Corona, Biopolitik und Rassismus
Gesellschaftstheoretisches zum Verständnis der Pandemie
Mit Michel Foucaults Begriff der Biopolitik lassen sich die beispiellosen politischen Entscheidungen der letzten Monate als Versuch der Erhaltung einer gesunden und damit produktiven Bevölkerung lesen. Rassismus ist jedoch inhärenter Teil dieser Biopolitik.
Die Pandemie entlarvt systemimmanente Probleme. Solidarität muss über die Zeit der Pandemie hinaus bestehen. Foto: © Janina Johannsen / GeN
Seit Beginn der Coronapandemie in Europa häufen sich die gesellschaftstheoretischen Analysen und Kritiken der staatlichen Gegenmaßnahmen. Auch wenn die in Gang gesetzten politischen und gesellschaftlichen Prozesse vermutlich erst mit zeitlichem Abstand richtig begriffen werden können, scheint es uns dennoch sinnvoll, bereits jetzt Bausteine auf dem Weg zu einer adäquaten Einordnung des Geschehens zu sammeln. Eine Reihe dieser Analysen, etwa von Georgio Agamben, Alex Demirović und Philipp Sarasin, bezogen sich auf Michel Foucaults Begriff der Biopolitik. Im Folgenden stellen wir erste Ergebnisse der Diskussionen unserer Forschungsgruppe zur Einordnung des staatlichen Handelns in der Pandemie und insbesondere zu Fragen des biopolitischen Rassismus dar, den Foucault als „Zäsur zwischen dem was leben und dem was sterben muss“ definierte.1
Die eigene Bevölkerung im Fokus
Weltweit können wir verschiedene Variationen dessen beobachten, was der französische Theoretiker 1976 als „Biopolitik der Bevölkerung“ charakterisierte. Seine breit aufgegriffene Analyse beschrieb eine seit dem Ende des 18. Jahrhundert auftauchende Form staatlicher Politik, die sich auf neu entstandenes Wissen zu biologischen und sozialen Prozessen sowie deren statistischen Erfassung stützte. In Ergänzung und Kontrast zur bisherigen Souveränitätsmacht, die sich u. a. durch das Recht, seine Untertanen zu töten, auszeichnete und mehr auf individuelle Körper bezog, war nun das Leben der Bevölkerung als Ganzes Gegenstand staatlicher Regulierung, das es zu schützen und mehren galt. Auf Grundlage erfasster Geburten- oder Sterberaten bspw. wurde eine Gesundheitspolitik entwickelt, die, über den Körper einzelner Kranker hinaus, auf globale Masseneffekte und Wahrscheinlichkeiten fokussiert, mit dem Zweck einen Gleichgewichtszustand gesunder und damit produktiv zu machender Bevölkerung herzustellen. Statt dem „sterben machen“ der Souveränitätsmacht verspricht Biopolitik „leben machen“ und verdrängt das „sterben lassen“ aus dem Blickfeld.
Die Coronapandemie bringt diese Politikform paradigmatisch zum Vorschein: Entgegen einer ansonsten omnipräsenten Rhetorik der Deregulierung greift der Staat massiv und mit immensen wirtschaftlichen Folgen in ökonomische Prozesse und individuelle Freiheitsrechte ein, um seine Bevölkerung zu schützen – ohne die es keine Ökonomie gäbe. Im pandemischen Ausnahmezustand wird deutlich, dass der Kapitalismus auf staatliche Institutionen angewiesen ist; wir lernen, dass es nationale Pandemiepläne gibt, dass ein Robert-Koch-Institut die Maßgaben für ihre Durchsetzung erstellen kann, wir lauschen Chefvirolog*innen und Epidemiolog*innen und halten uns an ihre Empfehlungen.
