Nicht auf die Entscheidung der Pharmaindustrie warten

Arzneimittelbewertung im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

Laut Analysen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist bei einem Großteil neuer Medikamente kein Vorteil gegenüber schon etablierten Therapien nachweisbar. Was sind die Ursachen und wie kann die Entwicklung effizienter gestaltet werden?

Dr. Beate Wieseler

Interview mit Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts für Arzneimittelbewertung im IQWiG. Quelle: IQWIG

Was sind die Aufgaben des IQWiGs?

Das IQWiG ist ein unabhängiges Institut und wir bewerten den Nutzen und Schaden von Gesundheitsleistungen, z. B. von Arzneimitteln aber auch nicht-medikamentösen Interventionen wie medizinischen Tests oder Operationen. Die Gutachten die wir erstellen dienen zum einen zur Information von Patient*innen, die diese Interventionen einsetzen wollen, aber auch der Information des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dem höchsten Entscheidungsgremium im deutschen Gesundheitssystem.1

Wie kann es sein, dass einige neu zugelassene Medikamente, die Sie bewerten, gar keinen Zusatznutzen haben?

Ein höherer Nutzen im Vergleich zu den vorhandenen Therapiemöglichkeiten ist tatsächlich gar kein Kriterium dafür, dass ein Medikament zugelassen wird. Die Zulassungsbehörde prüft vielmehr, ob ein Medikament an sich mehr nutzt als schadet. Das heißt es gibt häufig eine ganze Reihe von Medikamenten, die für die gleiche Erkrankung eingesetzt werden. Wenn nun ein Hersteller für sein Medikament einen höheren Preis fordert als die vorhandenen Therapieoptionen kosten, dann muss er im Bewertungsverfahren des G-BA nachweisen, dass das neue Medikament besser ist.

Seit 2011 muss jedes Medikament, das neu auf den Markt kommt, diese Nutzenbewertung durchlaufen.2 Am Ende dieses Verfahrens haben wir die Information „Wie viel besser ist dieses Medikament als das was wir schon haben?“. Das ist wichtig für klinische Leitlinien, oder auch für individuelle Therapieentscheidungen, wenn sich Patient*innen zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden müssen. Und nicht zuletzt wird diese Information für Preisverhandlungen eingesetzt.

Was ist das Gesamtergebnis der Arzneimittelbewertung des IQWiG in den letzten Jahren bezogen auf den Zusatznutzen von Medikamenten?

Wir haben uns alle Bewertungen die wir zwischen 2011 und 2017 durchgeführt haben noch einmal angeschaut und gesehen, dass eben nicht alle neuen Medikamente nachweisen können, dass sie besser sind. Insgesamt weisen nur 25 Prozent einen mehr als geringen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie auf.3 Weitere 16 Prozent hatten einen geringen Zusatznutzen oder einen den man nicht quantifizieren kann. Das heißt, für einen Großteil der neuen Medikamente haben wir keinen Nachweis, dass sie besser sind.

Woran liegt es, dass nur so wenige neue Medikamente einen Zusatznutzen aufweisen? Gibt es keine neuen Wirkstoffe mehr zu entdecken? Oder gehen in Zeiten der Präzisionsmedizin individuelle Effekte von Medikamenten unter, wenn Daten von vielen Patient*innen zusammenfasst werden?

Dafür gibt es viele Gründe. In einem großen Teil der Untersuchungen, die wir machen, gibt es überhaupt keine Daten, die das neue Medikament mit dem alten vergleichen. Es ist nicht ganz nachvollziehbar, dass es diese Daten nicht gibt, denn dieses Bewertungsverfahren wird jetzt immerhin schon seit 2011 in Deutschland durchgeführt und in anderen Ländern schon viel länger. In Großbritannien gibt es so ein ähnliches Verfahren z. B. seit 20 Jahren, in Australien seit 25 Jahren. Die Hersteller wissen also eigentlich, dass solche Fragen gestellt werden. Trotzdem werden diese Studien nicht gemacht. Wir denken, dass es zum Teil daran liegt, dass die Zulassung diese Studien nicht explizit fordert – genau dies wäre eine Idee, die Situation zu verbessern: die Hersteller sollten verpflichtet werden, solche vergleichenden Studien zu machen.

Ein anderer Grund ist, dass es auch nicht einfach ist, Medikamente mit Zusatznutzen zu entwickeln. Und das System belohnt im Moment immer noch Arzneimittel die keinen Zusatznutzen haben, aber als neu daherkommen. Das sehen wir gerade z. B. in der Onkologie. Da gab es ja durchaus neue erfolgreiche Therapieprinzipien, die Immuntherapie z. B.. Es gibt jetzt verschiedene Präparate, die diese Immuntherapien für Patient*innen zur Verfügung stellen. Es wird aber in diesem Bereich intensiv mit einer riesigen Zahl von Studien weitergeforscht, anstatt zu sagen „Okay, wir könnten jetzt versuchen ein anderes Wirkprinzip zu entwickeln, weil auch diese Immuntherapien wieder nur für einen Teil der Patient*innen hilfreich sind“. Stattdessen gehen weiterhin massiv Ressourcen in die Entwicklung weiterer Wirkstoffe, die ein ganz ähnliches Therapieprinzip bedienen. Ein Grund dafür ist sicher, dass es für die Unternehmen weniger risikoreich und trotzdem profitabel ist, diesen Weg zu gehen.

