„Es braucht eine Aufarbeitung dieser Form der staatlichen Gewalt an behinderten Körpern.“
Schweizer Kampagne fordert Verbot von Zwangssterilisationen
In der Schweiz läuft derzeit die Kampagne „Stoppt Zwangssterilisationen“, die sich gegen die Sterilisation an Menschen richtet, die als „urteilsunfähig“ gelten. Worum es in der Kampagne geht, berichtet uns Suna Kircali vom Verein avanti donne.
Suna Kircali, Co-Geschäftsleitung von avanti donne.
Hallo Suna. Toll, dass du dir Zeit genommen hast. Vielleicht magst du uns erstmal ein bisschen über euren Verein avanti donne und eure Arbeit erzählen.
Avanti setzt sich in der Schweiz für die Interessen von behinderten und chronisch kranken Frauen, intergeschlechtlichen, trans, nicht-binären und agender Personen ein. Den Verein gibt es seit über 20 Jahren und er wird seither von Betroffenen geleitet. Wir verstehen uns als Netzwerk von und für FLINTA mit Behinderungen. Zugleich agieren wir als Organisation spezifisch zu den Thematiken, bei denen es in der Gesellschaft, Politik und Kultur zu Mehrfachdiskriminierung aufgrund von Gender und Behinderung kommt.
Ihr habt letztes Jahr die Kampagne „Stoppt Zwangssterilisationen!“ gestartet – worum geht es da und was ist der aktuelle Stand?
Die Kampagne ist an eine Petition geknüpft, die den zuständigen Behörden überreicht werden kann. Die Petition verpflichtet die Gesetzgeber jedoch nicht, auf den Vorstoß einzugehen. Durch eine Petition wird vielmehr veranschaulicht und indirekt Legitimität geschaffen, dafür dass es ein bestimmtes Anliegen in der Gesellschaft gibt, welches politisch aufgegriffen werden sollte.
Die Petition „Stopp Zwangssterilisation“ fordert eine Gesetzesanpassung. Denn aktuell ist es laut Schweizer Gesetz möglich, dass Personen ab 16 Jahren gegen ihren Willen sterilisiert werden können, wenn sie als nicht-urteilsfähig eingestuft werden. Wir fordern in der Petition, dass keine Sterilisationen gegen den eigenen Willen mehr erlaubt werden dürfen.
Wir sammeln aktuell weiter Unterschriften für die Petition: https://act.campax.org/petitions/stoppt-zwangsste…
Gleichzeitig wurde in Zusammenarbeit mit Inclusion Handicap – ein Behindertendachverband – ein parlamentarischer Vorstoß eingereicht. Aktuell hat der Bundesrat die Vorlage abgelehnt und die Überprüfung des Gesetzes an die Ethikkommission verwiesen. Somit warten wir noch auf den Entscheid des Parlaments.
Im Sterilisationsgesetz ist die Rede von „urteilsunfähigen“ Personen – wer legt das fest und von wem kommen dann die Bemühungen um eine Sterilisation?
Bei der Urteilsfähigkeit geht es darum, dass eine Person die Fähigkeiten dazu hat, vernunftgemäß zu handeln. Diese Fähigkeit kann laut schweizerischem Gesetzbuch infolge „geistiger Behinderung, psychischer Störung oder Rauschzuständen“ beeinträchtigt sein. Wenn die Urteilsfähigkeit angezweifelt wird, braucht es eine medizinische Einschätzung, also von entsprechenden Ärzt*innen. Dabei wird unter anderem getestet, ob eine Person 1) Informationen versteht um die entsprechende Entscheidung zu treffen, 2) die Fähigkeit hat, die Konsequenzen daraus richtig abzuwägen, 3) die Informationen in einem Wertesystem rational einordnen und gewichten kann und 4) die Fähigkeit besitzt, die eigene Wahl zu äußern. Die KESB (Kinder und Erwachsenenschutzbehörde) entscheidet dann auch, ob die Person einen Beistand braucht. Also eine Person, welche für die urteilsunfähige Person entscheiden kann.
Leider wissen wir nicht genau, wie es genau zu diesen Sterilisationen gekommen ist, da noch keine öffentlichen Berichte vorliegen (dies ist eine weitere Forderung von uns). Wir wissen nur, dass in den letzten 10 Jahren bis heute 16 Fälle gemeldet wurden, wo urteilsunfähige Personen eine Sterilisation bekommen haben. Dabei ist die Dunkelziffer zu beachten, das heißt, es kann sehr gut sein, dass Sterilisationen durchgeführt werden, ohne dass diese bei den Behörden gemeldet werden.
