Warum lesen PolitikerInnen Zeitung?

Wissenschaftsbezogene Medienberichterstattung im politischen Alltag

Ohne Expertise geht in der Politik heute nichts mehr. Wissenschaftliches Expertenwissen schöpfen PolitikerInnen – wie andere Bürger auch - aus Tageszeitungen, wie eine neue Studie für die Themenfelder „Stammzellforschung“ und „Public Health“ herausfand. Haben sie keinen exklusiveren Zugriff auf Expertise
Expertise ist heute in der politischen Auseinandersetzung unverzichtbar. PolitikerInnen suchen den Zugang zu wissenschaftlicher Expertise, um politische Entscheidungen rational zu begründen und damit die Schlagkraft ihrer Politik zu erhöhen.(1) Aus diesem Grund hat sich ein elaboriertes System wissenschaftlicher Politikberatung auf den verschiedensten Politikebenen und -feldern entwickelt. Ob in Umwelt-, Wirtschafts-, Gesundheits- oder Bildungspolitik, auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene – Expertenwissen offeriert den politischen Entscheidungsträgern Ideen, Argumente und Lösungsvorschläge für ihre Entscheidungsfindung. Expertise – produziert in wissenschaftlichen Expertensystemen außerhalb des politischen Raums – ist dabei immer problembezogenes Wissen, das sich auf die Beratung und Problemlösung konkreter Regelungsbereiche (zum Beispiel Gesundheit) oder auf politische Entscheidungen als solche (zum Beispiel die Regulierung von Risiken) bezieht. Die Kontakte zwischen PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen sind in Beratungskommissionen, die während der parlamentarischen Arbeit eingesetzt werden, sowie durch regelmäßige Sachverständigen-Anhörungen in der Parlamentsausschussarbeit und in Auftrag gegebene Gutachten fest im politischen Alltag verankert. Vielfach haben sich auch persönliche Kontakte zwischen einzelnen Parteien oder PolitikerInen und WissenschaftlerInnen entwickelt, die in einer dauerhaften persönlichen wie auch institutionalisierten Beratung und Zusammenarbeit münden.

Expertise in Konkurrenz um Deutungshoheit

Aber nicht nur Parlamentarier, sondern auch die Regierung, Ministerien oder Interessenverbände berufen sich in politischen Debatten auf Expertise. Politische Akteure konkurrieren dabei um die jeweils neuesten Forschungsergebnisse, was in dem Phänomen der Gegenexpertise deutlich wird. Die Konkurrenz um das neueste und deshalb vermeintlich überzeugendste Wissen treibt die Expertise über den vermeintlich sicheren Wissensbereich hinaus. Dadurch fließen Erkenntnisse, die noch nicht abgesichert sind, in die politische Diskussion. Dieses politische Ringen um den neuesten Erkenntnisstand verstärkt die Nachfrage nach Expertise inflationär, führt die Politik aber gleichzeitig in ein Legitimationsdilemma: Unsichere und umstrittene Expertise ist zur Legitimation politischer Entscheidungen wenig überzeugend, was zu einem Autoritätsverlust der wissenschaftlichen Politikberatung führt. Aufgrund dieses weitreichenden Legitimationsdefizits werden zunehmend Forderungen laut, in dem politischen Entscheidungsprozess einen breiteren Diskurs zuzulassen. Nicht nur die einseitig von den Politikern nachgefragte Expertise soll politische Entscheidungen vorbereiten, sondern auch nicht adressierte Experten und Laien (zum Beispiel in Konsensuskonferenzen). Doch auch die neu eingeforderte zivilgesellschaftliche Teilhabe kann das Grunddilemma im Umgang mit Expertise nicht auflösen: Die Legitimation der politischen Entscheidung wird dann allein dadurch erreicht, dass der Entscheidungsgegenstand vorher Gegenstand eines kontroversen Diskurses war. Der Soziologe Peter Weingart und seine Kollegen bezeichnen diese neue Form der politischen Legitimationssicherung als „Diskursivierung“.(2)

