Rezension: Corpus Delicti: Die Diktatur der Prävention
Seltsam vertraut ist die Welt in der Mitte des 21. Jahrhunderts, die Juli Zeh in ihrem neuen Roman beschreibt: Der überwachte Hometrainer in den Wohnungen einer autofreien Stadt, die gesundheitsschonende Solarzellen mit Energie versorgen, der Chip im Arm, der es Ärzten und damit den staatlichen Institutionen ermöglicht, jederzeit Daten zum Gesundheitszustand eines Menschen abzurufen, das absolute Verbot von Alkohol und Nikotin, deren Genuss als dissidente, Gesellschaft und Staat gefährdende Handlung verfolgt wird - ist das alles nicht längst schon da? Geschickt werden Details des Daseins in dieser Zukunftsvision nur am Rande und in aller Kürze erwähnt, so dass der Prozess, um den es im Roman geht, und das System, in dem er stattfindet, umso selbstverständlicher erscheinen. Es geht alles ganz rechtsstaatlich zu in dieser besten aller Welten, die das Bedürfnis des Einzelnen nach Gesundheit und Wohlergehen mit der Rationalität bevölkerungspolitischer Regulierung verbunden hat. Die Individuen arbeiten in der Regel aktiv mit an ihrer Verwaltbarkeit; die eigene Gesundheit zu erhalten ist staatsbürgerliche Pflicht. Die Gesellschaft sei am Ziel, heißt es zu Beginn des Romans, weil sie sich nicht mehr auf Religion oder Markt stützt, sondern auf den „unbedingten, individuellen und kollektiven Überlebenswillen“. Wie bei George Orwells „1984“, der in vielerlei Hinsicht verwandten Dystopie aus den 1930er Jahren, gibt es aber auch hier Zweifelnde. Denn das System ist kompromisslos und brutal, wenn es um ein Leben jenseits dieses gesellschaftlichen Konsens’ geht. „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon“, lässt Juli Zeh einen der Propagandisten der Präventionsdiktatur sagen. Und Krankheit ist nicht vorgesehen. So heißt die dissidente Bewegung „RAK“, Recht auf Krankheit. Wie bei Orwell ist allerdings nicht klar, ob es diese Gruppe und die von ihr ausgehende ‚terroristische Bedrohung’ tatsächlich gibt oder ob sie nur eine Erfindung ist, mit der Repression und Überwachung gerechtfertigt werden. Und wie in „1984“ ist das Scheitern der isolierten, gefolterten und ignorierten Widerspenstigen kaum zu ertragen, weil es in einer gründlichen und vollständigen Unterwerfung mündet. Der Roman denkt nicht nur aktuelle Präventions- und Gesundheitsvorstellungen konsequent zu Ende, er rührt auch an die sich immer wieder stellende Frage nach dem Repressionspotenzial moderner Gesellschaften. Dabei sorgt die in Rückblenden und Vorgriffen springende Handlung dafür, dass es bis zum Schluss spannend bleibt. Wirklich schwer lesenswert.
Uta Wagenmann