Rezension – Umstrittene Psychopharmakatests

An mindestens 3.000 Personen wurden im schweizerischen Münsterlingen zwischen 1940 bis 1980 psychiatrische Medikamente getestet, dutzende starben daran. Zentraler Akteur war der Klinikdirektor Roland Kuhn, in Zusammenarbeit mit seiner Frau Verena Kuhn und verschiedenen Pharmafirmen. Ironischerweise gelang den Buchautor*innen gerade durch Kuhns umfangreiches Privatarchiv die detaillierte Aufarbeitung des Ausmaßes, Inhalts und historischen Kontextes der Tests. Ihre Forschungsarbeit war vom Kanton Thurgau beauftragt worden, nachdem die Geschehnisse am Klinikum Münsterlingen erst 2012 in der Presse skandalisiert worden waren. Die Studie unter der Leitung der Historikerin Marietta Meier wirft einen neuen Blick auf Roland Kuhn, der 2005 als renommierter Wissenschaftler und Antidepressiva-Entdecker starb. Den Autor*innen gelang es durch die Analyse von Kuhns Unterlagen und Korrespondenzen, dem Archiv der Nachfolgefirma Novartis und Interviews mit Zeitzeug*innen, das Bild eines von Ruhmsucht und finanziellen Motiven getriebenen Mannes zu zeichnen, der sich zu keinem Zeitpunkt einer Schuld bewusst war. Im Gegenteil kritisierte Kuhn die nach dem Contergan-Skandal in den 1960er Jahren langsam einsetzende Regulierung von klinischen Studien. Auch die Pflicht einer informierten Einwilligung von Betroffenen sah er als Forschungshemmnis. Gleichzeitig lehnte er wissenschaftliche Methoden wie statistische Analysen und Studien mit Kontrollarmen ab. Trotz des wissenschaftlich nüchternen Stils gibt das Buch einen spannenden und erschreckenden Einblick in die Konsequenzen von unreguliertem Forschungsehrgeiz und Profitinteressen.

➤ Marietta Meier, Mario König, Magaly Tornay (2019): Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940– 1980. Chronos Verlag, 336 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-0340-1545-5.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
253
vom Mai 2020
Seite 37 - 38

Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.

zur Artikelübersicht