Wer verwundert ist über die neue Humanität, die in diesem Primat der Gesundheit vor bisherigen „Sachzwängen“ zum Ausdruck zu kommen scheint, wo doch andererseits täglich Menschen qua Grenzregime an den europäischen Grenzen sterben gelassen werden, kann hier Folgendes lernen: Biopolitische Funktionslogik will nicht das qualvolle Sterben einiger verhindern, sondern, wie uns immer wieder gesagt wird, es ist das Gesundheitssystem, das „überlastet“ wird. Es geht also um Masseneffekte; anstelle der Erhaltung einzelner menschlicher Leben scheint das Ziel des gesundheitspolitischen Handelns der Gleichgewichtszustand des Gesundheitssystems zu sein – und zwar zugunsten der „eigenen“ Bevölkerung.
Die strikten disziplinarischen Einschränkungen des Arbeits- und Alltagslebens in Deutschland sollten zudem eine Situation verhindern, wie sie uns Medienberichte aus Italien vor Augen führten, wo aufgrund mangelnder Ressourcen per Triage entschieden werden musste, wer noch behandelt werden kann und wer nicht. Die Vorstellung, aktiv über Leben oder Tod entscheiden zu müssen, ist für Biopolitik ein Horrorszenario und eine Beleidigung, denn es widerspricht dem Versprechen „Leben zu machen“. Biopolitik tabuisiert und verbirgt den Tod soweit möglich, denn dieser zeigt doch, dass der Zugriff der Macht auf das Leben Grenzen hat.2 Auch wenn also indirekt permanent sterben gelassen wird, darf dies keinesfalls als direkte Folge politischer Entscheidung erscheinen.
Rassismus als Teil von Biopolitik
Anders verhält es sich, wenn „sterben lassen“ ideologisch als Sicherung des Lebens der Bevölkerung dargestellt werden kann – hier kommt der Rassismus ins Spiel: Ein wichtiger Punkt in Foucaults Analyse, der in Bezug auf Corona bisher wenig thematisiert wurde, ist ein Rassismus, der als inhärenter Teil der Biopolitik entsteht. Diese stützt sich nach wie vor auf den Tod – nämlich jenes Lebens, das nicht zu mehren und optimieren würdig scheint, „gemäß dem Prinzip, dass der Tod der Anderen die biologische Selbststärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist“.3
So tauchen historisch Theorien über die Rassen und deren Wertigkeiten auf, um innerhalb des biologischen Kontinuums hierarchisch ordnende Zäsuren „zwischen dem was leben und dem was sterben muss“ einzuführen. Auch wenn die von Foucault angeführten biologistischen Rassentheorien seit dem 19. Jahrhundert inzwischen vielfache Wandlungen durchlaufen haben und die Unterschiede zwischen einem offen rassenbiologisch argumentierendem und tötendem Regime wie dem Nationalsozialismus und dem heutigen Deutschland nicht zu vernachlässigen sind, zeigen sich solche Zäsuren auch aktuell angesichts von Corona.
Abgrenzung nach außen
Sie manifestieren sich einerseits als Abgrenzung nach außen: Corona-Biopolitik wurde nicht europäisch oder global organisiert, sondern offenbarte vor allem nationalstaatlichen Egoismus: Nach deutschem Beschluss vom 4. März 2020 durfte bspw. Schutzkleidung und medizinisches Material nicht mehr ausgeführt werden. Dies kulminierte in der Mundschutzraub-Groteske, als Deutschland von China nach Italien gelieferte, dringend benötigte Schutzkleidung konfiszierte und diese erst auf diplomatische Intervention hin wieder freigab. Erst als ein Überschuss an Ressourcen im Inland offensichtlich war, wurden großzügige „Spenden“ von Schutzkleidung möglich, oder die Behandlung von Patient*innen bspw. aus Italien in Deutschland. Die Globalisierung scheint passé, Grenzen wurden für den Personenverkehr ohne große Diskussionen geschlossen. Während im Ausland gestrandete Deutsche per Charterflüge sozusagen heim ins Reich geholt wurden, trifft es Geflüchtete an den Rändern Europas besonders hart: Sie dürfen zwar theoretisch weiter Asyl beantragen, de facto harren sie aber in hygienisch katastrophalen Zeltcamps aus, weil sie nirgendwo mehr einreisen können. Um diese „Anderen“ scheint man sich erst wieder kümmern zu können, wenn die Katastrophe im eigenen Land abgewendet wurde.
