Rätsel um die Kommunikation der Gene
Interview mit Manfred Schmidt
Ende letzten Jahres ist ein dreijähriger Junge, der in einer britischen Gentherapiestudie wegen einer schweren Immunkrankheit behandelt wurde, an Leukämie erkrankt.(1) Der GID sprach aus diesem Anlass mit Manfred Schmidt, vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern hat er nach Ursachen für die wiederholte Tumorbildung bei Gentherapieexperimenten gesucht.
1999 führte eine Forschungsgruppe um Alain Fischer am Hôpital Necker des Enfants Malades in Paris erstmals eine Gentherapie an acht Kindern durch, die von der schweren angeborenen Immunschwäche X-SCID betroffen waren. In den darauf folgenden Jahren erkrankten vier der behandelten Kinder an Leukämie. Die Studie wurde damals abgebrochen. In Ihrer Arbeitsgruppe, Herr Dr. Schmidt, haben Sie damals die Zellen von zweien dieser Kinder mittels einer Genomanalyse untersucht. Was ergaben diese Untersuchungen?
Wir konnten zeigen, dass die Leukämie durch die Aktivierung des Proto-Onkogens LMO2 (krebsauslösendes Gen, d. Red.) (2) entstand. Diese Aktivierung wurde durch das als Genfähre benutzte Virus verursacht. In beiden Patienten zeigten unsere Analysen, dass die leukämischen Zellen monoklonal waren. Das bedeutet, dass sie alle von einer der gentherapeutisch veränderten Zellen abstammten. Allerdings war die virale Genfähre an unterschiedlichen Stellen in der Nähe des LMO2-Promotors integriert worden.
Währenddessen lief eine entsprechende Gentherapie-Studie der britischen Arbeitsgruppe um Adrian Thrasher und Bobby Gaspar vom Institute of Child Health in London weiter. Ende letzten Jahres wurde bekannt, dass eines der zehn Kinder, die an dieser Studie teilnahmen, ebenfalls an Leukämie erkrankt ist. Die untersuchten Leukämiezellen ergaben eine Überexpression eines Onkogens in unmittelbarer Nähe zur Integrationsstelle des als Genfähre verwendeten Retrovirus. Sehen Sie darin die einzige Ursache für das Auftreten von Leukämie in beiden Studien? Können die Ergebnisse der Genomanalysen miteinander verglichen werden?
Die Studie in England wurde bei zehn Patienten durchgeführt, denen zum Zeitpunkt der notwendigen Behandlung keine erfolgversprechenden alternativen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Betrachtet man beide Studien zusammen, so führte die gentherapeutische Behandlung bei etwa 80 Prozent der Teilnehmer zu einem längerfristig anhaltenden therapeutischen Erfolg. Einer von fünf Patienten - vier Patienten in der französischen Studie, ein Patient in der englischen Studie -, bei denen Leukämie auftrat, ist dabei an der Komplikation verstorben. Im Vergleich zur herkömmlichen Fremdspendertransplantation ist der therapeutische Erfolg nach wie vor hervorragend. Aber es ist natürlich beunruhigend, mit welcher Genauigkeit die überzufällig häufige Beteiligung bestimmter Integrationstellen im Nachhinein gezeigt hat, dass klonales (das heißt, genetisch identisches, von einer Zelle abstammendes, d. Red.) Zellwachstum bis zur Leukämie entstehen konnte. Auch bei dem in Großbritannien aufgetretenen Leukämiefall scheint durch den therapeutischen Vektor ein Onkogen aktiviert worden zu sein, das dann die Leukämie verursacht hat. Momentan werden weitere Untersuchungen durchgeführt, um mögliche andere Ursachen aufzufinden. Nach dem jetzigen Stand der Genomanalysen sind die Ergebnisse mit denen aus der Untersuchung der französischen Fälle durchaus vergleichbar. Nach wie vor muss die Krebsentstehung zwar als ein mehrstufiger Prozess gesehen werden. Die Möglichkeit, dass die Leukämien ‚nur’ durch die Onkogen-Aktivierung entstanden sind, kann aber nach jetzigem Stand ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Zumal das in den Studien verwendete therapeutische Transgen starke Wachstumssignale vermittelt.
Wie schätzen Sie prinzipiell das Risiko ein, dass es bei einer Gentherapie, bei der Retroviren als Vektoren eingesetzt werden, zu einer nicht erwünschten Genaktivierung kommt?
