Mehr als Hofberichterstattung
Kommentar von Rainer Hohlfeld
Die Idee einer neuen Form der Unterrichtung der Gesellschaft über Wissenschaft ist aktuell, weil die Bedeutung des Wissens sich verändert hat. Nicht umsonst wird von der „Wissensgesellschaft“ gesprochen, da Wissen bis in alle Fasern das wirtschaftliche und alltägliche Leben durchdringt. Von der Mikrofaser bis zum Analogkäse, der Tiefseeölbohrung und dem Smartphone - alles hat seine wissenschaftlichen Grundlagen. Jeder und jede ist davon betroffen. Und was alle betrifft, geht alle an. Das war schon in der antiken Polis so, und das ist europäische Tradition geworden. Daher müssen alle - repräsentiert durch die „Öffentlichkeit“ - an den entscheidenden Weichenstellungen der Wissenschaftspolitik beteiligt werden. Das war nicht immer so.
1. Hofberichterstattung
Die erste Form der Beteiligung beinhaltete der Idee nach bloß Zustimmung, nach dem Motto: Die Unterrichtung über die wahren Ergebnisse der Wissenschaft kann unter den Zuhörern eigentlich nichts anderes hervorbringen als Zustimmung. Zu denken ist an die legendären Kosmos-Vorlesungen von Alexander von Humboldt in der Berliner Singakademie. Das war öffentliches, wenn auch sehr feierliches Theater. Denn diese Form der Unterrichtung war eine Einbahnstrasse. Ein kundiger Priester predigte einer andächtig lauschenden Gemeinde von Wissenschaftsgläubigen. Fragen nach dem Zweck des gesamten Unternehmens, nach dessen Folgen gar, entsprachen nicht dem Zeitgeist und waren unschicklich. Die Wissenschaft produzierte neue Wahrheiten über die Welt und was sie im Innersten zusammenhält, nämlich die ehernen Naturgesetze, und das war jenseits allen Zweifels. Die Aufgabe der Wissenschaft in der Unterrichtung des Volkes war also klar: populäre und verständliche Darstellung des aktuellen Standes des Wissens über die Welt. Der Wissenschaftsjournalismus war reine „Hofberichterstattung“, deren Glorifizierung der Großtaten deutscher Forscher und Entdecker nicht enden wollte.
2. Beginn eines eigenständigen Journalismus
Schon mit dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gab es - wegen der Industriefinanzierung - Zweifel an der unabhängigen Wissenschaft. Die wurden nicht geringer, als sich herausstellte, dass der Nobelpreisträger für Chemie, Fritz Haber, Giftgas für die Kriegsfront herstellte. War das mit der Wahrheitssuche vereinbar? Das zweite Großereignis, welches das Wissenschaftsbild der Öffentlichkeit erschütterte, war das Praktisch-werden der in Berlin-Dahlem von Hahn und Meitner entdeckten Kernspaltung in der Form einer Atombombe, die in Japan 200.000 Menschen vernichtete und unzählige strahlenkrank machte. Wissenschaft als Wegbereiter des Krieges?
3. Kritik an wissenschaftlicher Erklärungsmacht
Aber nicht nur aus politischen, sondern auch aus philosophischen und historischen Gründen regten sich Zweifel an dem durch die Wissenschaftler in der Öffentlichkeit vermittelten Bild: Wissenschaft als ein neutrales Unternehmen, nur von beobachtbaren, jedem im Prinzip zugänglich Tatsachen geleitet, aus denen dann durch Generalisierung auf dem Wege der „Induktion“ ein Naturgesetz abgeleitet werden konnte. Dieser „Induktivismius“ wurde in der Folgezeit mit guten Gründen bestritten. Der Zerfall der wissenschaftlichen Autorität ist mit den Namen Duhèm, Popper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend verbunden. Aus alledem resultiert ein Bild von Wissenschaft als ein menschlich-kulturelles Unternehmen, wandelbar und fehlerhaft, aber doch geeignet zur Beherrschung der Natur durch Technik. Das ist der Ausgangspunkt für jede Verständigung über Wissenschaft.
4. Wissenschaft und Folgenverantwortung
Nach den Atombombenabwürfen über Japan wird der Wissenschaft nicht mehr abgenommen, dass sie für die Folgen ihres Tuns nicht verantwortlich ist. Das gilt ganz konkret für die biologischen und biotechnologischen Zeitbomben. Seit Rachel Carsons Buch „Stummer Frühling“ (1963) sind die verheerenden Folgen des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft für die Arterhaltung bekannt. Die Chemiker aber, die das Insektizid „DDT“ entworfen haben, hatten die biologischen Folgen nicht im Kalkül ihres Designs. Diese Ausblendung des biologischen Kontextes erwies sich als charakteristisch für die Chemie dieser Zeit. Die Chemie war „kontextblind“. Die Kontextblindheit ist auch das Problem der „sanften“, biotechnologischen Produktion: Denn das Design neuer Organismen ist mit einem Nichtwissen der Auswirkungen in der Umwelt erkauft. Es war eine kritische, das heißt aufgeklärte und im Kontext denkende Öffentlichkeit erforderlich, die von den herrschenden Gentechnologen eine Risikobewertung und Kontext-Forschung einforderte. Hier liegen die zarten Wurzeln für das, was man einen kritischen Wissenschaftsjournalismus nennen könnte. Statt begleitender Berichterstattung ist eine Perspektive gefragt, die über die - vielleicht zwangsweise - beschränkte Perspektive des Laborforschers hinausgeht. Wissenschaftsberichterstattung ist damit kein einfaches Geschäft. Sie muss Wissen und Wissen über die Kontexte und ihre jeweiligen Akteure vermitteln. Und sie muss dies mit der erforderlichen Sensibilität und Aufgeklärtheit für Zusammenhänge und Folgen tun. Doch der Wissenschaftsjournalismus unserer Tage hat von alledem, so scheint es, noch nie was gehört. Die wissenschaftsjournalistische Berichterstattung tut immer noch so, als lebten wir in den Zeiten von Humboldt. Forschung und Wissenschaft werden uns immer noch als Abbild der realen Welt vorgegaukelt, die wir bestaunen dürfen - mehr aber auch nicht.
Rainer Hohlfeld (†07.12.2020) war Biologie und Wissenschaftsphilosoph und zuletzt Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Berlin. Hier finden Sie den Nachruf: