Rezension: Leben mit der genetischen Diagnose

Das Konzept der prädiktiven Medizin vergisst das Individuum

Wie lebt es sich mit einer genetischen Diagnose? Es ist nicht die erste Studie und sicher auch nicht die letzte, die sich mit den Auswirkungen der prädiktiven Medizin auf Lebensalltag und –entwurf von Menschen beschäftigt, aber es ist eine lesenswerte. Am Beispiel der familiären adenomatösen Polyposis (FAP), einer dominant vererbten Darmkrebserkrankung, untersucht Mechthild Schmedders aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive das Verhältnis von medizinischem Angebot und Bedürfnissen der ("Noch-Nicht"-) PatientInnen. Dass sie dabei ganz real auf die Verbesserung der Versorgung orientiert ist, sollte nicht abschrecken, die Stärken des Buches liegen woanders. Schmedders hat aus Interviews mit sechzehn von der FAP Betroffenen drei Beispiele ausgewählt, an denen sie zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit genetischen Diagnosen umgehen. Sie kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Ein positives Gentestergebnis führt immer zu großer Verunsicherung, auf die Menschen mit individuellen, lebensgeschichtlich geprägten Strategien reagieren. Die beinah die Hälfte des Buches füllenden konkreten Geschichten sind es, die die Studie lesenswert machen. Hier bekommen LeserInnen zum Beispiel eine anschauliche Vorstellung davon, was "direktive Beratung" bedeutet – und auch, warum sie nicht sein dürfte. Großvisionen - etwa der Public-Health-Genetik - erteilt Schmedders eine klare Absage: Genetische Diagnostik ist keinesfalls der Königsweg zu mehr Vorbeugung und sie erweitert Handlungsmöglichkeiten nicht zwangsläufig. Ein grobes Missverhältnis, so Schmedders Fazit, besteht zwischen medizinischen "Lösungen" und dem, was Betroffene suchen: Vor allem Raum für die aus der Diagnose erwachsenden Ängste und ganz persönlichen Entscheidungskonflikte.

Erschienen in
GID-Ausgabe
167
vom Dezember 2004
Seite 54 - 55

Uta Wagenmann war Mitarbeiterin des GeN und GeN-Vorstandsmitglied.

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