Expertise in den Massenmedien

Eine öffentlich sichtbare und damit legitimationssichernde Arena für die Diskursivierung sind die Massenmedien: Sie fungieren als öffentliche Bühne für einen Diskurs mit Teilnehmern, die sich untereinander nicht kennen. Wer in den Medien auftreten kann, bestimmen die Medien selbst. Hier gelten die medialen Regeln der Berichterstattung, was sie als neu, interessant, unterhaltend, kurz: als berichtenswert auswählen. Wie zahlreiche kommunikationswissenschaftliche Studien herausgearbeitet haben, konstruieren die Medien durch spezifische Selektions- und Präsentationslogiken Medienwirklichkeiten, die auf die Bevölkerungs- wie Politikagenda wirken. Für politische Akteure haben die Spielregeln der Medien Konsequenzen. Sie geben vor, wer lösungsbedürftige Probleme medienöffentlich verhandeln darf und wie Probleme, die auf die Medienagenda gelangen, konstruiert und verhandelt werden. Die politische Kommunikationsforschung hat sich deshalb in jüngster Zeit vor allem damit beschäftigt, wie sich das politische System auf die Medien einstellt, um ihre Botschaften medienöffentlich zu vermitteln. Damit rückt die Kommunikatorfunktion der politischen Entscheidungsträger in den Mittelpunkt der Betrachtung. PolitikerInnen werden dabei ausschließlich als Kommunikatoren und Bürger ausschließlich als RezipientInnen konzeptionalisiert. Bewertet man die Medien hingegen als Informationskanal und Partizipationsvoraussetzung für Bürger und politische wie zivilgesellschaftliche Akteure gleichermaßen, stellt sich die Frage, wie die am Mediendiskurs beteiligten Akteure die Medienkommunikation rezipieren. Dies gilt im besonderen Maß für wissenschaftsbasierte Themen und Probleme, da dort nicht nur politische Positionen und Meinungen kommuniziert werden, sondern auch über Wissenschaft und Expertise berichtet wird.

Die Rezeption medialvermittelter Expertise

Im Gegensatz zu Studien, die die Rezeption der Medienberichterstattung beim allgemeinen Medienpublikum analysieren, ist über die Rezeption der am Politikprozess beteiligten Akteure kaum etwas bekannt. In unserer Studie befragten wir deshalb 39 politische Entscheidungsträger aus Legislative, Exekutive und zivilgesellschaftlichen Verbänden, die in den wissenschaftsbasierten Themenfeldern „Public Health“ und „Stammzellforschung“ arbeiten, wie sie medienvermittelte wissenschaftliche Expertise nutzen und wahrnehmen. Unsere Interviews belegen, dass politische Entscheidungsträger die Massenmedien parallel, aber unterschiedlich intensiv nutzen. Das grundsätzliche Bedürfnis, sich über Massenmedien zu informieren, ist bei allen befragten Interviewpartnern hoch. Durchschnittlich investieren sie dafür ein bis zwei Arbeitsstunden pro Tag. Bei der Frage nach der persönlichen Mediennutzung zeichnet sich eine eindeutige Präferenz für die Printmedien ab. Insbesondere überregionale Tageszeitungen und Pressespiegel, die nahezu jede politische Institution mit hohem Zeit- und Personalaufwand im eigenen Haus produziert, werden als erstes genannt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und der Berliner Tagesspiegel sind nach unserer Studie die drei wichtigsten Leitmedien im politischen Raum. Auch das neue Medium Internet wird sehr intensiv und kontinuierlich genutzt, wohingegen Fernsehen und Radio nur situativ morgens und abends eingeschaltet werden. Im Internet wird zu spezifischen fachwissenschaftlichen Themen über Nachrichtenticker, Suchmaschinen und wissenschaftliche Datenbanken recherchiert. Aus der parallelen Mediennutzung lassen sich unterschiedliche Nutzungsansprüche und -bedürfnisse der PolitikerInnen ableiten. Die Presse bietet beispielsweise eine schnelle Orientierung im politischen Geschehen, da sie die aktuelle politische Debatte abbildet und kommentiert. Der politische Diskurs, der in der Presse geführt wird, scheint die Diskurse in den anderen Medien – insbesondere Fernsehen und Radio, aber auch Internet – zu dominieren, so dass er zum medialpolitischen Leitdiskurs avanciert. Der Nachrichtenticker, der über das Internet verfolgt wird, ist dagegen das Medium, was zeitlich am intensivsten genutzt wird. Diesen bezeichnen die politischen Akteure aber nicht als Leitmedium, sondern nur als erste beziehungsweise schnellste Informationsquelle. Der Nachrichtenticker befriedigt damit – ähnlich wie die Radiosendungen am Morgen – das reine Informationsbedürfnis nach Neuigkeiten, aktuellen Themen und Ereignissen. Die Internet-Suchmaschinen und Datenbanken sind dagegen wichtige Informationsquelle für nachgesuchte Informationen, die zumeist wissenschaftlicher Natur sind. Fernsehnachrichten liefern dagegen am Abend keine neuen Informationen, sondern stillen einen anderen Nutzungsanspruch: Sie werden genutzt, um die Vermittlung von politischen Botschaften zu überprüfen.

