Aufstand gegen den Tod

Befreiung durch Technik "extreme"

Die ‚Befreiung des Menschen’ ist ein zentrales Motiv emanzipativer und antikapitalistischer Bewegungen in der Moderne. Gelegentlich wurde Emanzipation dabei auch als Befreiung von den Zwängen der Biologie verstanden. Heute findet diese Spielart des Befreiungsdiskurses bei Technikfuturisten neue Anschlüsse, die ein ganz eigenes Licht auf blinde Flecke der Linken in punkto Technologiekritik werfen.

Das Projekt der Moderne ist ein Projekt der Emanzipation. Aber wer möchte sich in der heutigen Gesellschaft eigentlich von was emanzipieren? Und mit welchen Mitteln soll das geschehen? Eine marxistisch geprägte Zeit lang schienen die Antworten klar auf der Hand zu liegen. Als Subjekt der Emanzipation war das Proletariat vorgesehen, welches sich von der Herrschaft des Kapitals mit den Mitteln der Revolution befreien sollte. Heute, in unseren „postmodernen“ Zeiten, ist weniger klar, welche Formen von Freiheit und Gerechtigkeit man sich vorstellen und welche Mittel man dafür einsetzen will. Eine kleine Gruppe von Technikfuturisten hat für diese Fragen eine ebenso einfache wie radikale Antwort gefunden: Emanzipation ist für sie Human Enhancement, die technologische „Verbesserung“ des Körpers. Autoren wie der Soziologe James Hughes, der Philosoph Nick Bostrom oder der Unternehmer Ray Kurzweil verstehen sich selbst als Vordenker einer „transhumanistischen“ Bewegung, die den Menschen von seinen biologischen Schranken befreien will.1 Jeder sollte das Recht haben, Körper und Geist mit Medikamenten und medizinischen Eingriffen zu verändern, so die Vision; die Entwicklung entsprechender Technologien durch öffentliche und private Akteure wird gefordert. Offen werben Transhumanisten dabei mit utopischen Visionen: Das Ende des Alterns wird ebenso in Aussicht gestellt wie implantierte Gedächtnisspeicher („Brain Chips“) oder dauerhafte Glücksgefühle durch neuropharmakologische Manipulationen. All das wäre angeblich noch zu unseren Lebzeiten möglich, wenn man die technischen und sozialen Blockaden nur schnell genug aus dem Weg räumen würde.

Von der neoliberalen Selbst-Optimierung...

In den 1980ern und 1990er Jahren verband sich die Idee des biomedizinischen Enhancements eng mit libertärem und neoliberalem Denken. Vielen ihrer Anhänger ging es vor allem um ein „Enhancement für mich“ – was auch immer die „biokonservative“ Mehrheit davon halten mochte.2 Seit der Gründung der World Transhumanist Association (WTA) 1998 und dem Institute for Ethics and Emerging Technologies (IEET) werden transhumanistische Ideen aber zunehmend mit Hilfe klassischer linker, zumindest sozialdemokratischer Argumentationsmuster verbreitet.3 Neben die Forderung nach einem individuellen Recht auf Enhancement (im Sinne einer Abwesenheit gesetzlicher Verbote) treten zunehmend auch soziale Gleichheits- und Gerechtigkeitserwägungen. „Enhancement für alle!“ heißt das neue Leitmotiv. So geht es beispielsweise darum, wie der Zugang zu Enhancements egalisiert werden kann oder wie die entsprechenden Technologien zum Empowerment unterprivilegierter Gruppen beitragen, etwa durch medikamentöse Intelligenzsteigerungen. Nicht zuletzt wird damit der Enhancement-Diskurs von den Ob- zu den Wie-Fragen gelenkt. Man ist daher leicht geneigt, das als Diskursstrategie abzutun, die sich Emanzipationssemantiken nur instrumentell bedient, um technikfuturistische Visionen zu vermarkten und die soziale Basis zu verbreitern. Immerhin hat die WTA nur zirka 5.000 Mitglieder – und die meisten dieser „Mitglieder“ sind de facto Newsletter-Abonnenten, die die Organisation weder finanziell noch praktisch unterstützen.

... zur transhumanen Demokratie

Ein Blick auf tonangebende Organisationen und Ideologen zeigt aber, dass es sich nicht nur um rhetorische Manöverübungen handelt. So wurde die WTA 1998 von den Philosophen Nick Bostrom und David Pearce als „sozialdemokratische“ Alternative zum libertären „Extropy Institute“ gegründet. Ex-WTA-Direktor James Hughes arbeitet in seinem Buch „Citizen Cyborg“ die Vision eines sozialdemokratischen Wohlfahrtstaates aus, der durch Enhancement Ungleichheiten zu minimieren versucht und die Investition in entsprechende Technologien als eines seiner Primärziele versteht. Für diese „transhumane Demokratie“ wäre ein gesicherter Zugang zu Optimierungstechniken für alle Bürger ebenso selbstverständlich wie eine flächendeckende Gesundheitsversorgung. Die Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen und die Befreiung von Einschränkungen durch die biologische Natur sind hier zwei Seiten derselben Medaille. So sieht Hughes im Enhancement auch den Schlüssel zu Gleichheit, Autonomie und Befreiung. Er schwärmt von unvorstellbarer „Kontrolle über unsere derzeit noch unbewussten Reaktionen“. In seinem utopischen Enhancement-Staat sind „die uns eingeschriebene Unterwerfung unter Hierarchien, unsere Süchte und selbstzerstörerischen Verhaltensweisen, die Manipulationen durch Werbung, charismatische Autoritäten und soziale Anerkennung“ überwunden. „Indem wir uns und unsere Persönlichkeiten von diesen Ketten lösen, werden wir die Welt befreien.“4

