Genetik, Krankheit und soziale Schicht
Die Bedeutung genetischer Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit
Die alte und kontroverse Diskussion um Beziehungen zwischen Genetik und sozialer Schichtzugehörigkeit erlebt in jüngster Vergangenheit eine erneute Renaissance. Schon seit Jahrzehnten ist in der Forschung zu sozialer Ungleichheit der starke Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozioökonomischem Status bekannt; mit dem Bedeutungszuwachs genetischer Faktoren in der Krankheitsursachenforschung stellt sich deshalb die Frage nach Wechselwirkungen zwischen Genetik, Gesundheit und Schichtzugehörigkeit.
Beflügelt wird die aktuelle Diskussion durch die rasante Entwicklung molekularbiologischer Methoden und Techniken, mit der die Bestimmung genetischer Komponenten von Krankheiten in großen epidemiologischen Studienpopulationen praktikabel und bezahlbar geworden ist. So werden insbesondere genomweite Datensätze zunehmend für die Erforschung von Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmalen genutzt. Weil solchen Eigenschaften ein Einfluss auf die Chancenverteilung innerhalb einer Gesellschaft zugesprochen wird, setzt auch in der Ungleichheitsforschung die Berücksichtigung der genetischen Variation und des komplexen Zusammenspiels von Genom- und Umwelteinflüssen ein. Erste Ansätze untersuchen zum Beispiel krankheitsassoziierte Genvarianten auf ihre Ungleichverteilung entlang soziökonomisch definierter Gruppen.1 Intensiv diskutiert wird im Kontext sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung derzeit vor allem die Erforschung von Gen-Umwelt-Interaktionen.2 Immer wieder wird dabei die Befürchtung geäußert, der Einbezug hypothetischer genetischer Faktoren könne auf Kosten sozialer Erklärungen gehen. Soll das nicht geschehen, ist aber gerade in den aktuellen Diskussionen um genetische Unterschiede sozioökonomisch definierter Gruppen sozialwissenschaftliche Expertise notwendig. Im Folgenden werden daher klassische Ansätze zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit auf die Möglichkeit der Erweiterung um genetische Einflussfaktoren hin überprüft.3
Die Hypothese der direkten Selektion
Ein Ansatz, der die Möglichkeit bietet, genetische Faktoren in die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit einzubeziehen, ist die so genannte direkte Selektionshypothese. Ausgangspunkt ist hier die Annahme, der Gesundheitszustand bestimme den sozioökonomischen Status. Demnach erfahren Gesunde mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen sozialen Aufstieg als Kranke und diese wiederum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen sozialen Abstieg als Gesunde. In diesen Erklärungsansatz lassen sich mit Krankheit assoziierte genetische Faktoren leicht einfügen: Wenn bestimmte genetische Faktoren zur Krankheitsentstehung beitragen und diese Krankheiten wiederum über Prozesse der sozialen Mobilität auf den sozioökonomischen Status einwirken, wäre auch eine Assoziation zwischen eben diesen genetischen Faktoren und sozioökonomischen Kernindikatoren beziehungsweise eine Ungleichverteilung entsprechender Risikoallele über sozioökonomische Gruppen zu erwarten. Doch dieses Modell lässt sich in vielfacher Weise kritisieren. So treten die meisten gesundheitlichen Probleme oft erst in einem Alter auf, in dem Prozesse der sozialen Mobilität selten stattfinden. Auch sind Korrelationen zwischen Bildung und Gesundheitszustand im Erwachsenenalter durch gesundheitsbedingte Selektionsprozesse nicht plausibel zu erklären, da der Gesundheitszustand durch den zeitlich früher liegenden Bildungsabschluss beeinflusst wird und nicht umgekehrt. Darüber hinaus spricht auch die Tatsache, dass gesundheitliche Ungleichheiten in jüngerer Vergangenheit sehr dynamische Verläufe annahmen, gegen einen nennenswerten Beitrag genetischer Risikofaktoren über direkte Selektion. So waren koronare Herzkrankheiten vor einigen Jahrzehnten noch am häufigsten in den oberen sozialen Schichten anzutreffen, bevor sie in einer relativ kurzen Zeitspanne eine höhere Prävalenz in den unteren sozialen Schichten aufwiesen.4 Eine weitere Einschränkung für das Wirken genetischer Faktoren stellt die Vererbung polygenetischer Merkmale dar. An der Entstehung einer komplexen Krankheit ist meist eine Vielzahl von Polymorphismen beteiligt, die wiederum in Interaktionen untereinander und mit diversen Umweltfaktoren stehen. Die beteiligten Risikoallele werden dabei in aller Regel unabhängig voneinander vererbt. Die jeweilige Konstellation der Risikoallele einer Person wird also höchstwahrscheinlich nicht intakt an die Nachkommen weitergegeben. Einzelne Risikoallele allein tragen aber bekanntlich sehr wenig zur Entstehung komplexer Krankheiten bei. Insgesamt ist also eine Verursachung gesundheitlicher Ungleichheit durch krankheitsassoziierte Polymorphismen äußerst unwahrscheinlich. In der Regel sind weder ausreichende Selektionseffekte noch starke Beziehungen zwischen einzelnen genetischen Faktoren und komplexen Krankheiten gegeben, wie sie für eine statusbezogene Ungleichverteilung krankheitsbezogener Risikoallele zu erwarten wären.
