Reproduktive Gerechtigkeit

Kinderwunsch und Elternschaft in ungleichen Verhältnissen

Welche Kinder sollen geboren werden, welche lieber nicht? Wer soll Kinder bekommen und aufziehen, wer besser nicht? Wer soll auf Eizellen und Gebärmütter anderer zugreifen können – und wer sollen diese anderen sein? Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit beleuchtet diese gewaltvollen Fragen kritisch.

Bild von Muriel

Bild von Muriel, 24 Jahre

Feministische Bewegungen entwickeln sich in den letzten Jahren weltweit höchst dynamisch. Sie verändern Perspektiven und denken vieles neu zusammen. Gerade diejenigen Bewegungen gewinnen an Einfluss, die Geschlechterverhältnisse nicht isoliert betrachten. Sie wenden sich gegen einen liberalen Feminismus, der lediglich die Position einiger weniger privilegierter Frauen innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu verbessern versucht. Um Geschlechterhierarchien gemeinsam mit Klassenverhältnissen, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und heteronormativen Strukturen angehen zu können, kursieren dafür auch neue Begriffe – auch wenn das, was diese kritisch in den Blick nehmen, meist nicht neu ist.

Einer dieser Begriffe, der derzeit Hochkonjunktur hat, ist „reproductive justice“ – auf Deutsch: reproduktive Gerechtigkeit. Er wurde von Schwarzen Feminist*innen in den USA bereits in den 1990er Jahren entworfen, um über einen sogenannten Pro Choice-Feminismus hinauszugehen. Sie kritisierten, dass Pro-Choice-Bewegungen die Kämpfe für reproduktive Rechte auf den Zugang zu Abtreibungen reduzierten. Und sie machten deutlich, dass die Bedingungen, unter denen Menschen sich für oder gegen ein Kind entscheiden können, sehr unterschiedlich sind, ebenso wie es nie für alle gleich war, ob ihr Nachwuchs gesellschaftlich erwünscht war oder nicht.

Zusammengesetzt aus den Forderungen nach reproduktiven Rechten und nach sozialer Gerechtigkeit entstand ein Rahmenkonzept, innerhalb dessen Machtverhältnisse rund um Abtreibung, Verhütung, Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft diskutiert werden können. Drei Rechtsbereiche wollen die Bewegungen, die sich auf reproduktive Gerechtigkeit beziehen, berücksichtigt sehen: Erstens ist ihnen das Recht, sich gegen Kinder entscheiden zu können, weiter wichtig – aber als tatsächlicher Zugang zu sicheren Abtreibungs- und Verhütungsmöglichkeiten und nicht nur als abstrakter Gesetzestext. Genauso zentral ist für sie als zweiter Bereich das Recht, sich für Kinder entscheiden zu können. Hintergrund ist die bis in die heutige Zeit reichende Geschichte von Zwangssterilisationen diskriminierter Bevölkerungen (Schwarze und indigene Bevölkerungen, Gefängnisinsass*innen oder Menschen in Abschiebehaft) in den USA. Der dritte Forderungskomplex bezieht sich auf das Recht, Kinder überhaupt unter guten Bedingungen aufziehen zu können. Themen sind hier die Stigmatisierung der Elternschaft etwa von Sozialhilfeempfänger*innen, der behördliche Kindesentzug aus rassistischen Motiven oder die Missachtung des Rechts auf Familienzusammenführung im Kontext von Migration.

Und im deutschen Kontext?

Inwiefern kann dieser anspruchsvolle Bezugsrahmen auf deutsche Verhältnisse übertragen werden? Einige Netzwerke und Diskussionszirkel versuchen derzeit, diese große Klammer auch in die hiesigen Debatten um Kinderkriegen und Elternschaft einzubringen.1 Herausfordernd ist zum einen, die Kritik reproduktiver Unterdrückung nicht einfach aus den USA zu importieren, sondern hier zu verankern und all die Initiativen und Bewegungsgeschichten einzubeziehen, die dies schon lange unter anderen Labeln tun. Zum anderen heißt das, eine Selbstbestimmungsdebatte zu hinterfragen, die auch hierzulande oftmals stark verkürzt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ins Zentrum stellt, wenn es um reproduktive Rechte geht. Demgegenüber bleibt die feministische Auseinandersetzung mit den prekären Lebenslagen von erwerbslosen, queeren, behinderten und/oder migrant*ischen Menschen rund um reproduktive Gesundheitsversorgung und Elternschaft meist marginal.

Für das Gen-ethische Netzwerk (GeN) ist die aktuelle Aufmerksamkeit für reproduktive Gerechtigkeit eine gute Möglichkeit, unsere Thesen und Forderungen zu Humangenetik und Reproduktionsmedizin einzubringen. Schließlich entspricht das Konzept in vielerlei Hinsicht unserem Anliegen, feministische Forderungen nach reproduktiver Autonomie mit einer Kritik an genetischer Selektion und an reproduktiver Ausbeutung zusammenzubringen. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, sind einem liberalen feministischen Mainstream oft eher unangenehm. Sie betreffen aber die Grundannahme reproduktiver Gerechtigkeit, nämlich, dass ein Feminismus für alle nicht ohne den Widerspruch gegen Behindertendiskriminierung, Rassismus und Klassenhierarchien auskommen kann.

In diesem Heft konzentrieren wir uns auf zwei Kernthemen der Debatte um reproduktive Gerechtigkeit, die für das GeN wichtig sind: Auseinandersetzungen um reproduktive Ausbeutung sowie Recht auf Elternschaft im Kontext von Behinderung. Im ersten Teil befassen wir uns mit der aktuellen Debatte, ob „Eizellspende“ und „Leihmutterschaft“ in Deutschland legalisiert werden sollten, wie es die Ampelkoalition derzeit prüfen lässt. Im feministischen Austausch zu reproduktiver Gerechtigkeit ist die Bewertung dieser reproduktionstechnologischen Verfahren noch lange nicht ausdiskutiert. Loretta J. Ross, eine Schwarze US-Feministin, die das Konzept mit entwickelt hat, äußerte sich jüngst auf einer Veranstaltung in Hamburg aber sehr klar dazu. Wir zitieren ihre Stellungnahme zu Beginn dieses Schwerpunkts. Anschließend befassen wir uns mit der aktuellen Debatte im Rahmen der von der Ampel eingesetzten Kommission. Derya Binışık bringt uns auf den neuesten Stand und erklärt, welche Positionen in Parteien und Zivilgesellschaft kursieren. Viele Organisationen, auch viele queere Organisationen, haben sich noch gar nicht dezidiert Pro oder Contra Legalisierung festgelegt, wie Constanze Körner von LesLeFam e.V. in einem Gespräch deutlich macht. Sie spricht von offenen Fragen und Zweifeln dazu, wie denn etwa die Ausbeutung von Eizellgeber*innen vermieden werden könnte. Auch Anthea Kyere vom Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit in Berlin äußert sich in dem Gespräch kritisch zu etlichen Dimensionen dieser Repro-Verfahren und stimmt bei, dass es ihr schwerfalle, sich zur Legalisierungsfrage eindeutig zu positionieren.

Die gesellschaftliche Besorgnis um das Thema Verwirklichung von Kinderwünschen stößt an harsche Grenzen, wenn es um die Elternschaft von behinderten Menschen geht. Im zweiten Teil dieses Schwerpunkts befassen wir uns deswegen mit dem (verhinderten) Recht auf Elternschaft von Menschen mit Behinderung, sowohl im gelebten Alltag als auch bezüglich der Geschichte und Aktualität von Zwangssterilisationen.

Johanna Lindemann gibt einen Überblick über den in den letzten Jahren kaum noch öffentlich wahrgenommenen Skandal der Zwangssterilisation an behinderten Menschen und zeichnet Veränderungen in der Rechtslage nach, wobei auch mangelnde Aufklärung und Fremdbestimmung beim Einsatz von Verhütungsmitteln kritisch in den Blick genommen werden. Anschließend erfahren wir in dem Interview mit Silja Korn, wie es für eine blinde Mutter ist, in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft ein Kind großzuziehen. Die Erzieherin und Autorin berichtet von zähen ebenso wie erfolgreichen Kämpfen mit den Behörden sowie schönen Erfahrungen in der Organisierung und Vernetzung. Als Sozialarbeiter*in wirft Svens Krebs zudem einen Blick auf die komplexen Hilfesysteme für behinderte Eltern und das Spannungsverhältnis von Unterstützung und Bevormundung. Zur Ergänzung erklärt ein Kasten die rechtlichen Grundlagen einfacher und qualifizierter Elternassistenz und die Problemlagen mangelnder Koordination und Finanzierung der Unterstützungsstrukturen.

Durch den Schwerpunkt ziehen sich Illustrationen, die während inklusiver Kinder- und Jugendferien entstanden sind. Die Bilder zeigen die Zukunftsentwürfe der Teilnehmenden: Wie und vor allem mit wem möchte ich leben, wenn ich älter bin? Möchte ich Kinder haben? Ein Haustier? Mit Freund*innen wohnen? Oder nahe bei meiner Herkunftsfamilie? An dieser Stelle möchten wir uns herzlich bei allen Zeichner* innen für die Erlaubnis bedanken, ihre Werke abzudrucken.

  • 1Siehe online: www.repro-gerechtigkeit.de und Kitchen Politics (2021): Austausch mit und in einem Berliner Netzwerk, in: dies. (Hg.): Mehr als Selbstbestimmung, assemblage, S.73-96.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
266
vom August 2023
Seite 6 - 7

Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.

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Susanne Schultz lehrt Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., forscht zu Demografiepolitik, ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg Stiftung und promovierte zum Thema Frauengesundheitsbewegungen.

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