Was müsste sich auf politischer oder regulatorischer Ebene ändern, um die Entwicklung neuer Medikamente effizienter zu machen?

Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, war eine Bewegung hin zu schnelleren Zulassungen von Medikamenten. Das Argument für diese Entwicklung ist, dass es gut sei, neue Medikamente zu haben. Es ist sicherlich richtig, dass in vielen Bereichen noch gute Medikamente fehlen und natürlich ist da noch eine Entwicklung notwendig. Aber die Wahrnehmung scheint zu sein, dass eine bessere Patientenversorgung primär nach dem Motto je schneller und je mehr, desto besser erreicht werden kann. Das führt dazu, dass man die Anforderungen an die Daten herunterfährt, weil man primär schnell sein möchte. Ich denke da sollte man wieder in eine andere Richtung gehen und robustere Daten verlangen – mehr Daten auch zum Vergleich mit vorhandenen Therapien, mehr Daten zu Endpunkten, die wirklich relevant sind für Patient*innen – also zum Überleben, zu Symptomen, zur Lebensqualität und nicht ausschließlich zu Laborparametern oder Tumorwachstum oder anderen Ersatzparametern, die herangezogen werden, weil sie schneller und einfacher zu erheben sind.

Ein Punkt, den Sie eben auch schon angesprochen haben, ist die sogenannte Präzisionsmedizin. Es gibt sicherlich Erkrankungen in denen tatsächlich die betroffene Patientenpopulation sehr klein ist und da muss man neue Wege finden, ausreichende Daten zu erheben. Aber im Moment ist mein Gefühl, dass Präzisionsmedizin als allzu einfaches Argument verwendet wird, um generell die Standards abzusenken. In vielen Fällen wäre es jedoch möglich, adäquate Studien zu machen.

Es gibt auch verschiedene Ideen, Arzneimittelentwicklung anders zu gestalten, z. B. wieder mehr in die öffentliche Hand zu nehmen. Das kann man sich auf verschiedenen Ebenen vorstellen. Aktuell wartet man primär auf die Entscheidung der Pharmaindustrie, in welche Richtung sie Arzneimittel entwickeln will. Im Moment sind z. B. Onkologika sehr profitabel. Immer mehr Firmen konzentrieren sich auf diese Indikation und geben andere Indikationsbereiche auf. Das führt dazu, dass z. B. Antibiotika nicht mehr entwickelt werden. Alzheimermedikamente sind ein weiteres Beispiel – weil es in der Entwicklung viele Rückschläge gibt, geben Firmen diese Erkrankung auf und wenden sich anderen Feldern zu. Das ist auch aus einer betriebswirtschaftlichen Sicht nachvollziehbar. Aber genau deshalb müssen andere Entscheidungsmechanismen her, um sicherzustellen, dass es für alle relevanten Erkrankungen die notwendige Arzneimittelentwicklung gibt. Bei den Antibiotika hat die Diskussion angefangen. Da gibt es Ideen, wie man mehr öffentlich geförderte Entwicklung stützen möchte und es gibt Diskussionen, ob man das in anderen Bereichen auch machen sollte. Also ob die Öffentlichkeit – in welcher Form auch immer – die Felder definieren sollte, in denen dann geförderte Arzneimittelentwicklung stattfindet.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Isabelle Bartram.

  • 1siehe Artikel zur Rolle des G-BA, S.14 in diesem Heft: https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/praenataldiagnostik/252/im-wettbe….
  • 22011 trat das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) in Kraft. Seit dem führt der G-BA für alle neu zugelassenen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen sofort nach Markteintritt eine Nutzenbewertung durch. Das Ergebnis dieser Bewertung bestimmt den Preis, den gesetzliche Krankenversicherer für das Medikament bezahlen. Pharmaunternehmen sind verpflichtet dafür ein Dossier zum Nutzen des Präparates vorzulegen, dessen Daten vom IQWiG evaluiert werden. Besteht ein Zusatznutzen im Vergleich zu einer etablierten Therapie, so kann der Hersteller mit den gesetzlichen Krankenkassen einen Preis für das Medikament aushandeln, der höher ist als der der etablierten Therapie. Wenn kein Zusatznutzen besteht ordnet der G-BA das Medikament einer Festbetragsgruppe zu oder der Preis soll dem der etablierten Therapien entsprechen.
  • 3Wieseler, B./McGauran, N./Kaiser, T. (2019): New drugs: where did we go wrong and what can we do better? In: The BMJ, 366, doi: 10.1136/bmj.l4340. Online: www.bmj.com/content/366/bmj.l4340 [letzter Zugriff: 09.01.2020].
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
252
vom Februar 2020
Seite 12 - 13

Beate Wieseler ist Leiterin des Ressorts für Arzneimittelbewertung im IQWiG.

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