Der Ansatz der indirekten Selektion
Auch der Ansatz der indirekten Selektion bietet eine Möglichkeit, genetische Faktoren zu integrieren. Werden nach der direkten Selektionshypothese soziale Mobilitätsprozesse unmittelbar über den Gesundheitszustand eingeleitet, liegen indirekter Selektion Determinanten von Gesundheit beziehungsweise Krankheit zu Grunde. Angenommen wird hier, dass bestimmte Faktoren im frühen Lebensverlauf einer Person als Prädiktoren für den späteren Sozialstatus, gleichzeitig aber auch für den Gesundheitszustand im Erwachsenenalter fungieren.5 Anders als bei der direkten Selektion, die von einer Kausalbeziehung des Gesundheitszustandes in Richtung des sozioökonomischen Status ausgeht, ist bei der indirekten Selektion eine dritte Einflussvariable für die Kovarianz beider Faktoren verantwortlich. Genetische Faktoren können also in den Ansatz einbezogen werden, sofern sie gleichzeitig sowohl die Gesundheit als auch den sozioökonomischen Status beeinflussen. Da für statusrelevante Verhaltensmerkmale neben Umweltfaktoren allenfalls polygenetische Einflüsse anzunehmen sind, gelten für den Einbezug genetischer Faktoren in den Erklärungsansatz der indirekten Selektion ähnliche Einschränkungen wie beim Ansatz der direkten Selektion.6 Auch hier ist zu bedenken, dass die genetische Basis statusrelevanter, persönlicher Eigenschaften nur bei einer gleichzeitigen Vererbung aller oder zumindest vieler begünstigender Allele stabil an die Nachkommen weitergegeben würde. Da dies unwahrscheinlich ist, wird die Häufung derartiger Eigenschaften in bestimmten sozioökonomischen Schichten maßgeblich von anderen Faktoren abhängen.
Kausationshypothese und Lebenslaufperspektive
Ein dritter Ansatz zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit ist die Kausationshypothese, nach der ein niedriger sozioökonomischer Status stärkere Gesundheitsgefährdungen verursacht und nicht umgekehrt. Ihr wird in der aktuellen Diskussion um gesundheitliche Ungleichheit viel Erklärungskraft zugesprochen. Der Gesundheitszustand wird danach nicht direkt, sondern über ungleiche materielle und psychosoziale Belastungen beziehungsweise Ressourcen beeinflusst. Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status sind folglich neben einer prekären finanziellen Situation in stärkerem Maße ungünstigen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Zusätzlich scheinen auch gesundheitsbezogene Verhaltensweisen und psychosoziale Belastungen gesundheitliche Ungleichheit zu beeinflussen.7 Diese unterschiedlichen Determinanten stehen dabei selbst in Wechselbeziehungen zueinander. Da die genetische Ausstattung einer Person aber bereits feststeht, bevor sich ihr sozioökonomischer Status entwickelt, kann nach der Kausationshypothese die Schichtzugehörigkeit keine Auswirkungen auf die DNA haben. Denkbar wären allenfalls somatische DNA-Mutationen, die im Laufe des Lebens durch Berufsbelastungen wie zum Beispiel gesundheitsgefährdende Strahlung oder mutagene Chemikalien hervorgerufen werden können. In diesem Falle wäre allerdings die schädliche Exposition Ursache möglicher Erkrankungen und nicht die durch sie hervorgerufene genetische Mutation. Interessant erscheint aber die Erweiterung des Ansatzes um aktuelle Erkenntnisse der Epigenetik. Hierbei ist der Prozess der DNA-Methylierung am eingängigsten untersucht, durch welchen die Aktivitäten bestimmter Gene stabil und andauernd modifiziert werden können, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern. Epigenetische Profile werden zwar auch vererbt, können aber in bestimmten Phasen des Lebensverlaufs umweltbedingten Änderungen unterliegen. Neueste Erkenntnisse verweisen zusätzlich auf die Möglichkeit, dass auch die soziale Umwelt in bestimmten Lebensphasen epigenetische Störungen hervorrufen kann.8
Soziale Missstände genetisch determiniert?
