Filmrezension: Für reproduktive Selbstbestimmung!
„WIE WIR WOLLEN“ – Schwangerschaftsabbrüche
In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche, durch den Paragraphen 218 StGB, nun schon über 150 Jahre kriminalisiert. Welche Auswirkungen solch eine Kriminalisierung auf ein Land und Menschen in deren Gesellschaft haben kann, wird in dem Dokumentarfilm „WIE WIR WOLLEN“ vom Kollektiv Kinokas mithilfe von Erlebnisberichten, Interviews und Fakten am Beispiel Deutschland gezeigt.

Auch feministische Demonstrationen für reproduktive Selbstbestimmung sind in „WIE WIR WOLLEN“ zu sehen. Foto: © Kollektiv Kinokas
Am 24.06.2022 hat der Supreme Court in den USA ein Urteil erlassen, welches den einzelnen Bundesstaaten die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen überträgt. Mehrere republikanische Bundesstaaten haben daraufhin das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche bereits eingeschränkt oder den Eingriff sogar verboten. Diese veralteten beziehungsweise regressiven Gesetze haben enorme Auswirkungen auf Menschen, die schwanger werden können, auf die Gesundheitsversorgungen und auf das Thema reproduktive Gerechtigkeit insgesamt. Der Schwangerschaftsabbruch ist einer der häufigsten gynäkologischen Eingriffe in Deutschland, dennoch gibt es enorme strukturelle und psychische Hürden, um ihn durchführen zu lassen. Denn offiziell sind Abbrüche immer noch verboten: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft […].“ (§218 StGB). Und aufgrund des Paragraphen 219a StGB („Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“) war bis vor Kurzem die bloße Information darüber, dass Abbrüche in Praxen durchgeführt werden sowie die Aufklärung über die zur Verfügung stehenden Methoden zum Schwangerschaftsabbruch strafbar.
Gynäkolog*innen berichten über dadurch entstandene und weiter bestehende strukturelle Hürden wie komplizierte Wege, um an Listen mit Abtreibungskliniken zu kommen und einen Mangel an Fachkräften. Ungewollt Schwangere mussten teilweise kilometerweit in andere Bundesländer oder gar in komplett andere Länder fahren, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Mit Blick auf die Ereignisse in den USA wird klar, dass das in Zukunft auch dort so sein wird, wenn nur noch schätzungsweise die Hälfte der Bundesstaaten Abtreibungen durchführen wird.
In persönlichen Erlebnisberichten reden Betroffene über psychische Hürden, die vor allem alles rund um den Abbruch und nicht diesen selber betreffen. Auf der Suche nach Informationen mussten ungewollt Schwangere auf schweizerische Webseiten ausweichen oder landeten aus Versehen auf Seiten mit starker ideologischer Haltung. Mittlerweile ist es auch möglich sich auf deutschen Webseiten über Abbrüche zu informieren, ideologisch beeinflusste Webseiten existieren aber weiterhin und können missverständlich aufgerufen werden. Hilfesuchende werden häufig ungefragt mit den Meinungen anderer konfrontiert. Das äußert sich unter anderem in Form von Bildern, Inhalten oder Kommentaren oder gar in Form von „Lebensschützer*innen“, die vor Abtreibungskliniken warten und ungewollt Schwangere als Mörder*innen beschimpfen. Das Thema Schwangerschaftsabbrüche ist stark tabuisiert und findet nach wie vor kaum gesellschaftliche Akzeptanz, dabei sind Abbrüche Alltag und Realität und sollten daher zu einer gesellschaftlichen Normalität werden. Schließlich handelt es sich hier um eine essenzielle Dienstleistung der reproduktiven Gesundheit.
Reproduktive Selbstbestimmung… für wen?
Es geht um viel mehr, als um eine sichere Gesundheitsversorgung. Ein Recht auf Abtreibung würde die „völlige Akzeptanz der Frau als Subjekt durch die Gesellschaft“ bedeuten, so der Kommentar einer Frau im Film. Es geht um reproduktive Selbstbestimmung und darum, alleine – also ohne Intervention des Staates – Entscheidungen über den eigenen Körper zu treffen. Der Film betrachtet reproduktive Gerechtigkeit aus verschiedenen Perspektiven. Konkret wird gefragt: Wer soll in unserer Gesellschaft Kinder kriegen und wer nicht? Und: Aus wessen Perspektive wird für reproduktive Rechte gekämpft?
