Suche nach dem Homo-Gen
Kontroverse über verantwortungsvolle Wissenschaft
Eine aktuelle molekulargenetische Studie hat sich mit der biologischen Ursache menschlicher Homosexualität beschäftigt. Während einige die Ergebnisse begrüßen, sind die Zweifel an dem Sinn solcher Studien auch im Wissenschaftsbetrieb ungewöhnlich laut.
Pride Parades weltweit fordern immer wieder gleiche Rechte für LGBTQI*-Personen. Foto: Oleena Mak (CC BY 2.0)
Ende August wurde die bisher größte genetische Forschungsarbeit veröffentlicht, in der homosexuelles Verhalten beim Menschen untersucht wurde. In ihrem Artikel im renommierten Fachmagazin Science stellten Wissenschaftler*innen verschiedener internationaler Institutionen ihre Auswertung von Datensätzen von knapp 500.000 Menschen vor.1 Möglich war dies durch den Zugriff auf die UK Biobank, deren Proband*innen einen Querschnitt der britischen Gesellschaft repräsentieren sollen. Durch die Kooperation mit der Gentest-Firma 23andMe konnte zusätzlich auch auf deren Kund*innendaten zugegriffen werden. Mitarbeiter*innen der Firma, die wissenschaftlich fragwürdige Gentests im Internet anbietet, schrieben auch am Manuskript mit.
Die Hauptbotschaft der über 20 Autor*innen: Es gibt das eine „Homo-Gen“ nicht, das Anfang der 1990er-Jahre von dem US-amerikanischen Genetiker Dean Hamer gefunden wurde. Stattdessen sollen fünf verschiedene Genvarianten zusammen gleichgeschlechtliches Sexualverhalten beeinflussen. Die Autor*innen verrechneten diese Genvarianten zu einem „polygenischen Score“ um der Hypothese gerecht zu werden, dass viele Genvarianten, deren Effekte allein sehr klein sind, gemeinsam eine Eigenschaft beeinflussen. Der Einfluss dieses Scores auf das Sexualverhalten lag innerhalb der untersuchten Gruppe laut der Autor*innen zwischen 8 und 25 Prozent.
Für das einzelne Individuum bedeutet dieses Ergebnis jedoch erst mal nichts. Schließlich handelt es sich nur um eine statistische Korrelation innerhalb einer Gruppe. Weder ließ der errechnete Score Vorhersagen für Menschen zu, noch bedeuten die statistischen Zusammenhänge Kausalbeziehungen zwischen den betreffenden Genen und Homosexualität. Das stellen die Autor*innen jedoch anders dar. Die Autor*innen interpretieren die Tatsache, dass die betreffenden Gene mit Eigenschaften wie Geruchssinn und der Regulation von Sexualhormonen korrelieren, als Hinweis auf die zugrunde liegenden biologischen Mechanismen die Sexualverhalten beeinflussen. Laut ihren Analysen waren die Genvarianten zudem mit risikofreudigem Verhalten und Offenheit für neue Erfahrungen assoziiert. Sie unterschlagen bei dieser Erzählung, dass auch eine Reihe von anderen statistischen Zusammenhängen gefunden wurde. Für Eigenschaften, die intuitiv dem gesellschaftlichen Klischee von Homosexualität weniger entsprechen – darunter höheres Körpergewicht, weniger Käsekonsum und mehr Solariumsbesuche.2
Wissenschaftsinterne Kontroverse
Den größtenteils US-amerikanischen Studienautor*innen war klar, dass es bei der Erforschung von biologischen Grundlagen von Homosexualität um ein vorbelastetes Thema geht. Die gesellschaftliche Gleichstellung von LGBTQI*-Personen3 ist so gut wie überall auf der Welt noch nicht erreicht. In den USA gibt es einen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung, beispielsweise am Arbeitsplatz, nicht in allen Bundesstaaten. Gleichzeitig schreiben die Autor*innen, dass es „eine lange Geschichte des Missbrauchs von genetischen Ergebnissen für soziale Zwecke“ gibt. Die Veröffentlichung wurde daher mit Workshops begleitet, in welchen die Ergebnisse mit der nötigen Sensibilität vorgestellt werden sollten. Dieses Vorgehen ist das Resultat einer monatelangen Diskussion um das Forschungsvorhaben innerhalb des Broad-Instituts, an dem das Projekt hauptsächlich durchgeführt wurde.4 Die gegensätzlichen Positionen bilden auch die Uneinigkeit der LGBTQI*-Community bezüglich Forschungsarbeiten dieser Art ab. Während die einen neue Möglichkeiten der Diskriminierung durch die Identifizierung von messbaren Biomarkern befürchten, hoffen die anderen auf mehr Akzeptanz durch das Auffinden einer biologischen Erklärung von Homosexualität.
