Vom kleinen Reiskorn zur großen Alternative
Von MASIPAG lernen
Der Schutz so genannten geistigen Eigentums prägt viele Debatten. Bei der Software-Entwicklung kommen erfolgreich alternative Schutzinstrumente zum Einsatz, die sich möglicherweise auch auf Pflanzenzüchtungen anwenden lassen.
Die alternativen Lizenzen zum Umgang mit so genannten geistigen Eigentumsrechten der Organisation Creative Commons (CC) und vergleichbare Initiativen haben in den letzten etwa 20 Jahren vor allem bei der Entwicklung von Software und bei kreativen Werken weite Verbreitung gefunden. So sind etwa alle Texte der Wikipedia frei lizenziert. Den Variationen dieser Systeme ist gemein, dass Nutzung, Weiterverbreitung und Weiterentwicklung des jeweiligen Gutes vereinfacht werden soll. Die Funktstionsweise steht damit im Gegensatz zu der Rechtslogik der Copyright-Systematik, bei der die Nutzung - mit Ausnahme weniger Zwecke - ohne Einwilligung der Schöpferin oder des Schöpfers nicht erlaubt ist. Hier sind Weitergabe an und Lizensierung für andere der Standard. Bei alternativ lizenzierter Software hingegen wird der so genannte Quellcode - der von Menschen lesbare Text eines Programms - veröffentlicht. So kann er von anderen Programmiererinnen und Programmierern benutzt und weiterentwickelt werden. Nicht selten sind auch die Produkte selbst kostenlos - das muss aber nicht sein. Einige alternative Lizenzen erzwingen die „Weitergabe und Verbreitung unter gleichen Bedingungen“. Sie schützen damit eine sehr einfache Idee: Wer aus der Allmende nimmt, sollte wieder etwas zur Allmende beitragen. Nur aus dem Gemeingut schöpfen gilt nicht! Das Prinzip ist als Copyleft bekannt (siehe dazu auch den Kasten auf S. 16).
Vom Code zum Korn
Seit mindestens drei Jahren geistert nun die Idee durch die Welt, ein solches System auch auf die Züchtung von Nutzpflanzen und -tieren zu übertragen. Der Diskussionsprozess gewinnt derzeit an Fahrt, und das nicht nur in Deutschland. So hatte der Verein zur Förderung der standortgerechten Landnutzung in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, AGRECOL, im September 2012 zu einem Workshop auf den Dottenfelder Hof (in Bad Vilbel, Hessen) geladen. Bauern und Züchter, Menschen aus Entwicklungsorganisationen oder agrarpolitischen Vereinen gingen dort gemeinsam der Frage nach, ob man gemeinsam ein Schutzsystem für geistige Eigentumsrechte für Kulturpflanzen und Nutztiere entwickeln kann, das sich an der Copyleft-Logik orientiert. Man kann. Man muss sogar, so mein Fazit. Aber bis dahin wird es noch ein weiter Weg sein. Ein sehr inspirierender Vortrag kam von Lorenz Bachmann, der über die philippinische Bauernorganisation MASIPAG berichtete und den Workshop-TeilnehmerInnen das „Farmer-Led Participatory Plant Breeding“ 1 vorstellte. MASIPAG, Magsasaka at Siyentipiko Para sa Kaunlaran, heißt soviel wie: Landwirte und Wissenschaftler für Entwicklung. MASIPAG ist Inspiration für die Copyleft-Saatgut-Debatte!
