Biologisierung der Armut?
Einführung
Soziale Ungleichheit gibt es nicht erst seit der Entstehung des Kapitalismus. Aber ist sie deshalb etwas, das menschliche Gesellschaften zwangsläufig - geradezu naturhaft - auszeichnet?
Zwischen 14 und 16 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik gelten derzeit als arm oder von Armut bedroht. Das sind 12 bis 13,5 Millionen Menschen, die laut Definition „mit weniger als 60 Prozent des mittleren Haushalts-Nettoeinkommens der Gesamtbevölkerung auskommen müssen“.1 Inwiefern diese Zahlen die Realität ausreichend wiedergeben, muss dahingestellt bleiben, denn sie sind dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung entnommen. Hier werden Zahlen in der Regel gern in einer Form präsentiert, die Erfolge der Politik belegen soll, und so ist Skepsis angebracht. Unklar bleibt in dem Bericht zum Beispiel, in welchem Verhältnis die behauptete Anzahl von Armen zu den rund fünf Millionen Menschen steht, die für ihre Arbeit geringfügig entlohnt werden.2 Oder zu den 4,5 Millionen, die auf das Arbeitslosengeld II (ALG II) angewiesen sind. Oder zu den etwa sieben Millionen, die Grundsicherung beziehen, weil sie aufgrund ausgebliebener Beschäftigungsverhältnisse oder fehlender Erwerbsfähigkeit keinen Anspruch auf ALG II haben.1 Aber nicht nur nach Angaben, die Aufschluss über soziale Folgen der neoliberalen Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahrzehnte geben könnten, sucht man in dem Bericht vergebens. Seine Statistiken stellen zwar Zusammenhänge zwischen Einkommen, Beschäftigung, Bildung oder Herkunft her, aber sie bilden das Ausmaß nicht ab, in dem Armut heute mit sozialer Ausgrenzung verknüpft ist. Dabei ist der Wind, der Armen und von Armut Bedrohten entgegenweht, deutlich rauer geworden. Davon wissen nicht nur Menschen ein Lied zu singen, die Erfahrung mit der „Politik des Forderns und Förderns“ gemacht haben, weil sie sich mit den Zumutungen herumschlagen mussten, die die so genannten Hartz-IV-Gesetze für die Verwaltung der Armen installiert haben. Auch den meisten anderen sitzt die Angst im Nacken. Denn die Trennlinie zwischen denen, die dazugehören und denen, die herausfallen aus der Gesellschaft, wird zunehmend schärfer, auch weil sich - in Zeiten von Ich-AG und individuellem Selbstmanagement - die Vorstellung ausbreitet, letztlich sei jedeR selbst Schuld am eigenen Erfolg oder Misserfolg. Eine gesellschaftliche Atmosphäre ängstlicher Abgrenzung ist es, die biologisierenden Polemiken wie der eines Thilo Sarrazin Raum verschafft, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen Arbeitsunfähigkeit oder Bildungsferne genetisch angelegt sehen. In Anbetracht dieser Atmosphäre scheint es auch kaum verwunderlich, dass in den Lebens- und Sozialwissenschaften die alte Diskussion um das Verhältnis zwischen Biologie und sozialer Schichtzugehörigkeit wieder auflebt. Im vorliegenden Schwerpunkt beschäftigen wir uns mit dem vielschichtigen Verhältnis zwischen Ausgrenzung und der sowohl gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Tendenz, sie biologisch zu begründen - und zwar von ganz verschiedenen Seiten: Friederike Habermann nimmt die Debatte der 2000er Jahre, in der Unterschicht und Übergewicht miteinander verknüpft wurden, zum Anlass, sich genauer anzuschauen, welche Rolle Körpernormen und biologische Merkmale heute für den Ausschluss von beziehungsweise die Zugehörigkeit zur Gesellschaft spielen und warum. Börge Schmidt und Jörg Niewöhner beschäftigen sich mit dem Beitrag von Genomforschung und Molekulargenetik zum gesellschaftlichen Verständnis von Armut und Ungleichheit. Während Niewöhner die für molekulare Forschungsansätze charakteristischen Verkürzungen und falschen Analogien in seinem Beitrag diskutiert, beschäftigt sich Schmidt mit der Erklärungskraft genetischer Faktoren für den Zusammenhang von Armut und Krankheit. Beide Autoren sind sich darin einig, dass Einmischung in die Debatten um biologische Voraussetzungen sozialer Ungleichheit unbedingt notwendig ist, sollen Armut und Ungleichheit nicht der Biologisierung anheim fallen. Dass das nicht das erste Mal wäre, zeigt Dirk Stegemann in seinem Beitrag zur Verfolgung von als „asozial“ oder „arbeitsscheu“ stigmatisierten Menschen im Nationalsozialismus und zur Ignoranz der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften gegenüber dieser Opfergruppe. Im Interview mit Stegemann und Lothar Eberhardt vom AK Marginalisierte Gestern und Heute geht es dann unter anderem darum, welche Bedeutung solche Stigmata heute - gerade für die Arbeits- und Sozialpolitik - haben. Wie heißt es so schön in der Pressemitteilung der Bundesregierung zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht? Seine „Kernbotschaft“ bestünde darin, dass Arbeit „das wichtigste Mittel gegen Armut“ sei.
- 1a1bVgl. PM zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht, 06.03.13, im Netz unter www.bundesregierung.de oder www.kurzlink.de/gid220_q.
- 2Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, März 2013, S. XXV f. Einen Bruttostundenlohn „unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Stundenlohnes“ bezieht demnach - seit 2007 relativ konstant - mit rund 23 Prozent knapp ein Viertel der abhängig Beschäftigten. Vgl. ebda., S. XI.
GID-Redaktion