Ein Aspekt, der im Film behandelt wird, ist der Einfluss des sozialen Standes auf reproduktive Selbstbestimmung. In „WIE WIR WOLLEN“ wird klar, dass Menschen aus der Mittel- und Oberschicht deutliche Vorteile haben, wenn es um das Thema reproduktive Selbstbestimmung geht. So zum Beispiel finanzielle Vorteile, denn neben dem sowieso höheren Einkommen, profitieren sie uneingeschränkt von Kinder- und Elterngeld. Bei Menschen, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen, wie zum Beispiel Arbeitslosengeld II (sog. Hartz IV), wird dieser Zuschuss mit den Sozialleistungen verrechnet. Mit diesem und anderen strukturellen Mitteln werden insbesondere Akademiker*innen dazu motiviert, Kinder zu kriegen, wohingegen sozioökonomisch schlechter situierte Personen in ihren reproduktiven Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Die Frage um reproduktive Gerechtigkeit, ist daher unter anderem stark von sozioökonomischen Bedingungen geprägt. Vielen Menschen wird der Zugang zum Gesundheitssystem strukturell erschwert oder verwehrt.
Dokumentation, aber anders?
Ein informativer Dokumentarfilm kann schnell zu einem monotonen Konglomerat aus Fakten und Hintergrundwissen werden. Besonders wenn es um ein rechtliches Thema geht. Mit künstlerischen Elementen wie Sprechchören sowie szenischen und performativen Elementen aus Alltagssituationen werden bei „WIE WIR WOLLEN“ Zuschauende aktiv mit eingebunden und Fakten auf zugängliche Art und Weise vermittelt. Das Kollektiv Kinokas löst sich dadurch von starren Charakterzügen und Elementen einer Dokumentation und schafft eine Atmosphäre, die viel persönlicher, aber dennoch professionell und informativ ist.
Fazit
Erfreulicherweise wurde am 24.06.2022 in Deutschland der Paragraph 219a StGB gestrichen, was das Informieren über Praktiken und Methoden deutlich erleichtert. Es ist ein Schritt nach vorne. Weiterhin existiert hier jedoch der Paragraph 218 StGB. Das heißt Schwangerschaftsabbrüche sind nach wie vor kriminalisiert und die rechtliche Auslegung erschwert ungewollt Schwangeren einen leichten Zugang zu einer essenziellen medizinischen Dienstleistung. Wie das Beispiel USA zeigt, ist der Kampf um reproduktive Selbstbestimmung ein globaler und muss auch zukünftig weitergeführt werden. Der Film stellt sehr gut dar wie aktuell und relevant die feministische Debatte um das Thema Abtreibungen in Deutschland ist und bleibt. Dabei wird besonders hervorgehoben wie wichtig eine solidarische feministische Bewegung ist, die sowohl intersektionale als auch antiableistische Fragen und Perspektiven berücksichtigt.
„WIE WIR WOLLEN“ gibt einen umfassenden Einblick mit einer Vielfalt an Sichtweisen und ist für jede*n zu empfehlen. Mit vielen persönlichen Geschichten, aber auch faktenreichen Komponenten bietet der Film besonders für Betroffene oder Menschen mit wenig Vorwissen eine ideale und spannende Informationsquelle.
Lilly Presser ist Biologiestudentin, sie absolvierte von 2021 bis 2022 ein FÖJ und arbeitete anschließend von 2022 bis 2024 im Rahmen eines Minijobs beim GeN.
Das Kollektiv Kinokas ist ein feministisches Filmkollektiv, das den Film als kreative Form der emanzipatorischen Bildungsarbeit nutzt. Bei Kinokas arbeiten Menschen aus Sozial-, Film-, Kultur- und Politikwissenschaften zusammen. Durch diese interdisziplinäre Arbeit entstehen sowohl inhaltlich als auch gestalterisch umfangreiche und interessante Filme mit meist experimentellen Elementen. Mehr Informationen über das Kollektiv und zu Streaming-Terminen von „WIE WIR WOLLEN“ sind zu finden unter: wiewirwollen.org.