen werden, wenn auf Ebene der Sicherheit argumentiert wird. Denn viele „sichere“ Methoden werden von vielen Behinderten als problematisch angesehen.3

Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel, bei dem es um eine umstrittene Methode geht: In Alberta (USA) wurden die Behinderten nicht wie in Deutschland vergast, aber viele wurden sterilisiert. Leilani Muir hat 1996 als Betroffene die Regierung in Alberta verklagt. In dem Prozess wurde die damalige Entscheidung mit dem Argument begründet „einige Ursachen für Lernbehinderung seien erblich und in der Zeit, als die Kommission gegründet wurde, hätte die Gefahr bestanden, diese weiterzugeben, da die Wahl für Kontrazeptiva begrenzt war. Heute hätten Leute die Pille und andere Verhütungsmittel, sie könnten sich genetisch beraten lassen und abtreiben, bevor ein behindertes Kind geboren wird“.4 Hier geht es nicht um Sicherheit, aber auch hier wird argumentiert, dass sie diese Methode hätten anwenden müssen, weil es die anderen nicht gab. In beiden Fällen steht dahinter der Gedanke, „Behinderte müssen verhindert werden“.

Also Sie würden diese Unterscheidung zwischen somatischem Genome Editing und Keimbahnveränderungen nicht machen?

Es wird argumentiert, Keimbahneingriffe hätten Konsequenzen für die Gesellschaft, die wir nicht vorhersehen können. Wenn bei der somatischen Gentherapie etwas falsch läuft, dann beträfe es nur die eine Person, wenn bei Keimbahnveränderungen etwas schief geht, dann hätte das Folgen für viel mehr Menschen. Das ist eine Sicherheitsdebatte und für mich eine Nebelkerze. Weil die Risiko-Nutzen-Abwägung total davon abhängt, wie verbreitet ein Eingriff ist – je mehr er angewendet wird, desto mehr Leute sehen ihn als sicher an und desto mehr wird er dann benutzt. Je mehr eine Anwendung als technisch unproblematisch angesehen wird, desto weiter wird man die Anwendung ausweiten. Wenn die somatischen Gentherapien durchgeführt werden, ohne dass negative Konsequenzen auftreten, werden Keimbahneingriffe folgen. 

Momentan sind somatische Gentherapien ein krasser Eingriff, wie eine Stammzelltransplantation, so dass sie nur bei ganz seltenen Fällen überhaupt in Frage kommen. Denken sie, es wird sich in die Richtung entwickeln, dass es irgendwann nur noch eine Spritze ist?

Ob somatische Interventionen Konsumgüter werden, hängt davon ab, wie erfolgreich die vorherigen Eingriffe sind, die sich auf Krankheiten begrenzen und ob es Eigenschaften außerhalb von Krankheiten gibt, die erstrebenswert und mit Genetik verknüpft sind. Ich denke bezüglich dem Enhancement von Fähigkeiten werden nicht genetische Möglichkeiten zuerst ausgeschöpft, da für wenige Enhancements klare Genziele vorhanden sind. Welche Enhancements man will, hängt wiederum von der Größe des Vorteils ab, den sie bringen. Wenn du einen besseren Job bekommst, weil du gewisse Fähigkeiten erlangst, wenn du z.B. Sensoren hast, die dir bestimmte Fähigkeiten geben, werden viele, die es sich leisten können, die Sensoren benutzen. Wir erwarten ja konstant, dass Leute ihre Fähigkeiten verändern. Beispielsweise muss man in Kanada inzwischen ein Smartphone haben und es auch bedienen können. Es wird zwingend benötigt, um Accounts von vielen Anwendungen zu verifizieren. Und viele Apps, die man braucht, gibt es nur noch auf dem Smartphone und nicht für den Computer. Wir erwarten also immer mehr und auch andere Fähigkeiten, ich nenne das Ability Expectation Creep. 

Es gibt viele Dinge, an die sich Menschen anpassen müssen, wenn sie weiter an der Gesellschaft teilhaben wollen. Das wird auch mit Enhancement passieren, wenn es als sicher und billig angesehen wird und weit genug verbreitet ist – das ist nur eine Zeitfrage. 

Es ist ja so, dass in diesen ganzen Kommissionen sehr wenige Menschen mit Behinderung sitzen. Zum Beispiel im Deutschen Ethikrat gab es eine Person mit Mukoviszidose, die mitdiskutiert hat, aber sonst waren es – zumindest nach außen – alles ablebodied Menschen. Woran liegt das?

Ich denke, dass es zum einen ein Kapazitätsproblem ist. Wir haben die alten Probleme wie Access (Zugänglichkeit) noch nicht gelöst und es tauchen dauernd neue Probleme auf. Die Leute können ja nicht Expert*innen für alles sein. Genetik, Access, Enhancement und nun künstliche Intelligenz als neuester Aspekt. Und so werden Prioritäten gesetzt, welche Themen man beeinflussen kann. Als z.B. in Nordamerika die Gesetzgebung gegen genetische Diskriminierung diskutiert wurde, waren die einzigen Betroffenenvertretungen, die teilgenommen haben, die Patient*innengruppen. Sie wollten ein Antidiskriminierungsgesetz gegen Diskriminierung z.B. durch Krankenkassen. Aber das schützt einen nicht davor, eliminiert zu werden, bevor man Symptome zeigt – das ist nicht Teil der Gesetze gegen genetische Diskriminierung, es geht nur darum, dass du nicht am Arbeitsplatz oder von Versicherungen benachteiligt wirst. Die Debatten um Gentests finden ja schon seit so vielen Jahren statt und die Behindertenrechtsargumente sind so lange ignoriert worden, dass jetzt praktisch keine Behindertenrechtsgruppe in Nordamerika mehr zu dem Thema arbeitet. 

