Kollateralschaden durch "Präzisions-Gentherapie"

Es hat sich herausgestellt, dass eine angebliche Präzisions-Gentherapie beträchtliche Nebenwirkungen hat. Nichtsdestotrotz haben erste klinische Tests begonnen.

Ein Verfahren der Gentherapie, das im Jahre 2002 noch als "Durchbruch des Jahres" bejubelt worden war, hat sich letzten Endes weder als treffsicher noch als besonders präzise erwiesen. Die Euphorie war seinerzeit sehr groß, weil man davon ausging, dass mit Hilfe der neuen Technik jedes gewünschte Gen gezielt und präzise abgeschaltet werden kann. Das Verfahren macht sich die so genannte RNA-Interferenz zunutze. Als RNA-Interferenz bezeichnet man die Fähigkeit bestimmter kurzer doppelsträngiger RNA-Sequenzen, die Expression eines Gens zu beeinflussen und es dadurch abzuschalten.

Perfekte Übereinstimmung?

Die Technik beruht auf einer perfekten Übereinstimmung zwischen der Sequenz der neu eingeführten siRNA (small interfering RNA) und der komplementären Sequenz der mRNA. (...) Doch scheint es, dass manche Abweichungen zwischen der siRNA und ihrem Ziel toleriert werden, so dass andere DNA-Abschnitte - mit ähnlichen Sequenzen - ebenfalls [von der neu eingefügten siRNA] beeinflusst werden. Peter Linsley, Geschäftsführer im Bereich Krebsforschung des Unternehmens Rosetta Inpharmatics - einem Tochterunternehmen des Pharmariesen Merck mit Sitz in Seattle (US-Bundesstaat Washington), setzte siRNAs vor dem Hintergrund ein, zielgenauere Wirkstoffe herzustellen. Er hoffte, mit der eingefügten siRNA ein bestimmtes Gen abzuschalten. Ergänzend sollte ein Wirkstoff gegeben werden, der auf das gleiche Gen zielt. So sollte herausgefunden werden, ob durch die Wirkstoffgabe weitere Gene beeinflusst werden. Sein Team fand jedoch heraus, dass die siRNAs neben dem einen, anvisierten Gen noch weitere abschalteten. "Die siRNAs waren weniger präzise als unsere Präparate", sagte Linsley. Man kam immer wieder zu denselben Ergebnissen und schloss daraus, dass die siRNAs Wechselwirkungen mit anderen Zielorten, das heißt mit anderen Genen, haben könnten.(1) (...)

Ungeklärte Phänomene

Zuerst betrachtete die RNA-Interferenz-Community diese Ergebnisse mit Skepsis, wurde aber durch Linsleys Arbeit dazu gebracht, ihre eigenen Ergebnisse sorgfältiger zu betrachten. "Wir entdeckten immer mehr ungeklärte Phänomene", räumte Rene Bernards, Genetiker am Niederländischen Krebsinstitut in Amsterdam, ein. Phillip Zamore, Biochemiker an der Universität der Massachusetts Medical School in Worcester, geht inzwischen davon aus, dass die Grenzen dieser Technik eigentlich nicht hätten übersehen werden können und dass es "unglaublich unvernünftig" gewesen sei, eine absolut spezifische Wirksamkeit anzunehmen. Forscher, die Microarrays (2) benutzen, um Nebeneffekte ausfindig zu machen, kommen im Allgemeinen zu dem Schluss, dass durch eine einzige siRNA ein Dutzend Gene beeinflusst werden können. Linsley hingegen hat Auswirkungen auf durchschnittlich mindestens vierzig Gene festgestellt. Aber durch Microarrays können nur Auswirkungen auf RNA-Transkripte aufgezeigt werden, nicht die auf Proteine.(3) Also könnten die Nebeneffekte noch viel weitreichender sein. Dies ist besonders mit dem heute verfügbaren Wissen verständlich, da Genetiker zahlreiche Arten von Micro-RNAs entdeckt haben, die natürlicherweise und ausgiebig auf Gen- und Proteinfunktionen einwirken. SiRNAs zu benutzen ist, als werfe man einen Universalschraubenschlüssel nach dem Zufallsprinzip in den überaus komplizierten und differenzierten Mechanismus, als den sich die RNA-Interferenzen erwiesen haben. Es steht zu befürchten, dass die Befürworter dieser Technik weiterhin davon ausgehen, dass solche Nebeneffekte vernachlässigbar seien und dass sie durch weitere Forschung ausgeschlossen werden könnten.

Schon reif für die klinische Phase?