Mehr potenzieller Schaden als Nutzen
Steven Railly, Vorstandmitglied einer LGBTQI*-Gruppe am Broad-Institut sagte gegenüber der New York Times (NYT) er lehne die Publikation der Studie zutiefst ab. Dagegen erhoffte sich der ebenfalls schwule Studienautor Benjamin Neale gegenüber der NYT, dass Wissenschaft Menschen darüber aufklären könne, „wie natürlich und normal gleichgeschlechtliches Verhalten“ sei. Um die Kontroverse transparent zu machen, veröffentlichte das Broad-Institut in einem ungewöhnlichen Schritt auf seiner Webseite begleitende Kommentare von LGBTQI*-Mitarbeiter*innen, die das Projekt kritisch beleuchten. Der Wissenschaftler Joseph Vitti schreibt dort „als eine queere Person und Genetiker“, sei es für ihn schwierig, „die Motivation hinter der Studie zu verstehen“.5 Laut Vitti sollten Wissenschaftler*innen vorher den möglichen Nutzen und Schaden von Forschungsprojekten abwägen und auf dessen Durchführung verzichten, wenn der potenzielle Schaden größer sei. Für ihn liegt die Studie seiner Institutskolleg*innen deutlich auf der Seite von mehr potenziellem Schaden. Dass sie dennoch publiziert wurde, setzt Vitti in den Kontext des aktuellen Wissenschaftsbetriebs, in dem Publikationen in renommierten Journals und mediale Aufmerksamkeit mehr zählen als Ethik. Für die Studienverantwortlichen und das Broad-Institut ist das Projekt nach diesen Kriterien ein voller Erfolg: Die Publikation erschien in einem Top-Journal und erreichte mit 228 Zeitungsberichten und 10620 Erwähnungen auf Twitter eine enorm große Aufmerksamkeit (Stand: 10.10.2019).
Verantwortungsvolle Datennutzung?
Vitti hofft dennoch, dass der Streit Anstoß für eine größere Debatte über genetische Verhaltensforschung am Menschen sein wird. Spätestens seit 2017, seitdem die UK Biobank mit ihrem enormen Datenreichtum der internationalen Forschungs-Community zur Verfügung steht, werden kontinuierlich neue Studien dieser Art veröffentlicht. Durch die Fülle der Daten können Wissenschaftler*innen leicht vermeintliche genetische Ursachen für alle erdenklichen physischen und psychischen Eigenschaften untersuchen. Diese Projekte werfen auch die Frage auf, ob sie einen verantwortungsvollen Umgang mit den involvierten Proband*innen darstellen. Laut der aktuellen Studie haben alle der anonymen Proband*innen einen informed consent, eine informierte Einwilligung gegeben, die „von lokalen Ethikkomitees abgesichert“ sei. Doch ein Blick auf die Webseite der UK Biobank zeigt, dass die Teilnehmer*innen mit ganz anderen Forschungszielen gelockt wurden, der Firma biologisches Material und persönliche Daten zu überlassen.6 Ihr Beitrag soll vermeintlich dazu dienen „die Prävention, Diagnose und Behandlung von einer Vielzahl von schweren und lebensbedrohlichen Erkrankungen“ zu verbessern.5 Auch wenn man die Erforschung der genetischen Grundlage von Homosexualität entgegen der Einschätzung vieler Betroffener als ungefährlich bewertet – einen Beitrag zu medizinischen Innovationen leistet die aktuelle Studie sicher nicht.
- 1Ganna, A. et al. (2019): Large-scale GWAS reveals insights into the genetic architecture of same-sex sexual behavior. In: Science, 365, doi: 10.1126/science.aat7693.
- 2Jannsen, C. (2019): Study finds no gay gene. Was there one to find? In: Medium, 01.09.2019. Online: www.kurzlink.de/gid251_e oder www.medium.com [letzter Zugriff: 10.10.2019].
- 3LGBTQI* ist die englische Abkürzung für Lesben, Schwule, bisexuelle, transsexuelle, queere und intergeschlechtliche Personen. Das* repräsentiert alle anderen die sich als nicht heterosexuell und cis (als Gegensatz zu trans) identifizieren.
- 4Belluck, P. (2019): Many Genes Influence Same-Sex Sexuality, Not a Single ‘Gay Gene’. In: The New Yorck Times, 29.08.2019. Online: www.kurzlink.de/gid251_f oder www.nytimes.com [letzter Zugriff: 10.10.2019].
- 5a5bVitti, J. (2019): Opinion: Big data scientists must be ethicists too. In: Broadminded Blog, 29.08.2019. Online: www.kurzlink.de/gid251_d oder www.broadinstitute.org [letzter Zugriff: 10.10.2019].
- 6UK Biobank. Online: www.ukbiobank.ac.uk [letzter Zugriff: 10.10.2019].
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.
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