Wie könnten die Kapazitäten von Menschen aus der Behindertenrechtsbewegung erhöht werden, um an den Debatten und Entscheidungsprozessen teilzunehmen?

Als erstes müssten die Faktoren für den Aktivist*innen-­Burnout beseitigt werden, wie sie z.B. für behinderte Klimaktivist*innen beschrieben wurden: Stressfaktoren, die die physische oder emotionale Gesundheit von Aktivist*innen verschlechtern und ihr Gefühl der Verbundenheit mit der Bewegung sowie ihre Fähigkeiten, sich weiter zu engagieren beeinträchtigen. Schlimmer noch, Burnout erzeugt Burnout: wenn die Arbeit in der Bewegung von weniger Menschen übernommen wird, fangen diese an auszubrennen, sich weniger effektiv zu engagieren und ihre Hoffnungslosigkeit an anderen Aktivist*innen auszulassen. 

Relevante Faktoren können unangemessene Erwartungen an Betroffene sein, zu viel Arbeitsbelastung, Beschäftigung mit Themen rund um die eigene Identität, Sexismus, Rassismus und andere zusätzliche Diskriminierungsformen, die Lebenssituation von Behinderten außerhalb des Aktivismus und wie Aktivist*innen in Organisationen behandelt werden.5 Ein Teil des Burnouts ist es, dass man es nicht einmal wagt, sich so zu geben, wie man ist: Autistisches Burnout wird z.B. durch den Stress des „Masking“, also das Unterdrücken von autistischen Verhaltensweisen, ausgelöst, der mit dem Leben in einer nicht inklusiven neurotypischen Welt einhergeht.

Die meisten Behinderten leben sehr prekär. Und wenn wir immer sagen „und mit Behinderten“ dann ist es eben nicht so einfach. Die Behinderten müssen ja in einer Lebenssituation sein, in der sie den Raum haben, sich mit den Themen auseinanderzusetzen und zu lernen, dass sie das System in Frage stellen können. Wie kannst du das, wenn du arm und nicht mobil bist und du keinen Job hast – das heißt, du bekommst dann ein paar privilegierte Menschen wie mich, die dann oft irgendwo auftauchen. 

Dann ist da die Hierarchie zwischen den sozialen Bewegungen, bei der die Behindertenrechtsbewegung oft ganz unten steht. Auf die Debatte zu Genome Editing bezogen – warum sollte die Behindertenrechtsbewegung sich heute gegen Keimbahneingriffe stellen, wenn Methoden wie Präimplantationsdiagnostik oder nicht-invasive Pränataltests, die von einer Behindertenrechtsposition aus gesehen auch problematisch sind, als vertretbare Alternativen dargestellt oder gar nicht thematisiert werden? Behindertenrechtsgruppen haben über die Jahre – leider mit wenig Erfolg – viele genetischen Methoden und deren Ziele hinterfragt. Warum sollten die Behindertenrechtsgruppen sich einmischen, wenn nur Keimbahneingriffe in Frage gestellt werden, wo es gleichzeitig so viele Themen gibt, die das Leben von Behinderten heute schwer machen?

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dr. Isabelle Bartram.

  • 1Das Konzept Neurodiversität betrachtet neurobiologische Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen und lehnt einen pathologischen Blick auf Eigenschaften von autistischen Menschen oder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ab.
  • 2Bei somatischem Genome Editing werden einzelne Zellen einer existierenden Person verändert und die Veränderung nicht an die nächste Generation weitergegeben.
  • 3Wolbring, G./Diep, L. (2016): The Discussions around Precision Genetic Engineering: Role of and Impact on Disabled People. In: Laws, 5, 3, www.doi.org/10.3390/laws5030037.
  • 4Thomas, D. (29.06.95): Geneticist defends sterilization in era before the pill. In: Calgary Herald.
  • 5Wolbring, G./Lillywhite, A. (2023): Burnout through the Lenses of Equity/Equality, Diversity and Inclusion and Disabled People: A Scoping Review. In: Societies, 13, www.doi.org/10.3390/soc13050131.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
268
vom Februar 2024
Seite 11 - 13

Prof. Dr. Gregor Wolbring ist seit 2008 Professor für Disability Studies an der University of Calgary. Er forscht in den Feldern Science and Technology Governance, Sustainability Studies, Disability Studies, Ability Studies, und Sport.

 

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Da es sich bei dem Thema Human Genome Editing um eine internationale Angelegenheit handelt, haben wir ausnahmsweise alle Artikel dieses Schwerpunktes auf unserer Webseite als englischsprachiges Dossier zusammengestellt. Verbreiten Sie es gern weiter an potenziell Interessierte.

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