Gemeinsam züchten, nach Bedarf nutzen
Die Bäuerinnen und Bauern von MASIPAG haben sich intensiv mit den Folgen der so genannten Grünen Revolution auseinandergesetzt: Verlust an Kulturpflanzenvielfalt, höhere Kosten durch zunehmenden Pestizideinsatz, versauerte Böden und mehr Abhängigkeit durch zunehmende Verschuldung ohnehin schon armer Bauern. Von genetischem Imperialismus ist mitunter die Rede, denn so genanntes „modernes“ Saatgut - in der Regel Hybridsaatgut oder genmanipuliertes Saatgut 2 - ist für viele Bauern unerschwinglich. Wenn sie es kaufen wollen, benötigen sie meist einen Kredit. Wenn sie dann kaufen, drücken die Schulden, denn Zinssätze zwischen 25-50 Prozent sind in den Tropen weit verbreitet. Zudem sind die „modernen“ Kultursorten meist für spezifische Anbaubedingungen optimiert. Unter anderen Bedingungen bringen sie oft keine Vorteile. Hier setzt MASIPAG mit seiner Arbeit für Selbstermächtigung, Vielfalt und Nachhaltigkeit an. Die Bauern identifizieren zunächst das gemeinsame Züchtungsziel - etwa die Anpassung an bestimmte Böden oder klimatische Bedingungen - sie bestimmen die Regeln für die Auswahl des „Elternmaterials“ (parent materials), wählen dann dieses Material aus, züchten nach den selbstbestimmten Kriterien und bringen das Saatgut ständig in bäuerliche Nutzung, um die Ergebnisse Schritt für Schritt zu beobachten und wieder in den Züchtungsprozess einspeisen zu können.
Säen und ernten, statt handeln und profitieren
MASIPAG hat vor über einem Vierteljahrhundert mit 30 Sorten angefangen. Ursprünglich war die Idee, das gemeinschaftlich gezüchtete Saatgut nicht zu verkaufen, sondern - unter den Mitgliedern - frei zu tauschen. Die MASIPAG-Bauern tauschen auf ihren Jahresversammlungen oder Regionaltreffen, und selbstredend geben sie „ihr“ Saatgut auch an Nichtmitglieder weiter. Sie schenken. Verkauft wird aber auch. Man könnte es so ausdrücken: Das System ist nicht völlig offen. Es kann sich nicht jedermann darin nach Gutdünken bedienen. Wie in jeder funktionierenden Allmende gibt es klar gezogene Grenzen. Aber es gibt auch Grenzübergänge und diese werden nicht vom Staat und auch nicht von einem Saatgutmulti kontrolliert, sondern von den Bäuerinnen und Bauern selbst. MASIPAG lehnt Saatguthandel mit Profitstreben genauso strikt ab wie Patente auf Saatgut. Kleinbäuerlicher Tausch oder Verkauf hingegen werden akzeptiert. Doch auch hier ist die Grundidee: Saatgut gehört niemandem allein. Das heißt: Jede und jeder darf nachbauen, ohne Gebühren zu zahlen. Das läuft dem Trend in der internationalen Saatgutpolitik völlig entgegen.
Was taugt und was nicht
Deshalb können die philippinischen Bauern, die MASIPAG-Saatgut nutzen, aus 100 Gramm Reissaatgut durch eigenen Nachbau genug Saatgut für den weiteren Bedarf erzeugen. Zudem lernen MASIPAG-Bauern durch die permanente Praxis von Saatgutpflege und -selektion. Sie dürfen dann neue „Selektionen” benennen, was ihnen zwar eine hohe soziale Anerkennung bringt, aber keine Bezahlung der züchterischen Leistung. Ein grundsätzliches Problem ist das nicht, denn es geschieht ja beides zugleich: Züchtung und Eigenbedarfs- beziehungsweise Erwerbsanbau. Der Begriff „Selektion/Auswahl” (englisch: selection) statt „Sorte” (englisch: variety) ist übrigens ganz bewusst gewählt, erzählt Lorenz Bachmann. „Sorten“ leben ja, so erklärt er, sie entwickeln sich ständig weiter. „Daher sehen manche Felder nicht so gleichförmig aus“. Andererseits, und das ist schlau, umgehen die Bauern mit dem Begriff der Selektion das philippinische Sortenschutzgesetz. Die MASIPAG-Selektionen werden - im Vergleich zu den in der Pflanzenzucht sonst üblichen Zeiträumen - zu einem relativ frühen Zeitpunkt von den Bauern angebaut, denn „Stabilität“, die homogene Erscheinung der Pflanzen über mehrere Generationen, ist ein Kriterium für eben jene offiziellen Sortenzulassungsverfahren, auf die MASIPAG keinen Wert legt. Die Überzeugung lautet stattdessen: Nicht die Sortenzulassungsbehörde weiß, was gut ist, sondern nur in der Nutzung durch die Bäuerinnen und Bauern wird klar, was wirklich taugt und was nicht. Taugt die