Gegen die Herrschaft der Natur

Wie ist diese wechselseitige Anschlussfähigkeit von Technikfuturismus und sozialen Befreiungsideen zu deuten? Historisch war das Verhältnis der Linken zur Technik seit jeher von Ambivalenz bestimmt. Es gibt ideengeschichtliche Vorläufer, in denen die Technik selbst als Mittel zur Emanzipation betrachtet wurde. Und zwar auch und gerade als Königsweg zur Befreiung von den Zwängen der Natur. So verkündet etwa Leo Trotzki den körperlichen und geistigen Umbau des Menschen durch Techniken der Selbstkontrolle als nächsten logischen Schritt der Revolution. Der Mensch, schreibt Trotzki, würde doch nicht „aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen vieren zu kriechen“, nur um dann vor der finsteren Herrschaft der Natur „demütig zu kapitulieren“.5 Immer dann, wenn Emanzipation nicht nur als Emanzipation von sozialen, sondern auch von natürlichen Zwängen verstanden wird, ist die Grundlage für technikfuturistische Denkkollektive geschaffen, die sich eine „Befreiung des Körpers“ auf die Fahnen schreiben. Ein instruktives Beispiel dafür sind die „Biokosmisten“ im nachrevolutionären Russland der 1920er Jahre. Diese anarchistische Gruppierung setzte sich das utopische Ziel einer Befreiung aller Menschen von allen Zwängen. „Das höchste Gut ist das unsterbliche Leben im Kosmos. Das größte Übel ist der Tod“, schreibt etwa Aleksandr Svjatogor 1922. Das Ziel sei deshalb Unsterblichkeit, die „erkämpft, verwirklicht, erschaffen werden“ müsse. Die endgültige Einlösung dieser Hoffnung wäre aber nicht auf der Ebene des Politischen, sondern vielmehr auf der Ebene des Körpers zu erreichen. Vorraussetzung dafür sei der kollektive Kampf um physische Unsterblichkeit und die technologische Entgrenzung des Körpers: „Der Kampf für die individuelle Unsterblichkeit, für das Leben im Kosmos, ist der Wille aller. Gleichzeitig ist die Lokalisierung und Fixierung in der Zeit (der Tod) und im Raum nicht durch individuelle Anstrengungen zu überwinden. Daraus folgt die Notwendigkeit sozialer Solidarität. Nur die Einigkeit im großen Ziel garantiert den Sieg über den Tod und den kosmischen Raum.“6 Mit solchen Ideen standen die Biokosmisten nicht allein. Britische Sozialisten wie John Bernal und J.B.S. Haldane beispielsweise begriffen den eigentlichen Fortschritt der Menschheit als „biologischen Fortschritt“. Der größte Feind war für sie die blinde, irrationale Natur. Dieser „linksdarwinistische Futurismus“ wird nun ebenso wie der biokosmistische „Aufstand gegen den Tod“ im technikfuturistischen Milieu als genealogischer Anknüpfungspunkt wieder entdeckt.7 Es wäre trotzdem verfehlt, die heutigen Visionen als eben jene bruchlose Fortsetzung des sozialen Befreiungsdenkens zu betrachten, als die sie sich zum Teil selbst stilisieren. Für Enhancement-Utopisten kann gesellschaftliche Befreiung immer nur ein Etappenziel sein.8 Und oft genug treten soziale Emanzipationsbestrebungen und der liberale Kern des Enhancement-Projektes in Widerspruch zueinander. Wer „Enhancement für alle“ propagiert, muss eine Spaltung der technologisch „Optimierten“ und „Nicht-Optimierten“ zu vermeiden suchen. Wer aber primär nach individueller Selbstverbesserung strebt, nimmt auch gesellschaftliche Spaltungen in Kauf.

