Zwischen Emanzipation und Selbstmanagement
Einführung
Die Forderung nach Selbstbestimmung durchzieht Geschichte und zum Teil auch Gegenwart diverser sozialer Bewegungen. Zugleich werden im öffentlichen Raum mit der Rede vom allseits selbstbestimmten Individuum Selbstmanagement und Entscheidungszwänge zu Freiheitsgewinnen umgedeutet. Grund genug, den Begriff näher unter die Lupe zu nehmen.
Selbstbestimmt leben!“, „Mein Bauch gehört mir!“, „Für sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!“ - das sind nur einige der Slogans, die deutlich machen, wie wichtig der Begriff der Selbstbestimmung für soziale Bewegungen war und ist, die sich gegen staatliche, institutionelle oder medizinische Diskriminierung und Bevormundung wehren. Erinnert sei hier nur an die emanzipatorische Behindertenbewegung oder an die feministisch-queeren Kämpfe für reproduktive Rechte und gegen die Diskriminierung von Frauen, Schwulen, Lesben, Trans* und Inter*. Doch so eingängig deren Forderungen nach einem selbst bestimmten Leben oder nach reproduktiver, geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung sind, so zwiespältig ist der Begriff: Einerseits gilt Selbstbestimmung als nicht verhandelbare politische Bedingung, ohne die es keine echte Gleichberechtigung geben kann; sie muss durch den Schutz vor Gewalt, Fremdbestimmung und Pathologisierung abgesichert werden. Andererseits gehört die Berufung auf Selbstbestimmung zu den zentralen Instrumenten neoliberaler Marktlogik. Der Begriff ist Bestandteil heutiger Individualisierungsstrategien und oft nicht zu trennen von Normen eines „gesunden“, „effizienten“ und „präventiven“ Körper- und Verhaltensmanagements. In dieser Verbindung des Begriffs mit modernen Selbst-Technologien sind auch die Gründe dafür zu suchen, warum die Berufung auf Selbstbestimmung einer Ausweitung pränataler Selektion Vorschub leisten kann. Diese Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten waren der Ausgangspunkt für ein vom Gen-ethischen Netzwerk (GeN) im vergangenen November gemeinsam mit dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien organisiertes wissenschaftliches Kolloquium an der Humboldt-Universität Berlin unter dem Titel „Selbstbestimmung in Körper-, Sexual- und Reproduktionspolitik - Potentiale und Probleme“. Die Mischung aus politischen Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen - nicht wenige in Doppelfunktion - sowohl unter den Referent_innen als auch im Publikum sorgte für einen differenzierten, kritischen und offenen Gedankenaustausch. Mit dem vorliegenden Heft nehmen wir den Faden dieser Diskussion erneut auf und setzen die Suche nach Möglichkeiten der (Wieder-) Aneignung des Selbstbestimmungsbegriffs fort.
Selbstbestimmt leben!“, „Mein Bauch gehört mir!“, „Für sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!“ - das sind nur einige der Slogans, die deutlich machen, wie wichtig der Begriff der Selbstbestimmung für soziale Bewegungen war und ist, die sich gegen staatliche, institutionelle oder medizinische Diskriminierung und Bevormundung wehren. Erinnert sei hier nur an die emanzipatorische Behindertenbewegung oder an die feministisch-queeren Kämpfe für reproduktive Rechte und gegen die Diskriminierung von Frauen, Schwulen, Lesben, Trans* und Inter*. Doch so eingängig deren Forderungen nach einem selbst bestimmten Leben oder nach reproduktiver, geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung sind, so zwiespältig ist der Begriff: Einerseits gilt Selbstbestimmung als nicht verhandelbare politische Bedingung, ohne die es keine echte Gleichberechtigung geben kann; sie muss durch den Schutz vor Gewalt, Fremdbestimmung und Pathologisierung abgesichert werden. Andererseits gehört die Berufung auf Selbstbestimmung zu den zentralen Instrumenten neoliberaler Marktlogik. Der Begriff ist Bestandteil heutiger Individualisierungsstrategien und oft nicht zu trennen von Normen eines „gesunden“, „effizienten“ und „präventiven“ Körper- und Verhaltensmanagements. In dieser Verbindung des Begriffs mit modernen Selbst-Technologien sind auch die Gründe dafür zu suchen, warum die Berufung auf Selbstbestimmung einer Ausweitung pränataler Selektion Vorschub leisten kann. Diese Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten waren der Ausgangspunkt für ein vom Gen-ethischen Netzwerk (GeN) im vergangenen November gemeinsam mit dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien organisiertes wissenschaftliches Kolloquium an der Humboldt-Universität Berlin unter dem Titel „Selbstbestimmung in Körper-, Sexual- und Reproduktionspolitik - Potentiale und Probleme“. Die Mischung aus politischen Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen - nicht wenige in Doppelfunktion - sowohl unter den Referent_innen als auch im Publikum sorgte für einen differenzierten, kritischen und offenen Gedankenaustausch. Mit dem vorliegenden Heft nehmen wir den Faden dieser Diskussion erneut auf und setzen die Suche nach Möglichkeiten der (Wieder-) Aneignung des Selbstbestimmungsbegriffs fort.
Selbstbestimmung und Freiheit
Dabei versuchen unsere Autor_innen, über die Annahme hinaus zu denken, wonach Selbstbestimmung und Autonomie gesellschaftliche Akzeptanz und die Freiheit von Repression garantieren. Diese Gleichung ist zu einfach, auch wenn die Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre - darauf verweist Ulrike Baureithel in ihrem Tagungskommentar - zum Teil genau darauf hoffte, wenn sie Selbstbestimmung nicht nur als Abwehrrecht, sondern auch als „liberalen Partizipationsanspruch“ dachte und formulierte. Oder die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die viel für Emanzipation und Autonomie behinderter Menschen erreicht hat: Udo Sierck macht darauf aufmerksam, dass spätestens mit der Debatte um den Bioethiker Peter Singer und das Existenzrecht behinderter Menschen in den 1990er Jahren auch hier deutlich wurde, dass mehr Selbstbestimmung nicht gleichzusetzen ist mit „grundlegender Akzeptanz“. Was also kann Selbstbestimmung heute sein? Der praktischen Bedeutung des Begriffs gehen wir in zwei ganz verschiedenen Richtungen nach: Um die rechtliche Codierung von Selbstbestimmung und Autonomie im Zusammenhang mit Reproduktionstechnologien im allgemeinen und konkret um die Funktion der Begriffe bei den Regelungen zur Präimplantationsdiagnostik (PID) dreht sich das Gespräch mit der Medizinrechtlerin Tanja Henking. Thema des Interviews mit Konstanze Plett und Adrian de Silva hingegen ist die Bewegungsrelevanz des Selbstbestimmungskonzeptes. Beide berichten sowohl aus aktivistischer wie wissenschaftllicher Perspektive über die Kämpfe von Trans* und Inter*, unterstreichen die Forderung nach geschlechtlicher Selbstbestimmung und erklären deren Bedeutung in den aktuellen Auseinandersetzungen um Geschlechternormen. Aber kann der Begriff auch über einzelne Bewegungen hinaus positiv besetzt werden in einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung wie selbstverständlich mit Selbstverantwortung und Entscheidungszumutungen einhergeht? Um Antworten auf diese Frage zu finden, setzt Susanne Schultz feministische Diskussionen um Selbstbestimmung zur Perspektive der Gouvernementalitätsstudien in Beziehung und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die Forderung nach Selbstbestimmung vor allem zur Abwehr „repressiver Zugriffe“ taugt, sich aber nicht per se dafür eignet, längerfristige gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, sondern der Begriff entlang der jeweilig relevanten Handlungskontexte ausgedeutet werden muss. Und Rebecca Maskos befragt, ausgehend von den Kämpfen behinderter Menschen, die Idee von Selbstbestimmung und Autonomie ganz grundsätzlich, denn diese Idee schließt Schwäche und Abhängigkeit aus. Statt aber Abhängigkeit überwinden zu wollen, gehe es vielmehr darum, ein Leben „mit und in diesen Abhängigkeiten“ zu gestalten.Nur ein Konstrukt?
Ist Selbstbestimmung also nur ein Konstrukt, temporär einsetzbar, und noch dazu sowohl zu emanzipatorischen wie zu machtpolitischen Zwecken? Eine abschließende Antwort kann dieser GID-Schwerpunkt nicht geben. Aber wir hoffen, dass das Heft dazu beiträgt, die Diskussion um den Begriff der Selbstbestimmung, um seine Funktion und seine Tauglichkeit in den biopolitischen Auseinandersetzungen unserer Zeit voranzubringen. Eins, so scheint uns, machen die ansonsten so verschiedenen Beiträge des Heftes direkt oder indirekt nahezu alle deutlich: Der Kampf dreht sich wohl zuallererst um die Bedingungen, unter denen Selbstbestimmung möglich werden kann - und zwar die, die wir meinen ...
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GID-Redaktion