Es überdehnt den Rassismusbegriff, diese nationalistischen Ausgrenzungen auch dann rassistisch zu nennen, wenn nicht mal ein impliziter Bezug auf Rassialisierungen vorhanden ist. Wichtig ist aber der von Foucault beschriebene Grundmechanismus: die Ausgrenzungen und das Sichern der medizinischen Ressourcen werden mit dem Leben der „eigenen“ Bevölkerung begründet.
Dass die nationale Abschottung in unserer global vernetzten Welt nicht ohne weiteres funktioniert, zeigte sich etwa angesichts des deutschen Mangels an saisonalen Erntehelfer*innen – die dann doch per Ausnahmegenehmigung aus Osteuropa einreisen durften, um den deutschen Spargel zu retten, deren einzelne Leben allerdings nicht wichtig genug waren, um sie nicht unter desaströsen Bedingungen unterzubringen.
Hierarchisierung im Inneren
Zäsuren im Inneren für als „anders“ konstruierte Gruppen innerhalb der Länder: In den USA spüren African-Americans, in Deutschland Insass*innen von Geflüchtetenunterkünften, Saisonarbeiter*innen in Massenunterkünften, People of Color oder Menschen mit Migrationshintergrund die Folgen strukturellen Rassismus: Sie leben häufiger in engeren Wohnverhältnissen oder sind in schlecht bezahlten aber „systemrelevanten“ Berufen tätig. Dadurch sind sie dem Virus wesentlich stärker ausgesetzt, weil sie weniger Möglichkeiten zur „sozialen Distanzierung“ haben. Da die Merkmale Race4 bzw. Ethnicity im US-Gesundheitssystem systematisch erhoben werden, ist dort klar bezifferbar, dass Unterschiede sowohl in den Infektionsraten als auch in der Mortalität aufgrund von schlechterer Gesundheitsversorgung und häufigeren Vorerkrankungen eklatant sind.5 In Deutschland gibt es keine solche systematische Erhebung 6 und unterschiedliche Betroffenheiten werden eher an den Zuständen in Geflüchtetenunterkünften oder Schlachthöfen, ersichtlich, was bislang allerdings ohne große Folgen bleibt.
Interessant ist andererseits, dass als besonders gefährdet geltende Gruppen, wie bspw. Alte oder Menschen mit Vorerkrankungen, die unter historischen rassenhygienischen Regimen eher „dem, was sterben muss“, zugeschlagen wurden, geradezu den argumentativen Ausgangspunkt für die umfassenden Quarantäne-Maßnahmen gebildet haben. Unter einer strikt biopolitischen Logik scheint es kontraindiziert, gerade diejenigen zu schützen, die ökonomisch unproduktiv sind und das Gesundheitssystem besonders in Anspruch nehmen (müssen). Könnte man nicht erwarten, dass sie sterben gelassen werden? Sie unterliegen stattdessen einer anderen Form von Zäsur im biologischen Kontinuum, wie sie seit dem Aufkommen von Versicherungs- und Risikologiken im 19. Jh.7 üblich ist: der Einteilung als Risikopersonen mit spezifischen Gesundheitsempfehlungen.
Zwar wurde genau deren „sterben lassen“ von Gegner*innen der Maßnahmen, von Boris Palmer über Donald Trump bis zu den Hygienedemos, gefordert, und es mehren sich die Berichte etwa aus Spanien oder Schweden, dass es eine verdeckte Triage gab, indem Patient*innen aus Altenheimen nicht mehr in Krankenhäuser gebracht wurden. In Deutschland bleibt das sterben lassen der Alten aber bislang eine Minderheitenposition – wenn auch abzuwarten bleibt, ob die Lockerungen nicht indirekt (wieder) zu mehr Toten innerhalb der Risikogruppen führen. Insgesamt ergibt sich aber eher das Bild einer, von breiten Teilen der Bevölkerung hingenommenen Biopolitik, in der die aktive Entscheidung, wer behandelt wird und wer nicht, unbedingt vermieden werden soll.