Sorte, wird sie durch prosaische Beschreibung dokumentiert. Eine genetische Dokumentation erfolgt nicht. Die Veröffentlichung dieser Dokumentation ist wichtig, denn sie verhindert, dass eine Sorte nachträglich - von Dritten - patentiert und damit angeeignet werden kann.3 Wenn die Bäuerinnen und Bauern bei MASIPAG über die Ziele der Züchtung entscheiden, dann ist ihre Leitfrage: Was brauchen wir? Gute und stabile Erträge ohne chemische Düngung, Salzwasserverträglichkeit, zeitige Reifung, Resistenz gegenüber Krankheiten, mittlere Halmhöhen, eine hohe Bestockungsfähigkeit, lange und mehr Körner pro Rispe, gute Verzehreigenschaften und vieles mehr. Wer so fragt, kommt zu anderen Ergebnissen, als ein Unternehmen, dessen Leitfrage stets lautet: Was lässt sich am besten auf dem Markt verkaufen? In einer Misereor-Evaluierung von 2008 wurde festgestellt, dass es MASIPAG-Bauern im Vergleich zu den konventionellen Kollegen im Land deutlich besser geht: Sie haben ein besseres Einkommen, mehr Nahrungsmittel zur Eigenversorgung, bessere Gesundheitsindikatoren und vergleichbar gute Reiserträge. In der Studie wurden über 90 Forschungsfragen untersucht. Bei mehr als 80 Fragen schnitten die MASIPAG-Bauern besser ab.4
Kreativ teilen und lernen
Wo immer Menschen etwas gemeinsam tun, muss das Problem gelöst werden, die verfügbaren Ressourcen so zu teilen, dass sich alle fair behandelt fühlen und niemand mehr leisten muss, als er kann. Auch hier liefert MASIPAG Inspiration. Da für den Erwerb zusätzlicher Felder in der Regel das Geld (oder das Land) fehlt, rotieren mitunter die Flächen für den Versuchsanbau von Kleinbauer zu Kleinbauer oder die Zucht findet auf den Äckern eines etwas besser gestellten Bauern statt, was diesem wiederum Prestige verleiht. Auch die Kirchen stellen bisweilen Land zur Verfügung. In jedem Fall aber muss, wie bei Commons üblich, die passende Lösung vor Ort gefunden werden. Manchmal helfen MASIPAG-Mitglieder bei den für die Züchtung notwendigen Arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden. So lernen sie, die Qualität des Saatguts, dass sie selber nachbauen dürfen, auf Dauer zu erhalten. Klingt einfach und logisch? Ist es aber nicht! In Deutschland sind Anbau und Zucht in der Regel stark voneinander getrennt. Die Bauern verfügen nicht mehr über das notwendige Wissen, das für die Züchtung benötigt wird. Und Zeit haben sie auch nicht. Züchterinnen und Züchter befinden sich hier in einer völlig anderen Situation als nicht-züchtende Bäuerinnen und Bauern. Weshalb sich die Frage, wie mit Züchtung Einkommen generiert werden kann, immer wieder in den Vordergrund schiebt. Das gilt auch für die Züchter von angepassten Sorten für den biologisch-dynamischen Anbau, zu dem Hybridsaatgut oder genmanipuliertes Saatgut so gar nicht passen will. Werden aber keine tragfähigen Modelle für alternative Züchtungsprozesse gefunden und geschützt (so wie MASIPAG sie entwickelt hat), wird das noch mehr Abhängigkeit von immer weniger großen Saatgut- und Chemiegiganten mit sich bringen. Und noch weniger Kulturpflanzenvielfalt. MASIPAG hat heute etwa 35.000 Mitglieder, die in 650 Ortsgruppen organisiert sind. Sie haben über 1.090 traditionelle Reissorten zusammengetragen und aus diesem Material bislang 1.085 neue Selektionen gezüchtet. Diese sind besonders gut an die Bedürfnisse vor Ort angepasst. In drei großen Backup-Farms pflegt und erhält die Organisation diese eindrucksvolle Sortenvielfalt und stellt sie über regional angepasste Sortimente von 50-100 Sorten den Bäuerinnen und Bauern in den Dörfern kostenlos zur Verfügung (village level trial farms). Das Konzept konnte sich so weit verbreiten, weil MASIPAG irgendwann beschloss, „die Versuchsstation zu den Bauern zu bringen“, beschreibt Bachmann. Dort, auf deren Feldern, sind die „farmer-bred-selections“ entstanden. Das Paradigma der modernen Agrarforschung wird so wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Bauern werden zu Forschern. Sie erproben, welche Sorten auf dem eigenen Hof am besten wachsen und entwickeln dabei die Fähigkeit, das Saatgut systematisch zu verbessern.