Prinzipiell ist dieses Risiko eher als gering einzuschätzen. Weltweit wurden bislang mehr als 1.340 gentherapeutische Studien durchgeführt. Etwa in einem Drittel der Studien wurden herkömmliche retrovirale Vektoren verwendet. Leukämien traten bislang nur in den X-SCID- Studien auf, die gleichzeitig die ersten erfolgreichen gentherapeutischen Studien mit einem langfristigen Behandlungserfolg darstellen. Mit der zunehmenden Effizienz des Gentransfers wurde aber nun auch in anderen Studien deutlich, dass die verwendeten herkömmlichen retroviralen Vektoren ein Sicherheitsrisiko darstellen. Sie integrieren in nicht vorhersehbare Stellen des menschlichen Genoms und mögliche Aktivierungen zellulärer Gene sind wahrscheinlicher als früher angenommen wurde. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass die Mehrzahl der Patienten, die an gentherapeutischen Studien teilnehmen, entweder ‚austherapiert’ sind - also die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht den gewünschten Erfolg erbrachten beziehungsweise nicht mehr angewendet werden können - oder dass den Patienten keine Alternativtherapien mit geringerem Risiko zur Verfügung stehen.
Die britischen Forscher um Adrian Thrasher haben für eine weitere Gentherapie-Studie ein Protokoll entwickelt, nach dem ein neuer Virustyp als Genfähre benutzt werden soll. Dieses Jahr sollen die ersten Kinder behandelt werden. Was ist anders an diesem Vektor und wie sicher schätzen Sie ihn ein?
Diese herkömmlichen Vektoren werden ersetzt durch so genannte selbstinaktivierende Sicherheitsvektoren, bei denen man zumindest die Aktivierung umliegender Gene vermeiden möchte. Allerdings ist auf diese Weise die direkte Reparatur der durch die Erbkrankheit betroffenen Genregion derzeit noch nicht möglich.
Besteht bei diesem Virus dennoch ein Risiko, dass die Kinder eine Leukämie entwickeln?
Ein Restrisiko kann mit Sicherheit nicht ausgeschlossen werden. Anhand der bisherigen präklinischen Untersuchungen ist aber bekannt, dass diese ‚neue’ Art therapeutischer Vektoren ein weitaus höheres Maß an Sicherheit aufweisen, als die herkömmlichen.
Im April 2006 haben Sie die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, in der Sie gezeigt haben, dass das gentechnisch veränderte IL2RG-Gen in der X-SCID-Studie auch selbst eine krebsfördernde Wirkung haben kann. Hängt diese krebsfördernde Eigenschaft Ihrer Meinung nach mit der Kommunikation zwischen den Genen zusammen?
Die in den letzten zwanzig Jahren erzielten Ergebnisse der Gentherapie in präklinischen Modellen und im Menschen machen erneut deutlich, wie hochkomplex das Zusammenwirken einzelner Gene untereinander ist. Ein Verschieben dieses Gleichgewichts muss nicht unmittelbar eine Auswirkung haben, kann aber durchaus den ersten ‚Hit’ in der Krebsentstehung darstellen. Zusätzlich angehäufte Mutationen, und ein mögliches ‚Versagen’ zellulärer Schutzmechanismen, können dann letztendlich auch Jahre später noch einen klinisch relevanten Effekt haben und beispielsweise zu einer Leukämie führen. Die Behandlung des X-SCID stellt dabei aber mit Sicherheit einen Sonderfall dar. Das betroffene Gen IL2RG ist in einer frühen Phase für die ‚Herstellung’ vieler verschiedener Zellen des Immunsystems verantwortlich. Durch einen Defekt dieses Gens werden bestimmte Abwehrzellen erst gar nicht richtig ausgebildet oder sind in ihrer Funktion beeinträchtigt. Dadurch, dass diese tiefgreifenden Immunsystemdefekte vorliegen, erhalten die den Patienten zurückgegebenen genkorrigierten Zellen einen sehr starken Wachstumsvorteil. Man kann durchaus von einem auf ‚Überleben’ ausgerichteten natürlichen Selektionsvorteil der genkorrigierten Zellen sprechen. Anders verhält es sich bei Erkrankungen, bei denen der Gendefekt erst später in der Entwicklung des Immunsystems zum Tragen kommt. Hier weisen die genkorrigierten Zellen keinen so deutlich ausgeprägten Selektionsvorteil auf. In Mailand konnten in den letzten sechs Jahren mindestens zehn Patienten mit der Immunkrankheit ADA-SCID erfolgreich behandelt werden, ohne Auftreten von Nebenwirkungen.
Haben die britischen Forscher Ihren Erkenntnissen aus den Genomanalysen der beiden untersuchten Studien in ihrem neuen Protokoll Rechnung getragen?
