Technologie gleich Wissenschaft?

Wie Wissenschaftlichkeit zum Spielball gegensätzlicher Positionen werden kann

Gentechnik ist ein umstrittenes Thema. Die Debatte nimmt derzeit wieder an Fahrt auf, da in diesem Jahr über die Regulierung der neuen Gentechniken im Gentechnikgesetz auf EU-Ebene neu verhandelt wird. Doch worin besteht der zentrale Konflikt bei der Debatte um die Gesetzesänderung?

Zu sehen ist eine Schwarz-weiß-Fotografie eines Mikrofones auf einem Redner*innenpult. Im Hintergrund sind Wandlichter zu erkennen.

In den aktuellen Debatten um eine mögliche Deregulierung von NGT gehen die Argumentationslinien von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus. Sie sind daher schwer miteinander vereinbar und ein Kompromiss scheint weit entfernt. Foto: Gemeinfrei auf pixabay.com

Die bekannteste Methode der neuen Gentechnik (NGT), auch Genome Editing genannt, ist die Arbeit mit der sogenannten Genschere CRISPR-Cas. Mit ihr kann die DNA in pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Zellen verändert werden, ohne dass das Einbringen artfremder DNA nötig ist. So sind Veränderungen möglich, die in der Natur oder durch klassische Züchtung sehr unwahrscheinlich sind und nicht in diesem Ausmaß entstehen können. Es ist zum Beispiel möglich, mehrere Gene einer Zelle gleichzeitig zu verändern. Der Europäische Gerichtshof ordnete 2018 Pflanzen aus NGT als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) ein, wodurch diese wie GVO der alten Gentechniken reguliert sind. Um eine Zulassung zu erhalten, sind eine Risikoüberprüfung und eine Kennzeichnungspflicht erforderlich.

Die zwei Pole in der Debatte um NGT

Menschen, die in der Gentechnik vornehmlich Vorteile und Chancen sehen, argumentieren, dass die strikte Regulierung der Freisetzung von NGT-Organismen nach dem Gentechnikrecht der EU verhindere, dass die im Labor gezüchteten Pflanzen umfänglich im Freiland erforscht werden können. Einige Forschende, aber auch Menschen mit Anbau- und /oder Vermarktungsinteresse, fordern eine erleichterte Zulassung. Beispielsweise indem Pflanzen, die mit Hilfe von NGT hergestellt wurden, nicht den GVO-Anforderungen entsprechen müssen. Nur so lasse sich die Herstellung von GVO optimieren und unter realen Umweltbedingungen testen. Skeptiker*innen dieser Deregulierung hingegen meinen, dass die Freisetzung der GVO möglicherweise unwiderruflichen Schaden anrichte und die weitreichende Erforschung der Risiken und Umweltauswirkungen unterbinde, wenn GVO nicht als solche erkennbar und gekennzeichnet sind. Des Weiteren könnten so Produkte ohne Kennzeichnung auf den Markt und in die Umwelt gelangen.

Die Frage, die sich bei einer Zulassung neuartiger Technologien immer stellen sollte, ist, welchen Nutzen sie hat und welches Risiko eine Gesellschaft bereit ist dafür einzugehen. Die Bewertungen des möglichen Nutzens und der Risiken unterscheiden sich zwischen den Positionen jedoch erheblich. Während die Pro-Deregulierungsseite der NGT einen großen Nutzen zuspricht und die Risiken für minimal hält, steht auf der Seite der Deregulierungsskeptiker*innen das Risikopotential im Mittelpunkt und der Nutzen wird eher als gering eingeschätzt. Innerhalb der aktuellen Debatten tauchen immer wieder Argumente auf, die nicht primär mit der Risikoeinschätzung von NGT zu tun haben, sondern sich eher auf die Pro-Kontra-Diskussion um den Nutzen von Gentechnik allgemein beziehen.

Technology-Push vs. Goal-Pull

Die Gründe einzelner Akteur*innen für das Für und Wider vom unregulierten Einsatz von NGT sind sehr vielfältig und umfassen viele Themen. Auch die jeweilige Motivation für eine Positionierung variiert. Dennoch lassen sich anhand der Argumente zwei grobe Ansätze erkennen, die sich auch in der aktuellen Publikation von Heinemann und Hiscox1 wiederfinden: In den Worten der Autor*innen steht der Technology-Push dem Goal-Pull gegenüber. Technology-Push beschreibt einen Ansatz, der eine Technologie als Ausgangpunkt nimmt, bei der nicht eine Lösung, sondern die Technologie selbst zum Ziel erklärt wird. Um einen Anreiz zu schaffen, dieses Ziel zu verfolgen, müssen Versprechen auf Verbesserungen bzgl. eines Problems formuliert werden. Das Versprechen der technologischen Innovation treibt Investitionen von staatlicher oder wirtschaftlicher Seite an. Demgegenüber stellen die Autor*innen den Goal-Pull, einen zielorientierten Ansatz, der sich methodenoffen auf ein Ziel (engl. Goal) fokussiert, welches immer eine soziale Komponente beinhaltet. Beispielsweise sollte nicht die Fähigkeit einer Pflanze, durch effektivere Fotosyntheseleistung mehr Ertrag hervorzubringen, das Ziel sein, sondern die Verfügbarkeit von gesundem Essen. Die Art, wie dieses Ziel erreicht wird, ist nicht festlegt und kann im Prozess nachkorrigiert werden, sollte sich die Methode als unzureichend oder ungeeignet erweisen. Goal-Pull hat eher den Anspruch, soziales Wohlbefinden und Umweltschutz zu fördern als eine Erfindung oder Entdeckung zu etablieren. Die ständige Überprüfung, ob der gewählte Ansatz diesem Ziel näherkommt, ist ein elementarer Bestandteil von Goal-Pull und sorgt dafür, dass Fehler zum Lerneffekt beitragen. Wenn Versprechen des Technology-Push-Ansatzes nicht erfüllt werden, ist dies oft eine Sackgasse, die keine Entwicklung mit sich bringt. Ein Ziel zu setzen, das auch einen gesellschaftlichen Nutzen hat, ermöglicht es hingegen, den Wert einer Biotechnologie zu bestimmen. Goal-Pull-Lösungen sind nicht an technologische Innovation gebunden, sondern können auch aus sozialen Innovationen hervorgehen.

Debatte um Deregulierung in der EU

Die von Heinemann und Hiscox skizzierten Ansätze lassen sich ungefähr auf die Positionen innerhalb der aktuellen Debatten um eine mögliche Deregulierung von NGT in der EU anwenden. Hier gehen die Argumentationslinien auch von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus, sind daher sehr unvereinbar und werden auf diese Weise schwerlich zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Diese Unvereinbarkeit der Ansätze ist der zentrale Konflikt der Debatte. Nachfolgend sollen am Beispiel von Nahrungsmittelknappheit und Maßnahmen zur Klimawandelanpassung der Landwirtschaft einige Argumentationsmuster aufgezeigt werden, die selbstverständlich nicht alle Facetten der Debatten einfangen können. Befürworter*innen einer Deregulierung von NGT argumentieren beispielsweise, dass die Technologie eine Lösung für das Problem der Nahrungsmittelknappheit sein kann. Sie sind der Meinung, dass vor allem Pflanzen mit CRIPSR-Cas so verändert werden können, dass sie beispielsweise Eigenschaften ausbilden, die angesichts der zunehmenden Klima- und Ernährungskrise hilfreich sein können.2 Eine Pflanze, die bei Trockenheit (Wassermangel) und hohen Temperaturen keine oder weniger Ertragseinbuße zeigt, sei vorteilhaft angesichts der prognostizierten globalen Temperaturerhöhung. Eine Erhöhung der Stresstoleranz sei laut Befürworter*innen von NGT eine gute Möglichkeit, eine schnelle und relativ einfache Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel zu ermöglichen. Auch eine Toleranz gegenüber Salzstress von Pflanzen in küstennahen Anbausystemen in Angesicht eines steigenden Meeresspiegels könne mithilfe des Genome Editings möglich sein. So sollen Hungerkrisen in Regionen, die besonders unter dem Klimawandel leiden, gelindert oder sogar verhindert werden.

Verteilungsprobleme statt Nahrungsmittelknappheit

Laut einigen Skeptiker*innen sei das Argument, mithilfe der NGT ließe sich der steigenden Weltbevölkerung und ihrem Bedarf an Nahrungsmitteln in Zeiten des Klimawandels begegnen, nichts weiter als ein leeres Versprechen. Hunger habe vornehmlich mit Armut zu tun und diese werde bekanntermaßen durch Verteilungsungerechtigkeiten hervorgerufen. So dient zum Beispiel ein Großteil der Getreideernten gar nicht der menschlichen Ernährung, die in der EU nur 23 Prozent ausmacht3 , sondern wird als Tierfutter oder als Biosprit verwendet oder aufgrund von Lebensmittelverschwendung gar nicht genutzt. Daher würden nicht unbedingt mehr Nahrungsmittel benötigt, sondern hochwertigere und gesündere1 , die tatsächlich bei den Bedürftigen ankommen. Skeptiker*innen einer Deregulierung bzw. der NGT allgemein meinen also, dass das Problem nicht die Knappheit von Lebensmitteln ist, sondern in erster Linie deren Verteilung. Aber auch in der Entwicklung neuer Pflanzen mithilfe der NGT sehen viel Skeptiker*innen große Unsicherheiten. So sei nicht genau bekannt, wohin sich das Klima verändert und ob dies stabil bleibe. Wir hätten es vielmehr mit unregelmäßigen Veränderungen und Wetterextremen zu tun, die schlecht vorherzusagen seien. Die Konzentration auf einzelne Pflanzeneigenschaften sei keine Antwort auf diese Unvorhersagbarkeit. Eine andere Herausforderung sei, komplexe Eigenschaften wie Stresstoleranz zu verändern, weil diese meist über eine Vielzahl von Genen gesteuert werde. Die oben genannten Versprechen auf eine funktionierende Technologie werden oft als nicht ausreichend und schnell genug eingeschätzt, um beispielsweise die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals), zu denen auch die Reduktion von Hunger und Maßnahmen zum Klimaschutz gehören, in der Kürze der Zeit zu erreichen.4 Stattdessen solle lieber auf unterschiedliche, bewährte und lokale Lösungen und Unabhängigkeit, beispielsweise in der Saatgutverfügbarkeit, gesetzt werden. Beide Positionen definieren also jeweils eigene Ziele, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Die vermeintlichen Lösungen sind zwar in sich selbst schlüssig, solange sich ihre Prämissen als zutreffend erweisen, gehen aber in unterschiedliche Richtungen.

Wissenschaft oder Wertvorstellungen?

Um zurück zur Debatte des (de-)regulierten Inverkehrbringens von GVO aus NGT zu kommen, schauen wir uns final noch an, wie diese Positionen in der Öffentlichkeit sichtbar werden. Was beide Positionen – pro oder kontra Deregulierung von NGT – eint, ist, dass sich einige Argumente wissenschaftlich belegen lassen, während andere eine Frage von Wertvorstellungen sind. Allerdings herrscht hier ein Ungleichgewicht in der öffentlichen Darstellung der Positionen von Befürworter*innen und Skeptiker*innen der Deregulierung. Letztere werden häufig mit Gentechnikgegner*innen allgemein gleichgesetzt, welche als uninformiert und sogar innovations- und wissenschaftsfeindlich dargestellt werden.5 Auf diese Weise muss nicht auf wissenschaftliche Bedenken eingegangen werden, sondern es soll, wie zum Beispiel in der MAITHINK X Show6 , der Angst vor „der bösen Gentechnik“ durch Bildung beigekommen werden. Skeptiker*innen der Deregulierung werden demnach nicht differenziert betrachtet, sondern als Meinungsmacher*innen hingestellt, während die Befürworter*innenseite die Position der neutralen Wissenschaftler*innen besetzt2 oder medial zugesprochen bekommt. Erstere Position ist für Wissenschaftler*innen potenziell rufschädigend, was dazu führt, dass einige Wissenschaftler*innen sich eher mit Äußerungen zurückhalten. So ist es umso leichter, ein Narrativ der geeinten Wissenschaft zu konstruieren, dass die Deregulierung nicht nur für angebracht, sondern als notwendig postuliert, um den Herausforderungen der Zeit gewachsen zu sein.
Es gibt jedoch durchaus Wissenschaftler*innen, die sich gerade wegen ihrer Expertise im Bereich Genetik/Molekularbiologie, aber eben auch (Agrar-) Ökologie, Sozioökonomie und Toxikologie, kritisch gegenüber einer Deregulierung äußern. Sie sind der Meinung, dass eine Zulassung ohne ausreichende Forschung und zugängliche Daten unwissenschaftlich sei. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, Argumente gegeneinander abzuwägen und zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht in Stein gemeißelt, sondern nur solange gültig, bis weitere, überzeugende Belege die Gültigkeit der ersten Hypothese in Frage stellen (Falsifizierungsprinzip). Der oben aufgezeigte Konflikt hingegen besteht, weil von unvereinbaren Ansätzen (Technology-Push und Goal-Pull) ausgegangen wird und nicht, weil der einen Seite die (natur-) wissenschaftliche Grundlage fehlt. Im Gegenteil, Goal-Pull hat möglicherweise sogar eine breitere Palette an wissenschaftlichen Disziplinen im Blick.

