Übernimm Verantwortung für Dein Genom!

Die populäre Literatur zu Epigenetik boomt

Epigenetik ist der neue Hype: nicht nur in der Forschung. Ein Blick in die Ratgeberliteratur erkundet die neuen Wege der Selbstsorge und Prävention.

Die Epigenetik beschäftigt sich mit dem Einfluss der Umwelt auf die Genaktivität über biochemische Prozesse in der Zelle sowie mit den Mechanismen nicht-genetischer Vererbung. Drei kürzlich erschienene Bücher verdeutlichen, wie hoch die Erwartungen der öffentlichen Debatte an die noch junge Disziplin sind - und was die Anschlussmöglichkeiten. Dies fängt bei der Kritik des Darwinismus an und reicht über Ratschläge bezüglich Ernährungs- und Lebensweise bis zur Sozialpolitik.

Wider den inneren Schweinehund

Die Epigenetik erlebt zur Zeit einen populärwissenschaftlichen Boom. Verheißungsvoll ist die Idee, dass wir durch unser Verhalten das eigene Erbgut verändern und möglicherweise sogar Erfahrungen vererben können. Auch wenn diese Zusammenhänge wissenschaftlich in dieser Weise nicht belegt sind, kursieren bereits Ratschläge, was Jedermann und Jedefrau zur Optimierung ihres Erbgutes beitragen kann. „Viel Obst und frische Luft!“, so lautet zum Beispiel zusammengefasst das Fazit von Peter Spork, das er in seinem Buch „Der Zweite Code. Epigenetik - oder wie wir unser Erbgut steuern“ als Ratschlag den Lesern mit auf den Weg gibt. In seinen eigenen Worten klingt das so: „Die Botschaft der Epigenetiker: Wir sollten den inneren Schweinehund ein für alle Mal besiegen und uns endlich mehr bewegen, gesünder ernähren und mit unseren Kindern besonders liebevoll umgehen“ (S. 260).1 Gleichzeitig fordert Spork, ganz im Sinne familiärer Nachhaltigkeit, Verantwortung für die kommenden Generationen. Das müsse über die Sozialpolitik, die Gesetzgebung oder eben über den sanften Druck der Mitbürger geschehen: „Die Epigenetik an sich wird unser Leben aber schon bald tiefgreifend verändern. Gesundheitspolitiker werden Programme entwickeln, die werdende Eltern psychologisch, finanziell und ernährungswissenschaftlich unterstützen, damit ihre Kinder ein langes, gesundes Leben haben. Wer raucht, wird sich noch mehr als heute rechtfertigen müssen, weil er neben der eigenen Gesundheit auch das Wohlergehen seiner ungeborenen Kinder und Enkel gefährdet. Und manche Chemikalien, die derzeit weit verbreitet sind, werden verboten sein, weil sie die Epigenome unserer Zellen verändern“(S. 22).

Kreative Vererbung

Die Epigenetik ist jedoch nicht nur für Menschen interessant, die praktische Tipps für ihre Gesundheitspflege erhalten wollen. Die Epigenetik fordert auch alte Vorurteile über die Allmacht der Gene heraus. In den beiden Büchern von Joachim Bauer „Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus“2 und von Bernhard Kegel „Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden“3 wird im Kontrast zum Prinzip des Zufalls (bei Mutationen) und der Selektion (durch einen Vernichtungskampf) auf die Kreativität bei Vererbungsprozessen und die Formbarkeit bei der Ausprägung genetischer Veranlagungen hingewiesen. Das enge Korsett der Erbanlagen wird aufgebrochen. Während Bauer uns in die spannende Geschichte der menschlichen Evolution entführt, arbeitet sich Kegel in das Universum des Zellinneren mit seinen ausgeklügelten Vererbungsmechanismen vor.

