Mediziner als Biopiraten

Die „unsterblichen Zellen” der Henrietta Lacks

In der Biomedizin läuft nichts ­ohne sie: Körperteile jeder Art sind das Material der Forschung. Aber wie kommt man da ran?

Ihr gerade in Übersetzung erschienenes Buch zeigt moderne biomedizinische Forschung ungeschminkt. Doch zunächst einmal: Wer war überhaupt Henrietta Lacks?

Henrietta Lacks war eine schwarze Tabakarbeiterin. Im Jahr 1951 erhielt sie im Alter von 30 Jahren die Diagnose Gebärmutterhalskrebs und starb noch im selben Jahr. Sie hinterließ fünf Kinder. Ihr Arzt, George Otto Gey, entnahm seiner Patientin Zellen des Tumorgewebes und kultivierte daraus die erste „unsterbliche“ (permanente) Zelllinie für die wissenschaftliche Forschung. Die Zelllinie erhielt den Name HeLa. Weder Henrietta Lacks noch die Familienangehörigen wussten, dass ihre Zellproben fortan von der Forschung genutzt und für Experimente gebraucht wurden. Die HeLa-Zellen sind kommerzialisiert worden und kamen bei der Entwicklung der ersten Polio-Impfung zum Einsatz und wurden für die Entwicklung von Medikamenten gegen Leukämie, Parkinson und Grippe benutzt, ebenso wie bei der Erforschung der In-vitro-Fertilisation. Die Familie von Henrietta Lacks hat nie einen Cent gesehen und lebt in Armut.

War es Zufall, dass gerade die Zellen von Henrietta Lacks, einer schwarzen Frau aus Arbeiterverhältnissen, zur Berühmtheit gelangt sind?

Naja, erst einmal hätte es jeden treffen können. Wissenschaftler haben sich zu dieser Zeit - als die Labore weltweit darum wetteiferten, menschliche Zellen in der Petrischale zu züchten - ohne Skrupel bei den Patienten bedient. Nehmen Sie das Beispiel John Hopkins, ein renommiertes Krankenhaus in Baltimore: Bedürftige werden dort umsonst behandelt. Natürlich war Henrietta deswegen froh, weil sie sich sonst eine Behandlung nicht hätte leisten können. Die unausgeprochene Haltung der Ärzte war allerdings: „Die Bezahlung ist, dass wir unsere Forschung machen können.” Das war üblich so. Insofern war es kein Zufall: „Rasse” und Klasse sind von diesem Forschungssystem untrennbar. Henrietta war schwarz und arm - und deshalb Patientin in Hopkins.

Und Henrietta und ihre Familie konnten auch nicht ­verstehen, was da passiert...

Ja. Tatsache ist, dass Schwarze und Arme in einer solch segregierten Welt meist viel später in Behandlung kommen. Das ist ein Problem des Geldes aber auch der Bildung. In gewissem Sinn handelt das ganze Buch davon, dass Henrietta und ihre Familie - als arme Schwarze - keinen Zugang zu Bildung hatten. Teil der Ökonomie von Forschung ist deshalb auch die Familie von Henrietta. Sehen Sie: Die „DNA” ist heute überall. Im Fernsehen ist permanent die Rede davon. Henriettas Tochter Deborah dachte deshalb, dass die DNA genau das ist, was ihre Mutter einzigartig macht. Deshalb war sie auch überzeugt, dass in jeder einzelnen HeLa-Zelle immer noch etwas von ihrer Mutter lebt: die DNA in den Zellen. Das alles machte die Situation, dass weltweit mit den HeLa-Zellen gehandelt und geforscht wird, für Deborah und die Familie erst so unerträglich. Erst viel später erfuhr Deborah, dass die HeLa-Zellen keine normalen Zellen ihrer Mutter sind sondern Krebszellen, die ihre Mutter zerstört haben. Deborah wusste aber nicht einmal, wie man die richtigen Fragen stellt: „Was sind das für Zellen? Was machen Sie mit den Zellen?” Man kann diese Geschichte also nicht verstehen, ohne die Geschichte der Forschung an schwarzen Menschen als spezielle soziale Gruppe in den USA anzusehen. Wir in den USA haben diese Verbindung von Afroamerikaner-Sein und wissenschaftlicher Forschung. Anderswo ist das nicht anders, bloß hat jedes Land seine eigene Version dieses Problems.