Was wir wissen, ist, dass europaweit Frauen mit Behinderungen dreimal so häufig sterilisiert sind, wie Frauen ohne Behinderungen. Und wir wissen auch, dass Frauen mit Behinderungen besonders vulnerabel sind und besonders schwach vertreten in der Öffentlichkeit. Daher müssen wir leider davon ausgehen, dass es noch mehr betroffene Personen gibt.
Anhand der Schweizer Geschichte und von Forschung noch vor 2013 wissen wir jedoch, dass besonders Familien, insbesondere die eigenen Eltern vermehrt besonders besorgt waren, über die Geschlechtsreife des eigenen Kindes mit geistiger Behinderung. Also besonders die Eltern, aber auch Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und die Beistände selbst, haben sich jeweils um eine Sterilisation bemüht. Aber auch die KESB selbst schaltet sich ein, wenn sie denkt, dass eine Mutter mit geistiger Behinderung z.B. nicht noch ein drittes Kind bekommen soll. Also auch der Staat selbst bemüht sich darum, die Reproduktion von Menschen mit geistigen Behinderungen zu regulieren.
Wo seid ihr in eurer alltäglichen Arbeit mit dem Thema Sterilisation konfrontiert?
Tatsächlich versuchen wir in unserer Arbeit dieses Gesetz vermehrt an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn die meisten Menschen wissen nichts davon. Dank der UN-Behindertenrechtskonvention wurde das überhaupt sichtbar! Wir haben auch mit dem Schweizer Fernsehen einen kleinen Beitrag machen können. Dank ihnen haben wir erste Zahlen dazu finden können, da sich ein Journalist darum bemüht hat und alle kantonalen KESB’s um die Informationen gebeten hat.
Wie siehst du den Zusammenhang zwischen dem Sterilisationsgesetz und gesellschaftlichen Vorstellungen von Sexualität und Behinderung?
Anhand dieses Gesetzes wird deutlich, wem wir Reproduktionsrechte weiterhin absprechen. Und zwar Menschen mit psychischen Erkrankungen und kognitiven Beeinträchtigungen. Ich denke, das zeigt, wie Behindertenfeindlichkeit weiterhin ein aktuelles Thema ist in unserer Gesellschaft. Wir behinderten Menschen fordern ein Umdenken. Es braucht mehr Akzeptanz für behinderte Lebensrealitäten und weniger Unterdrückung. Auch Menschen mit kognitiven Behinderungen sollen sich darüber Gedanken machen dürfen, zweifeln und hoffen, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht. Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen können wunderbare Eltern sein. Außerdem gibt es heutzutage sehr viele andere Arten um zu Verhüten. Dass eine so veraltete Praxis wie eine Sterilisation zur Verhütung angewendet wird, zeigt wie absurd die ganze Situation ist.
Wie steht es in der Schweiz um sexuelle Bildung für behinderte Menschen – in Schulen, Wohninstitutionen, Jugendangeboten?
Leider ist sexuelle Bildung nicht mal eine Pflicht in der regulären Schule bzw. nur begrenzt Teil von Lehrplänen. Ein Angebot, das behindertenspezifisch ist, ist viel zu wenig bis gar nicht vorhanden. Einzelne Organisationen und Behinderten-Aktivist*innen bemühen sich seit sicher zehn Jahren darum, ein Angebot zu schaffen. Aufgrund der fehlenden Gelder in diesem Bereich kommt diese Arbeit nur schleppend voran. Es gibt Menschen, die motiviert sind, sich um solche Angebote zu kümmern.
Welche Möglichkeiten haben behinderte Menschen, in Schwangerschaft und Elternschaft unterstützt zu werden? Gibt es in der Schweiz z.B. Elternassistenz?
In der Schweiz gibt es dafür nur die reguläre Assistenz. Und auch die Invalidenrente-Beiträge, die Eltern mit Behinderungen bekommen, sind extrem niedrig – ganz konkret werden ihnen viel zu wenig Stunden für die Sorge-Arbeit berechnet. So, als gäbe es keine Nacht und nur halb so viele Tage die Woche. Die Perspektiven als Eltern mit Behinderungen in der Schweiz sind daher bis jetzt auch eher düster, insbesondere dann, wenn die Person selbst von der Invalidenrente abhängig ist.