Die Wahrnehmung medialvermittelter Expertise

Da die Befragten die Massenmedien so intensiv und differenziert nutzen, drängt sich die Frage auf, wie sie die Medien subjektiv wahrnehmen und welche Vorteile die Medienberichterstattung im Vergleich zu institutionalisiert verfügbarer Expertise bietet. Als Akteure, die politische Entscheidungsprozesse mitgestalten, unterscheiden die von uns befragten Interviewpartner grundsätzlich zwischen zwei Funktionen, die die Massenmedien zu erfüllen haben. Medien sollen einerseits Politik darstellen und vermitteln und andererseits Bürger aufklären und informieren. Interessanterweise beziehen die Befragten beide medialen Funktionen auch auf sich: Als Teil des als symbiotisch charakterisierten Systems von Politik und Medien kämpfen sie für die Deutungshoheit der politischen Darstellung in den Medien. Gleichzeitig wollen sie als Medienrezipienten – wie die Bürger – umfassend und seriös von den Medien informiert werden. Die interviewten PolitikerInnen beobachten jedoch, dass sich wissenschaftsbasierte Themen in den Medien nur schwer gegenüber politischen Themen durchsetzen können. Auch wenn die Medien das Themenfeld in rubrizierten Magazinen im Fernsehen oder auf Wissenschaftsseiten in der Presse bearbeiten, haben wissenschaftsbezogene Berichte kaum einen Nachrichtenwert in den Medien. Sie fristen ein unpolitisiertes Schattendasein, das nur Fachinterne oder besonders Interessierte anspricht. Nur die Stammzelldebatte habe – so die Interviewten – den Sprung auf die Seite eins und damit in die gesellschaftspolitische Diskussion geschafft. Warum informieren sich politische Entscheidungsträger dennoch über wissenschaftliche Expertise in den Medien, wo sie sich einer Vielzahl anderer Wissensquellen bedienen können? Als erstes nennen die Befragten Attribute, die die Medien in ihrem Selbstverständnis beschreiben: Medien sind leicht zugänglich, individuell nutzbar und berichten stets ereignisbezogen und tagesaktuell. Darüber hinaus charakterisieren die Befragten Medien explizit positiv. Sie wertschätzen, dass Medienberichte Nachrichten in politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Zusammenhänge einbetten und kommentieren, dass sie zudem verständlich, vereinfachend und zusammenfassend verfasst sind und obendrein verlässliche, das heißt seriöse Informationen enthalten. Wenn die Journalisten allerdings den Bogen überspannen und zu vereinfachend, pointierend oder auch differenzierend schreiben, schlägt die positive Medienkritik in den Interviews schnell in negative um. In der – zum Teil recht drastischen – Medienschelte werden Medienberichte dann als falsch, verzerrt, oberflächlich, sensationsheischend oder gar populistisch charakterisiert. Aber auch hier zeigen die interviewten PolitikerInnen ihre Souveränität als Player im medialen System: Sie wissen welche Zeitungen sie wie lesen müssen, um bei der Lektüre für ihre tägliche politische Arbeit profitieren zu können.
  1. Der Artikel beruht auf den Ergebnissen der Studie „Medien, Expertise und politische Entscheidung“, die von Mai 2005 bis Oktober 2006 an der Leuphana Universität Lüneburg durchgeführt wurde. Sie ist Teil des Projektverbunds „Integration wissenschaftlicher Expertise in öffentliche Diskurse“ (Projektleitung: Prof. Dr. Hans Peter Peters, Forschungszentrum Jülich) und wurde im Rahmen des BMBF-Programms „Wissen für Entscheidungsprozesse“ gefördert (vgl. Peters, Hans Peter et al. im Druck: Medialisierung der Wissenschaft als Voraussetzung ihrer Legitimierung und politischen Relevanz, in: Neidhardt, Friedhelm et al.: "Wissen für Entscheidungsprozesse". Bielefeld: transcript).
  2. Weingart, Peter et al. 2002: Die gesellschaftliche Diskussion wissenschaftlichen Fortschritts in den Massenmedien. Der Fall Biotechnologie und Biomedizin. Expertise im Rahmen der „Ausschreibung von Expertisen im Themenfeld Politik, Wissenschaft und Gesellschaft“. Bielefeld: unveröffentliches Manuskript.
Seite 50 - 52

Dr. Imme Petersen ist Sozialwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Technologiefolgenabschätzung der modernen Biotechnologie in Medizin und Neurowissenschaften am Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt (BIOGUM) der Universität Hamburg.

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Prof. Dr. Harald Heinrichs ist Juniorprofessor für Sustainable Development and Participation am Institut für Umweltkommunikation der Leuphana Universität Lüneburg.

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