Neue Biopolitik

Es ist etwas zu einfach, in den Transhumanisten und verwandten Denkkollektiven nur ideologische Irrläufer zu sehen. Wenn das Streben nach Befreiung von den Zwängen der Natur eine Pathologie ist, dann ist es eine Pathologie der Moderne selbst. Es ist kein Zufall, dass soziale Befreiungsprojekte zum Teil Hand in Hand mit der Idee der Befreiung des Körpers von biologischen Einschränkungen daher kommen. Beide speisen sich aus dem Fortschrittsdenken der Aufklärung, in dem das Streben nach permanenter Möglichkeitserweiterung schon immer angelegt ist. Es ist somit auch kein Zufall, dass die konsequentesten Enhancement-Kritiker zugleich das „Projekt der Moderne“ selbst mit Skepsis beurteilen. In den USA, wo eine öffentliche Debatte um Enhancement-Visionen geführt wird, sind es vor allem modernitätskritische Kulturskeptiker, religiöse Gruppen und „Deep Ecology“-Anhänger, die als die entschiedensten Gegner der Transhumanisten auftreten. Wer hingegen das Projekt der Moderne grundsätzlich akzeptiert, muss seine Kritik in viel stärkerem Maße konkretisieren und auf bestimmte Antinomien der Enhancement-Visionen hinweisen. Es verwundert nicht, dass der bekannteste deutsche Enhancement-Kritiker, Jürgen Habermas, seine Kritik letztlich auf genetische Optimierungstechniken beschränkt. Da Habermas aber zugleich am Projekt der Moderne als einer „Emanzipation von den Zwängen der Natur und der Gesellschaft“ festhält, geht seine Kritik der „liberalen Eugenik“ am utopischen Kern von Enhancement-Visionen eigentümlich vorbei.9 Dieser utopische Kern ist von konkreten Technologien weitgehend unabhängig. So ist die liberale Eugenik unter Technikfuturisten wie den Transhumanisten kaum ein Thema. Sie erhoffen sich Optimierungsmöglichkeiten, die nicht erst zukünftigen, sondern bereits gegenwärtigen Generationen zuteil werden sollen. Sicher, viele Enhancement-Utopien werden technisch auf lange Sicht unmöglich bleiben. Aber utopische Ziele sind dennoch keine folgenlosen Spinnereien. Sie waren immer schon Antriebsfedern gesellschaftspolitischer Bestrebungen.10 Und auch wenn radikalere Enhancement-Ideen auf technikfuturistische Milieus beschränkt bleiben mögen, so liegt die generelle Anschlussfähigkeit dieser Visionen in einer Gesellschaft, die soziale Probleme zusehends medikalisiert, auf der Hand. Die politischen Kämpfe der Zukunft werden daher nicht zuletzt biopolitische Kämpfe sein. Vieles könnte dabei davon abhängen, wer die Definitionsmacht über Begriffe wie Emanzipation und Befreiung erringen beziehungsweise verteidigen kann.

  • 1Texte von Ray Kurzweil wurden auch ins Deutsche übersetzt, etwa: Homo S@piens. Leben im 21. Jahrhundert - was bleibt vom Menschen, Köln 1999. Vgl. auch Frank Schirrmacher (Hg.): Die Darwin-AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001.
  • 2Mit „Biokonservatismus“ bezeichnen Enhancement-Befürworter das Denken ihrer Kritiker. Vgl. Sascha Dickel: Steuerung oder Evolution. Enhancement als biopolitischer Konflikt, in: Karl S. Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2008, S. 2314–2325.
  • 3Die WTA wird von Wissenschaftlern und Philosophen getragen und hat Sektionen in verschiedenen Nationen. Aktivitäten bestehen hauptsächlich in Öffentlichkeitsarbeit und der Ausrichtung internationaler Konferenzen (www.transhumanism.org). Das IEET hat nur wenige feste Mitglieder, die zumeist auch in der WTA tätig sind. Es publiziert das „Journal of Evolution and Technology“ und veröffentlicht auf der Website regelmäßig Artikel und Stellungnahmen (www.ieet.org).
  • 4James Hughes: Citizen Cyborg. Why democratic societies must respond to the redesigned human of the future, Cambridge 2004, S. 200. Übersetzung S.D.
  • 5Lev Trockij (1923): Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst, in: Boris Groys, Michael Hagemeister (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005, S. 420.
  • 6Aleksandr Svjatogor (1922): Die Doktrin der Väter und der Anarcho-Biokosmismus, in: Groys/ Hagemeister 2005, S. 402–404.
  • 7Hagemeister, Michael: „Unser Körper muss unser Werk sein“. Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts, in: Groys/Hagemeister 2005, S. 19-67.
  • 8Vgl. Rolf Steltemeier, Sascha Dickel, Sandro Gaycken, Tobias Knobloch (Hg.): Neue Utopien. Interdisziplinäre Perspektiven zum Wandel eines Genres, Heidelberg 2009.
  • 9Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 68. Zur Kritik der „liberalen Eugenik“ vgl. ders.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2005.
  • 10Die US-amerikanische Converging-Technologies-Initiative etwa räumt Enhancement-Technologien eine Schlüsselstellung ein. Der Traum von individueller und kollektiver Befreiung geht hier scheinbar bruchlos in die Vision des technisch optimierten Soldaten über, vgl. www.wtec.org/ConvergingTechnologies.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
193
vom April 2009
Seite 21 - 23

Sascha Dickel ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er befasst sich gegenwärtig mit wissenschaftlichen Zukunftsperspektiven und utopischen Diskursen.

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