Die unterschiedlichen Funktionen von Wissenschaft und Politik

Die Aneignung der Deutungshoheit darüber, was wissenschaftlich ist, überschätzt im Beispiel der beschriebenen Debatte bestenfalls die eigene Sprecher*innenrolle und missachtet lediglich aus Nachlässigkeit das Prinzip der Falsifizierbarkeit. Im schlimmsten Fall instrumentalisiert sie den Wissenschaftsbegriff zur Durchsetzung eigener (finanzieller oder weltanschaulicher) Interessen. Wenn wir uns an den Goal-Pull-Ansatz von Heinemann und Hiscox1 halten, müsste ein gesellschaftliches Ziel definiert werden. Die Umsetzung dieses Ziels ist aber nicht die Aufgaben der Wissenschaft, sondern die der Politik. Wissenschaftler*innen und Politiker*innen haben aus guten Gründen unterschiedliche Aufgaben. Im besten Fall haben Politiker*innen das zivile Wohl im Blick und sollten die Einführung technischer Innovation mit potenziellen, meist unerforschten Risiken gegen den wahrscheinlichsten Nutzen abwägen. Der europäische Gerichtshof hat 2018 mit der Beibehaltung des Vorsorgeprinzips genau dies gefordert. Es bleibt abzuwarten, wie sich die EU-Kommission in diesem Jahr dazu positionieren wird.

  • 1 a b c Heinemann, J. A./Hiscox, T. C. (2022): Rethinking the drivers of biotechnologies: A paradigm for holistic climate change solutions. In: Current Opinion in Environmental Sustainability, www.doi.org/10.1016/j.cosust.2022.101222.
  • 2 a b Pressemitteilung Deutsche Forschungsgemeinschaft (20.02.2023): Neue Züchtungstechniken von Pflanzen tragen zur Bewältigung der Klima-, Biodiversitäts- und Ernährungskrise bei. Online: www.kurzelinks.de/gid265-cb [letzter Zugriff: 15.02.23].
  • 3Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (2021): Bericht zur Markt- und Versorgungslage - Getreide 2021. Online: www.kurzelinks.de/gid265-cf [letzter Zugriff: 22.02.23].
  • 4Hüdig, M./Laibach. N./Hein, A.-C. (2022): Genome Editing in Crop Plant Research–Alignment of Expectations and Current Developments. In: Plants, www.doi.org/10.3390/plants11020212.
  • 5Foodtank (o.D.): The GM Labeling Law to end all Labeling laws. Online: www.kurzelinks.de/gid265-ce [letzter Zugriff: 20.02.23].
  • 6MAITHINK X (27.03.2022): Grüne Gentechnik. Online: www.kurzelinks.de/gid265-cd [letzter Zugriff: 20.02.23].
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
265
vom Mai 2023
Seite 21 - 23

Cordula Gutekunst ist Biologin und Mitarbeiterin des GeN.

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