Welche Wünsche und Forderungen habt ihr bei avanti donne hinsichtlich der reproduktiven Selbstbestimmung behinderter Menschen, auch über eine Änderung des Sterilisationsgesetzes hinaus?
Wir wünschen uns sexuelle Bildung für behinderte Menschen, Elternberatung für behinderte Eltern und Elternassistenz. Wir wollen, dass alle Beratungsangebote, die es bis jetzt gibt, auf Barrierefreiheit überprüft werden. Und wir wünschen uns auch eine Auseinandersetzung darüber, wieso die Gesellschaft denkt, dass wir keine guten Eltern sein könnten. Aber besonders wünschen wir uns auch, dass es eine offizielle staatliche Entschuldigung gibt an alle Personen, die gegen Ihren Willen sterilisiert wurden. Es braucht eine Aufarbeitung dieser Form der staatlichen Gewalt an behinderten Körpern.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Johanna Lindemann.
Anmerkung zum Sprachgebrauch: Im Interview werden von Suna Kircali unterschiedliche Begriffe genutzt, um über Behinderung zu sprechen - manche sind Selbstbezeichnungen, manchmal geht es um den Wortlaut aus Gesetzestexten. Wir haben diese Begriffe so stehen lassen, da avanti donne eine Selbstorganisation ist und auch, weil der Diskurs um Begrifflichkeiten in der Schweiz nicht zwangsläufig der gleiche ist wie in Deutschland. In den Interviewfragen selbst wird hauptsächlich "identity first"-Sprache (z.B. "behinderte Menschen") genutzt. Mehr zur Debatte um unterschiedliche Bezeichnungen und die Gedanken dahinter z.B. hier und hier.
Suna Kircali (they/them) ist Co-Geschäftsleitung beim Schweizer Verein avanti donne. Suna hat Politikwissenschaften und Soziologie studiert, engagiert sich in behinderten sowie feministischen Netzwerken und setzt sich mit den Themen Neurodivergenz, psychische Behinderungen, sexualisierte Gewalt, Gerechtigkeitstheorien und politischer Partizipation auseinander.
Sterilisationen an behinderten Menschen in Deutschland
Wer in einer Gesellschaft Kinder bekommen soll und wer nicht, ist ein politisch umkämpftes Thema und eng an Normvorstellungen geknüpft. Besonders die reproduktive Selbstbestimmung behinderter Menschen ist noch immer stark eingeschränkt.
Im NS wurden ca. 400.000 Menschen unter dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert. Während dieses Gesetz in der DDR als NS-Unrecht anerkannt wurde, hielt sich in der BRD bis in die 1980er Jahre die Annahme, es habe sich dabei um eine normale staatliche und grundrechtskonforme Maßnahme gehandelt, Sterilisationen galten noch lange als vermeintlich angemessenes Verhütungsmittel für Frauen und Mädchen mit Lernbehinderungen.
Noch heute sind behinderte Frauen in Deutschland zwei- bis dreimal so häufig sterilisiert, wie der Bevölkerungsdurchschnitt, besonders betroffen sind Frauen mit Lernbehinderungen. Sterilisationen gegen den erklärten Willen der Betroffenen wurden erst 1992 gesetzlich verboten, allerdings mit einer Ausnahme für als „nicht einwilligungsfähig“ geltende Personen, § 1905 BGB sah hier einen Weg über das Betreuungsgericht vor. Diese Praxis verstieß sowohl gegen die Istanbul-Konvention, als auch gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung forderte Deutschland bereits 2015 in einem Report dazu auf, diese Regelung aufzuheben. Eine Änderung trat erst am 1. Januar 2023 in Kraft. Es ist allerdings davon auszugehen, dass viele Betroffene sterilisiert wurden, ohne jemals das vorgesehene betreuungsrechtliche Verfahren durchlaufen zu haben – durch mangelnde Aufklärung oder Manipulationen seitens Angehöriger und Betreuungspersonen. Allein am Landgericht München sind derzeit zwei Verfahren anhängig, da Ärzt*innen Sterilisationen ohne entsprechende Genehmigung durchgeführt hatten.
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