Genetische Faktoren bieten wenig Potenzial für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit. Die Voraussetzungen, die für eine soziale Ungleichverteilung von a) Risikoallelen komplexer Krankheiten beziehungsweise b) genetischen Faktoren statusrelevanter Merkmale gegeben sein müssten, scheinen nach theoretischer Beleuchtung allenfalls eingeschränkt erfüllt. Um einer Überhöhung genetischer Faktoren im Kontext gesundheitlicher Ungleichheit vorzubeugen, wäre eine Untermauerung der in diesem Beitrag zusammengefassten Überlegungen durch empirische Analysen sicherlich hilfreich. Umgekehrt bleibt aber die Schwierigkeit in der Interpretation möglicher positiver Ergebnisse, die bei einer Zunahme der Analysen allein per Zufall zu erwarten wären. Zusätzlich ist zu befürchten, dass die Fokussierung auf genetische Faktoren in Erklärungsansätzen gesundheitlicher Ungleichheit davon abhalten könnte, die Bewältigung sozialer Deprivation als maßgebliche Komponente in Angriff zu nehmen.9 Mit der wissenschaftlichen Verfügbarmachung immer feinerer genomischer Strukturen und der Möglichkeit, immer größere Datenmengen zueinander in Beziehung zu setzen, ist verstärkt mit Forschung zu genetischen Faktoren sozialer und insbesondere gesundheitlicher Ungleichheit zu rechnen. Eine Diskussion darüber, wie mit zukünftigen Ergebnissen umzugehen ist und welche Fragen hierbei zu stellen sind, ist daher dringend erforderlich. Was wären zum Beispiel die politischen Implikationen einer sozialen Ungleichverteilung krankheitsbezogener Risikoallele, was die Folgen für die Risikoallelträger? Fragen dieser Art drehen sich letztlich um Verantwortlichkeiten für soziale Missstände. Dass diese nicht genetisch determiniert sind, sollte unbestritten bleiben.
- 1Vgl. Holzapfel, C., Grallert, H., et al.: First investigation of two obesity-related loci (TMEM18, FTO) concerning their association with educational level as well as income: the MONICA/KORA study. Journal of Epidemiology & Community Health 2011, 65, S. 174-176.
- 2Vgl. etwa Diewald, M.: Zur Bedeutung genetischer Variation für die soziologische Ungleichheitsforschung. Zeitschrift für Soziologie 2010, 39, S. 4-21.
- 3Vgl. dazu etwa Mielck, A.; Rogowski, W.: Bedeutung der Genetik beim Thema „soziale Ungleichheit und Gesundheit“. Bundesgesundheitsblatt 2007, 50, S. 181-91. Ausgearbeitete Erklärungsmodelle gesundheitlicher Ungleichheit zur theoretisch fundierten Ableitung möglicher Wechselwirkungen zwischen genetischen und umweltbezogenen Faktoren stehen bisher nicht zur Verfügung.
- 4Vgl. Marmot, M. G.; McDowall, M. E.: Mortality decline and widening social inequalities. Lancet 1986, 2, S. 274-276.
- 5Bisher werden als Determinanten Eigenschaften wie allgemeine kognitive Fähigkeiten, Ernährungsgewohnheiten oder Bewältigungsstrategien in Betracht gezogen.
- 6Letztlich dreht sich die Frage nach der Relevanz genetischer Faktoren um die Größe des genetischen Anteils bei statusrelevanten Verhaltensmerkmalen und um die Modalitäten ihrer Vererbung. Als Beispiel für ein solches Verhaltensmerkmal wurde oft die Intelligenz angeführt. Doch die hierbei zitierten Studien zur Abschätzung ihrer Erblichkeit beruhen auf für ihre Ungenauigkeit vielfach kritisierten Zwillingsstudien. Dass trotz mehrfacher Versuche bisher noch kein Gen valide mit dem Merkmal Intelligenz assoziiert werden konnte, scheint zusammen mit den Ergebnissen genomweiter Assoziationsstudien ein Hinweis auf die Beteiligung vieler Polymorphismen mit allenfalls geringen Effektgrößen zu sein. Vgl. zum Beispiel Davis, O. S. P.; Butcher, L. M.; et al.: A three-stage genome-wide association study of general cognitive ability: Hunting the small effects. Behavior Genetics 2010, 40, S. 759-767.
- 7So zum Beispiel Peter, R.: Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter: Ein Ansatz zur Erklärung sozialer Ungleichverteilung von Gesundheit. In Richter, M.; Hurrelmann, K. (Hg.): Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, S. 117-131, Wiesbaden: VS Verlag 2009 oder Helmert, U.; Schorb, F.: Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren im Kontext der sozialen Ungleichheit der Gesundheit, ebda., S. 134-148.
- 8Vgl. etwa Champange, F. A.: Epigenetic influence of social experiences across the lifespan. Developmental Psychobiology 2010, 52, S. 299-311.
- 9Weitere Gefahren liegen im möglichen Missbrauch von Forschungsergebnissen zur Rechtfertigung sozialer Verhältnisse bis hin zur Beförderung eugenischer Strategien. Vgl. etwa Henderson, G. E.: Introducing Social and Ethical Perspectives on Gene-Environment Research. Sociological Methods & Research 2008, 37, S. 251-276.
Börge Schmidt ist Epidemiologe am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der Universität Duisburg-Essen.