Kooperation statt Gegensatz

Bauers Buch hat letztlich weniger mit Epigenetik zu tun als mit der Rolle der „Junk”-DNA (oder „Müll“-DNA). Seine These ist, dass sie eine wesentliche Rolle bei evolutionären Entwicklungssprüngen spielt. Die nichtkodierende „Müll“-DNA enthält Transpositionselemente, die einen Umbau des eigenen Genoms bewirken können und die vor allem durch Umweltstress aktiviert werden. Es handelt sich Bauer zufolge um zielgerichtete, auf die Umwelt bezogene Anpassungen des Genoms. Aus diesem Grund kam es im Evolutionsprozess nach langen Phasen der Stabilität zu wahren Revolutionen. Ein Beispiel ist die „kambrische Explosion“ vor 580 Millionen Jahren nach einer langen Phase vollständiger Erdvereisung, also nach massiven Veränderungen des Erdklimas: „Innerhalb von nur fünfzig Millionen Jahren - angesichts von über drei Milliarden Jahren bereits abgelaufener Evolution war dies eine extrem kurze Zeit - entstanden die Körperbaupläne für alles, was an Tieren (den heutigen Menschen eingeschlossen) bis zum heutigen Tage nachfolgen sollte“ (S. 62f). Bauers These: Das Genom ist nicht einfach nur Befehlsgeber, sondern kommunikativ und fähig, auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Nicht das Recht des Stärkeren zählt, sondern Kooperation und Vielfalt. Damit zielt Bauer letztlich auf ein solidarisches Menschen- und Gesellschaftsbild. Kegel folgt einer ähnlichen Intention. Auch er will alle, „die den genetisch determinierten Konkurrenzkampf aller gegen alle als konstitutives Merkmal ihrer Welt verinnerlicht haben“ von der Vorstellung entbinden, sie könnten dem Schicksal ihrer Gene nicht entrinnen (S. 317). Auch Kegel versäumt nicht, seine Gedanken über mögliche gesellschaftspolitische Konsequenzen mitzuteilen: „Wie die menschliche Gesellschaft mit diesen Veränderungen umgehen wird, muss sich erst noch zeigen. Zweifellos würde dem Individuum eine weit größere Verantwortung aufgebürdet als früher“, sollte eine Vererbung im Sinne der epigenetischen Prägung möglich sein (S. 314).

Neurobiologische Schnittstelle

Wir beeinflussen mit unserem Verhalten nicht nur unsere epigenetische Prägung. Es geht auch umgekehrt: Die epigenetische Prägung beeinflusst auch unser Verhalten. Damit besteht eine Verbindung zu neurobiologischen Theorien über Verhaltensdispositionen. Und eine solche Verbindung stellen nicht nur die hier besprochenen Bücher her. In populärwissenschaftlichen Zeitungsartikeln kann man zur Zeit immer wieder über jene Studien lesen, in denen Rattenmütter die Hauptdarstellerinnen sind und die zeigen sollen, wie unser Verhalten durch Umwelteinflüsse erblich disponiert wird.4 Fürsorgliche Rattenmütter lecken ihre Kleinen und putzen ihnen das Fell. Rattenkinder, die in den ersten Tagen nach der Geburt weniger geleckt wurden, sind später stressanfälliger als ihre häufiger umsorgten Artgenossen (Kegel, S. 231-238; Spork, S. 97-110). Der eigentliche Punkt ist: Es gibt Anzeichen dafür, dass das fürsorgliche Verhalten abhängig von der Erfahrung weitervererbt wird und dies jenseits der genetischen Veranlagung: „Adoptivratten“ übernahmen bei ihrem eigenen Nachwuchs das Pflegeverhalten ihrer „Pflege“-Mutter. Molekulargenetisch gesprochen wird die zukünftige Fürsorglichkeit mit der Methylierung der Gehirnzellen festgelegt. Die Rückschlüsse, die Kegel sogleich auf den Menschen und sein Verhältnis zu seinen Kindern zieht, lauten: „Unwillkürlich stehen einem die erschreckenden Berichte über vernachlässigte Kinder vor Augen, die in den letzten Jahren durch die Presse geisterten“ (Kegel, S. 238). Und Spork meint in Hinblick auf den Einfluss von Stress während der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt auf die Stressresistenz des Nachwuchses: „Die Epigenetik lehrt [...] wie wichtig es gerade für ihre Kinder ist, dass auch die Eltern sich wohl fühlen und geistig wie körperlich halbwegs ausgeruht und gesund sind“ (Spork, S. 107). Als sozialpolitische Maßnahmen empfiehlt er Haushaltshilfen für alleinerziehende Mütter, extra Elternurlaub und eine Erhöhung des Kindergeldes (S. 109).

Epigenetische Verhaltensprävention

Ein weiteres Beispiel, das im Zusammenhang epigenetischer Verhaltenskontrolle gerne genannt wird, ist eine Studie zu Selbstmördern. Wie die Rattenexperimente ist diese Studie von der Forschergruppe um Michael Meaney an der McGill Universität in Montreal durchgeführt worden. Die McGill-ForscherInnen haben Gehirnzellen von Selbstmördern, die in ihrer Jugend missbraucht wurden, mit den Gehirnzellen von Selbstmördern verglichen, die von diesem Schicksal verschont geblieben waren. Es handelte sich dabei um Zellen aus dem Hippocampus, der für das Lernen und das Gedächtnis zentral ist. Und wer hätte es gedacht: Es zeigten sich epigenetische Unterschiede. Die Forscher schlossen, dass die Missbrauchsopfer in stärkeren Maße anfällig für gerade solchen Stress waren, der sich üblicherweise in Angst und Depressionen äußert. Kegel und Spork wiederum schließen aus der kanadischen Studie - trotz aller Vorsicht hinsichtlich der Vorläufigkeit der Befunde -, dass sich Erfahrungen körperlich-biochemisch in den Gehirnzellen manifestieren. Das soziale Umfeld hat ihrer Meinung nach Einfluss auf die Aktivität der DNA. Damit lässt sich, so die weiter führende Schlussfolgerung, über einen Einfluss auf das soziale Umfeld auch die Aktivität der DNA manipulieren. Noch stehen bei Kegel und Spork vor allem therapeutische Zukunftsvisionen im Vordergrund: Spork spekuliert, dass durch eine entsprechende Früherkennung und Therapie Selbstmorde verhindert werden könnten (S. 115); Kegel meint, dass man in Zukunft durch epigenetische Verhaltensprävention Krankheiten vorbeugen könnte (S. 242).