Die Geschichte verdeutlicht auch, dass die ethische Grenzziehung bei der Beschaffung von Körpermaterial kein Problem ist, das der biomedizinischen Forschung äußerlich ist. Es ist ein Grundproblem und eine ständige Gefahr. Seit wann interessieren Sie sich für diese ­Fragen?

Ich habe mit 16 hautnah miterlebt, wie mein schwer erkrankter Vater an einer pharmakologischen Studie teilgenommen hat. Das war eine hoch emotionale Erfahrung: die Hoffnungen, Ängste... Außerdem wusste ich von meinem Vater, dass unsere Familie jüdischen Ursprungs ist und aus einem kleinen Dorf in Polen stammt. Meine direkten Verwandten konnten zwar dem Holocaust entgehen, aber dieser Hintergrund war wichtig für mein Interesse. Ich habe schon damals angefangen, alles zu lesen, ich war fasziniert von Wissenschaft, aber ich wollte auch die Geschichte verstehen: wie sich Wissenschaft in verbrecherische Wissenschaft verwandeln konnte.

Dazu passt, dass Sie in ihrem Buch die Wissenschaftler ohne die übliche Verklärung als ziemlich normale Leute zeigen, keine Spur von Forscherhelden und Ärztegöttern. Da gibt es visionäre Forscher und selbstlose Mediziner, aber auch plumpe Missgeschicke und schnöde materielle Interessen. Was sind ihre Schlussfolgerungen aus der Geschichte für unsere heutige Situation?

Die Anzahl an Materialsammlungen und Biobanken ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Im Jahr 1999 veröffentlichte die RAND Corporation einen Bericht (den ersten und bisher letzten seiner Art) mit einer „vorsichtigen Schätzung“: Danach waren allein in den Vereinigten Staaten mehr als 307 Millionen Gewebeproben von über 178 Millionen Menschen gelagert. Diese Zahl stieg dem Bericht zufolge jedes Jahr um mehr als 20 Millionen an. Es ist kein Geheimnis, dass Patienten nur selten gefragt werden. Aber erst jetzt sind diese Fragen stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Wissenschaftler selbst haben die Kommerzialisierung der Forschung in der Annahme betrieben, dass die Forschung dadurch schneller und effektiver arbeiten würde. Ohne spezialisierte Labore, die Zellen für spezielle Forschungszwecke züchten, kommt die Forschung halt nicht weit. Die Züchtung von solchen Zelllinien ist kompliziert, das kann nicht jeder. Dann hat die Kommerzialisierung aber ein immer größeres Ausmaß angenommen. Es gibt jetzt mehrere Fälle, die vor Gericht verhandelt werden, das Brustkrebsgen BRCA ist nur ein Fall, es gibt auch Urteile zu verschiedenen Zelllinien. Diese Urteile schlagen ein neues Kapitel auf. Ich glaube, es wird sich einiges ändern. Die Wissenschaftler selbst spielen dabei eine wichtige Rolle. Vor 60 Jahre meinten sie, dass sie die Kommerzialisierung brauchen; heute stellen sie letztendlich fest: Ok, das geht zu weit, das wird fürchterlich.

Was ist die Rolle der Öffentlichkeit bei dieser ­Veränderung?

Die Öffentlichkeit kommt oftmals erst im zweiten Schritt. Wenn sich in der Wissenschaft große Änderungen ergeben haben, dann haben sie sich schon eine Weile vorher innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion angekündigt. Ich glaube, dass ist jetzt so ein Moment, wo diese innere Debatte von der Öffentlichkeit aufgegriffen wird und es nicht mehr vermieden werden kann, diese Diskussion zu führen. Wenn Sie mich fragen, dann ist vor allem wichtig, dass die Wissenschaftler fähig werden zu erklären, was und warum sie etwas machen. Das „informierte Einverständnis“ ist ein klarer Standard. Doch niemand hat versucht, der Familie von Henrietta Lacks auch nur in einem Wort irgend etwas zu erklären. Wäre das passiert, wäre die Geschichte anders gelaufen. Mit anderen Worten: Der Ärger der Menschen wäre nicht so groß, wenn das alles nicht hinter ihrem Rücken gemacht würde.
Interview und Übersetzung: Alexander v. Schwerin
Literatur: Henrietta Skloot: „Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks“, Irisiana-Verlag 2010.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
203
vom Dezember 2010
Seite 33 - 34

Rebecca Skloot ist freiberufliche Autorin mit Schwerpunkt auf Wissenschaft und Medizin. Ihr erstes Buch, "The Immortal Life of Henrietta Lacks" (2010), stand sechs Jahre lang auf der Bestseller-Liste der New York Times.

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