Es wird in Alten- und Pflegeheimen deutlich mehr gegen die Verbreitung des Coronavirus getan als in Geflüchtetenunterkünften. Und auch wenn es dort katastrophale Ausbrüche gab und der Mangel an Pflegekräften in Kombination mit den Schutzmaßnahmen große Einschränkungen für die Bewohner*innen zur Folge hatte, wird zudem viel versucht, um den dort Untergebrachten soziale Kontakte und Aktivitäten weiterhin zu ermöglichen. Das ist nicht zu vergleichen mit den Berichten aus Geflüchtetenunterkünften, die oft ohne ausreichende Hygienemaßnahmen komplett unter Quarantäne gestellt wurden und in denen sich das Virus umso mehr verbreitete. Realpolitisch relativ simpel zu bewerkstelligende Maßnahmen, die viele Leben retten könnten, wie die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in leer stehenden Hotels, wurden dagegen nicht umgesetzt.
Im Vergleich der Situationen in Alten- und Pflegeheimen einerseits und in Geflüchtetenunterkünften andererseits wird deutlich: Bei der Einstufung als besonders Gefährdete werden strukturell rassistisch Benachteiligte nicht berücksichtigt – auch wenn sie mindestens ein höheres Infektionsrisiko haben.8 Zwar wird die biopolitische Zäsur nicht als aktives Töten realisiert, die deutsche Solidarität allerdings ist selektiv und unterscheidet zwischen „dem was leben und sterben muss“ durch Nicht-Tätigwerden und ‚sterben lassen‘. Die rassistische Zäsur wird gezogen zwischen denen, mit denen man sich eher noch als potentiell eigene Großeltern (und späteres Selbst) identifizieren kann, als mit denen, die nicht zur eigenen imaginierten Abstammungs- und Leistungsgemeinschaft gehören.
- 1Foucault, M. (1976): Verteidigung der Gesellschaft. In: Vorlesungen am Collège de France 1975/76 (2009). Suhrkamp.
- 2Ebd., S. 285 f.
- 3Ebd., S. 297.
- 4Der englische Begriff Race beschreibt vor allem das Produkt sozialer und kultureller rassistischer Unterscheidung und Hierarchisierung bestimmter Menschengruppen. In biomedizinischen und genetischen Studien wird jedoch auch im englischen Kontext nach biologisch begründeten Unterschieden zwischen Races gesucht.
- 5Wallis, C. (12.06.2020): Why Racism, Not Race, Is a Risk Factor for Dying of COVID-19. In: Scientific American. Online: www.kurzelinks.de/gid254-tb [letzter Zugriff: 08.07.2020].
- 6Snethlage, M. (05.05.2020): Rassismus im Gesundheitswesen. In: taz. Online: www.kurzelinks.de/gid254-tc [Letzter Aufruf: 08.07.2020].
- 7Ewald, F. (1993): Der Vorsorgestaat. Suhrkamp.
- 8Aufgrund des Alters haben Geflüchtete in Deutschland ein geringeres Mortalitätsrisiko als Alte, aber es ist zu vermuten, dass wie in den USA auch rassistisch diskriminierte Gruppen eine überdurchschnittlich hohe Covid-Mortalität aufweisen.
Andrea zur Nieden ist Soziologin und Teil der an der Universität Freiburg angesiedelten Forschungsgruppe "Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations" (SoSciBio).
Felix Fink ist Soziologe und Mitglied der Forschungsgruppe „Menschliche Diversität in den neuen Lebenswissenschaften: Soziale und wissenschaftliche Effekte biologischer Differenzierungen“ (SoSciBio) an der Universität Freiburg.
Isabel Schön ist Soziologin und Mitglied der Forschungsgruppe „Menschliche Diversität in den neuen Lebenswissenschaften: Soziale und wissenschaftliche Effekte biologischer Differenzierungen“ (SoSciBio) an der Universität Freiburg.
Dieser Text entstand im Kontext der Forschungsgruppe „Menschliche Diversität in den neuen Lebenswissenschaften: Soziale und wissenschaftliche Effekte biologischer Differenzierungen“ (SoSciBio) – vom BMBF gefördert, FKZ 01GP1790 – an der Universität Freiburg.
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