Die ersten klinischen Versuche mit der siRNA-Therapie wurden im Oktober 2004 vom Unternehmen Acuity Pharmaceuticals, Philadelphia, gestartet. Dabei werden Makuladegenerationen behandelt, bei denen ein kleiner Bereich der Netzhaut des Auges, die Makula, funktionsunfähig geworden ist. Diese ist für die Sehschärfe verantwortlich und ihre Degeneration kann bis zur Erblindung führen. Da sich die Behandlung - die RNA-Gentherapie in den klinischen Tests - auf das Auge der Patienten beschränkt, geht man davon aus, dass hier das Risiko von Nebenwirkungen von untergeordneter Bedeutung sein könnte. Ein anderes mögliches Einsatzfeld könnte Hepatitis B sein. Man hofft, dass die siRNA den Virus unschädlich machen könnte, ohne allzugroßen Schaden durch Nebenwirkungen anzurichten. In Anbetracht der traurigen Bilanz des bisherigen Einsatzes der Gentherapie wäre es jedoch unverantwortlich, hier - ohne dass weitere Forschung stattgefunden hat - weiter voranzuschreiten.
Übersetzung: Theresia Scheierling

Fußnoten:

  1. Die Arbeiten von Peter S. Linsley, Aimee L. Jackson und anderen sind zum Beispiel erschienen in: Nature Biotechnology, Ausgabe 21, S. 635-637 (Juni 2003): "Expression profiling reveals off-target gene regulation by RNAi"; Aimee L. Jackson, Steven R. Bartz, Janell Schelter, Sumire V. Kobayashi, Julja Burchard, Mao Mao, Bin Li, Guy Cavet, Peter S. Linsley.
  2. Microarray (= DNA-Chip): Glas- oder Membranträger, auf den DNA-Fragmente aufgebracht sind, mit denen die komplementären so genannten m-(messenger-)DNA-Stücke hybridisieren, das heißt, sich anlagern. M-RNA ist der erste Zwischenschritt zwischen der DNA und den Proteinen (nach: Michael Wink: Molekulare Biotechnologie, Wiley-VCH, Weinheim 2004).
  3. "Biotech wonder tool in disarray"; ISIS-Pressemitteilung zum Aufsatz vom 23.3.05, unter www.i-sis.org.uk/BWTID.php.
Erschienen in
GID-Ausgabe
170
vom Juni 2005
Seite 43 - 44

Dr. Mae-Wan Ho ist Direktorin und Mitbegünderin der britischen Non-Profit-Organisation Institute of Science in Society (ISIS), London.

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RNAi

RNAi Der gentherapeutische Ansatz des so genannten gene silencing mittels RNAi (etwa: das Ruhig-Stellen des Gens unter Einsatz der Wechselwirkung - Interferenz/interference - mit RNA) baut darauf auf, dass sich komplementäre Nukleinsäureketten aneinander anlagern. Dazu muss Folgendes beachtet werden: Die DNA ist für den Organismus der Ausgangsstoff eines jeden Proteins. In ihrer Abfolge versteckt sich die Information für den Aufbau (die Abfolge der Aminosäuren) des Proteins. Die DNA ist allerdings noch aus einer Basenabfolge (aus ATCG) aufgebaut, während die Proteine aus Aminosäuren bestehen. Um nun die DNA-Sequenz in eine Aminosäuresequenz zu übertragen, werden verschiedene Schritte zwischengeschaltet, bei denen verschiedene so genannten RNAs (ebenfalls aus Basen) zum Einsatz kommen, die wichtigste in unserem Zusammenhang ist die mRNA (messenger-RNA - etwa: Überbringer-RNA): Zunächst wird die DNA in eine komplementäre mRNA übertragen (die ihrerseits noch an der einen oder anderen Stelle nachbearbeitet wird), sie wird als direkte Matrix für die Abfolge der Aminosäuren des Proteins verwendet. Die mRNA ist auch die Stelle, an der die RNA-Interferenz ansetzt. Die als Wirkstoffe in die Zelle eingebrachten so genannten siRNA-Stücke verbinden sich mit Proteinen und - aufgrund von komplementären Basenabfolgen - mit der mRNA, diese wird in kleine Stücke zerschnitten, kann ihre Funktion als Matrix für die Aminosäuresequenz nicht erfüllen und das Protein wird entsprechend nicht gebildet: Das Gen wurde "ruhig gestellt". Wie Dr. Mae-Wan Ho in ihrem Artikel zeigt, ging man zunächst davon aus, dass es einen hohen Grad an Komplementarität braucht, damit sich die siRNAs - mit den Enzymen - an die mRNA anlagern, beziehungsweise, dass die siRNA-Stücke eine hohe Zielgenauigkeit besitzen. Die Forschungen, insbesondere von Peter S. Linsley und seiner Arbeitsgruppe, machen jedoch deutlich, dass es zu Anlagerung und entsprechend zur Beeinflussung kommen kann, wenn verhältnismäßig wenig Komplementarität vorliegt, die Zielgenauigkeit also weniger genau ist und andere mRNAs und damit andere Gene in ihrer Wirkung beeinflusst werden. (pau)