Auf jeden Fall. Es werden keine Patienten mehr mit dem herkömmlichen retroviralen Vektor behandelt. Es werden jetzt die sichersten Vektoren eingesetzt, die derzeit zur Verfügung stehen. Bereits vor dem Auftreten der Leukämie in dem britischen Patienten war es eine klare, durch Ethik-Kommissionen überwachte Fall-zu-Fall Entscheidung, ob ein Patient in die Studie aufgenommen wird oder nicht. Es wurde jeweils intensiv geprüft, welche Alternativen es gibt, ob geeignete Spender für eine Stammzelltransplantation zur Verfügung stehen und wie die Überlebenschancen bei einer konventionellen Stammzelltransplantation stehen würden. Es ist mehrfach vorgekommen, dass Patienten auf der Warteliste für eine Gentherapie an Komplikationen ihrer Grundkrankheit gestorben sind. Das interessiert in der Öffentlichkeit aber offensichtlich Wenige.
Wie sehen Sie die Zukunft der Gentherapie? Wird sie sich jemals als eine Standard-Behandlungsmethode für bestimmte Indikationen eignen?
Betrachtet man die Entwicklung der Gentherapie, so konnten die hohen Anfangserwartungen mit Sicherheit bisher nicht erfüllt werden. Von einer ‚alleinigen’ Standardtherapie ist man noch weit entfernt. Andererseits ist gerade bei der Genomforschung die wissenschaftliche und technische Entwicklung sehr rasant. Wir werden innerhalb weniger Jahre erleben, dass die gesamte Erbinformation eines Menschen oder seines Gewebes, zum Beispiel in Krebszellen, schnell, preiswert und zuverlässig ermittelt werden kann. Dann wird die schon jetzt logische Überlegung immer weiter in den Vordergrund treten, dass die Korrektur defekter Gene bei angeborenen Erbkrankheiten und erworbenen Gendefekten, insbesondere bei Krebs und möglicherweise auch der HIV-Infektion, die eigentlich ursächlichste Therapie darstellen würde. Auch die neulich sehr intensiv diskutierte Entwicklung von Stammzellen aus Körperzellen geschieht durch direkten Gentransfer oder die indirekte aber gezielte Aktivierung ganz bestimmter Gene. Wir gehen davon aus, dass mittelfristig zusätzliche genetische Information ohne starke Nebenwirkungen in Zellen eingebracht werden kann. Längerfristig entstehen Werkzeuge, die genetische Information gezielt korrigieren können. Außerhalb des menschlichen Körpers ist dies bereits gelegentlich möglich. Von einer klinischen Anwendbarkeit dieser Ansätze sind wir heute jedoch leider noch recht weit entfernt.
Wir danken für das Gespräch
Das Interview führte Jana Böhme
- Siehe dazu die Notiz „Neuer Krebsfall nach Gentherapie“ auf Seite 32 in diesem Heft.
- Onkogene sind Teile des Genoms einer Zelle, die den Übergang vom normalen Wachstumsverhalten der Zelle zu ungebremstem Tumorwachstum fördern.
Dr. Manfred Schmidt ist Biologe und seit 2005 Sektionsleiter Molekulare Therapie und Gentherapie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Lexikon
Die Gentherapie basiert auf der Idee, Erbkrankheiten zu behandeln, in dem das „krank machende Gen“ durch eine korrigierte Version ausgetauscht wird. Hierfür werden den Patienten Blutstammzellen entnommen, in deren Genom das therapeutische Gen eingeschleust wird. Bislang wurden für dieses Verfahren modifizierte Retroviren als Transportmittel, so genannte Genfähren verwendet, die die Fähigkeit haben, sich direkt in das Erbgut der Empfängerzelle einzubauen. Nachdem die Zellen verändert wurden, gibt man sie den Patienten zurück.
Die angeborene Immunkrankheit X-Scid gilt als eine der Modellkrankheiten der Gentherapie, nachdem französische Forscher bei ihrer Behandlung zum Teil langfristige Erfolge erzielen konnten. Bei X-Scid verhindert ein Gendefekt, dass sich ein funktionierendes Immunsystem entwickelt. Betroffen sind ausschließlich Jungen. Sie sind anfällig für Infektionskrankheiten jeder Art und können ohne entsprechende Behandlung oder eine Abschirmung in einem sterilen Zelt nicht überleben. Bei einigen X-Scid Patienten kann mit einer geeigneten Knochenmarksspende ein eigenständiges Immunsystem ausgebildet werden. Auch diese Behandlung birgt unter Umständen tödliche Risiken.
(mf)