Epigenetische Zukunft?

Nach der Lektüre der drei Bücher wird klar: Die Epigenetik stellt die Genetik nicht in Frage, sie ergänzt sie. Bestechend ist der Gedanke, dass Gene sich in beständiger Kommunikation mit der Umwelt befinden und nicht unveränderlich diktatorisch die Merkmalsausprägung steuern. Diese Sichtweise unterläuft die alt hergebrachte Frage, ob es die Umwelt oder die Gene sind, die uns bestimmen. Es ist beides! Innerhalb der durch die Umwelt und genetische Veranlagung gesetzten Grenze wird der Grad menschlicher Freiheit erhöht. Es bleibt aber keine Zeit, sich dankbar zurückzulehnen: Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten bringen sogleich neue Verantwortlichkeiten mit sich. Bevor überhaupt ein Zusammenhang zwischen Verhalten, epigenetischer Prägung und Vererbung wissenschaftlich belegt ist und die Mechanismen genau erforscht sind, erstellen die Wissenschaftsvermittler schon wieder eifrig beflissene Verhaltensempfehlungen und Forderungen an die Politik. Zum Glück beziehen sich die epigenetischen Vorsorgeempfehlungen vorerst nur auf eine gesündere Lebensweise, einen stressfreieren Alltag und ein solidarischeres Menschen- und Gesellschaftsbild. Und fraglich ist überhaupt, ob für die Mehrheit der Bürger ihre genetische oder epigenetische Ausstattung für die eigene Lebensplanung je eine große Rolle spielen wird. Die Ausführungen von Kegel und Spork zeigen ganz gut, dass die Forderung nach persönlicher Verantwortung leicht zu handfestem sozialen Druck mutieren kann: seine Erbanlagen verbessern zu müssen. Im Übrigen wird der genetischen Diskriminierung durch all dies nicht das Tor verschlossen. Die Botschaft der epigenetischen Wende lautet: Jeder Mensch ist zwar Gärtner seiner Gene, nur haben manche eben ein besseres Land erwischt als andere.

  • 1Peter Spork: Der Zweite Code. Epigenetik - oder wie wir unser Erbgut steuern, Hamburg: Rowohlt Verlag 2009, ISBN 978-3-498-06407-5, 300 Seiten, 19,90 Euro.
  • 2Joachim Bauer: Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus, Hamburg: Hoffmann und Campe 2008, ISBN-10: 3-455-50085-4, 223 Seiten, 19,95 Euro.
  • 3Bernhard Kegel: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden, Köln: DuMont 2009, ISBN 978-3-8321-9528-1, 336 Seiten, 19,95 Euro.
  • 4Eine Analyse dieser Experimente findet sich auch im GID Spezial Nr. 8, 2008.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
199
vom Mai 2010
Seite 37 - 39

Birgit Peuker ist Soziologin und lebt in Berlin.

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Zentrale epigenetische Mechanismen und Faktoren

DNA-Methylierung

Kleine organische Moleküle (Methylgruppen) lagern sich in einem bestimmten Muster an die DNA an und fungieren damit als „Schalter“, um bestimmte Gene je nach Erfordernis zu aktivieren oder zu deaktivieren. Damit können sich Unterschiede in der Erscheinung (Phänotyp) trotz gleicher Erbanlagen (Genom) ergeben beziehungsweise Zellen im Körper unterschiedliche Funktionen übernehmen.

Histone

Histone sind Proteine, um welche die DNA aufgespult ist. Ihre räumliche Anordnung und Modifikationsmöglichkeiten haben dadurch Einfluss auf die Genaktivität, dass die DNA entweder locker oder fester gepackt und damit leichter oder schlechter abgelesen werden kann.

RNA-Interferenz

Mittels eines Systems aus kleinen RNA-Molekülen (micro-RNA) vermag die Zelle die Genaktivität zu steuern oder zu deaktivieren. Indem Boten-RNA-Moleküle ähnlich wie bei einer Immunabwehr gezielt dezimiert werden, wird die Produktion der entsprechenden Proteine gedrosselt.

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