Vom Korn zum Code
Eine offizielle Studie der Philippinischen Agrarforschung 5 förderte zu Tage, dass im Jahr 2002 bereits auf 9,1 Prozent der untersuchten Betriebe MASIPAG-Saatgut angebaut wurde. Hochgerechnet auf die gesamten Philippinen würde dies bedeuten, dass seinerzeit mindestens eine halbe Millionen Bauern MASIPAG-Saatgut nutzte. Die massive Verbreitung gelang ganz ohne Werbebudgets, durch gemeinschaftliches Züchten und Teilen. Für ein Land, in dem genmanipuliertes Saatgut extrem beworben wird und gentechnisch veränderter Mais bereits einen Anteil von 40 Prozent der Anbaufläche erreicht hat, ist das mehr als bemerkenswert. Der Ansatz des Farmer-Led Participatory Plant Breeding ist nicht nur einleuchtend, er zeigt auch: Saatgutzucht und Softwareprogrammierung haben sehr viel gemein. Beide schöpfen aus dem Pool der Allmendressourcen. Beide sind für die Kontrolle über unsere Lebensbedingungen enorm wichtig. Bei Saatgut geht es darum, wer was unter welchen Bedingungen anbauen darf, was letztlich unsere Speisepläne bestimmt. Bei Software geht es darum, wer welchen Code zu welchen Zwecken nutzen darf, was letztlich Kulturtechniken bestimmt. Doch auch der Blick auf die Prozessdetails ist spannend. So existiert in der Programmierung von freier Software ebenso wie bei MASIPAG das Prinzip der zeitigen Freigabe - so genannte Beta-Versionen von Computer-Programmen werden von den Nutzerinnen und Nutzern im Alltag getestet. Nur sie können sagen, was sie wirklich brauchen, nicht der Markt. Wer diesen Gemeinsamkeiten von Korn und Code auf den Grund geht, wird verstehen, warum die bei Ökonomen so beliebte Unterscheidung nach rivalen und nicht-rivalen Ressourcen zwar wichtig ist, aber einem Realitäts-Check kaum standhält. Rival nennt man jene Dinge, die weniger werden, wenn wir sie teilen. Nicht-rivale Ressourcen hingegen werden mehr, wenn sie von mehreren Personen genutzt werden. Will ich etwa einen Apfel (rival) zu zweit nutzen, dann kann jeder nur die Hälfte essen. Bei Ideen, Wissen oder Code ist das anders. Im wirklichen Leben aber ist das eine immer in das andere eingeschrieben. Auch Software(-programmierung) hat eine „rivale“ Basis: die Hardware, die Energie und die Pizza. Erst wenn der Programmierer damit versorgt ist, kann Software mehr werden, wenn wir sie teilen. Ebenso klebt beim Saatgut das eine am anderen. Der genetische Code und das Anbauwissen (nicht rival) ist in das Korn (rival) eingeschrieben. Ist das Korn weg, ist auch der Code weg. Und die Kultur. Das zeigt der schwindelerregend fortschreitende Schwund der Kulturpflanzenvielfalt. Hier wurde in wenigen Jahrzehnten knapp gemacht, was Menschen über Jahrtausende gemeinsam gezüchtet haben. Wenn wir aber von den Prinzipien MASIPAGs - den Prinzipien der Commons - lernen und diese auf die Situation bei uns anwenden, wird Saatgut wieder, wie es immer war: Immer mehr, wenn wir es teilen.
- 1Etwa: Von Farmern geleitete partizipative Pflanzenzüchtung.
- 2Beiden ist gemein, dass sie in der Regel nicht oder nicht ohne den Zwang zur Zahlung von Lizenzen nachgebaut werden dürfen.
- 3Die Grundhaltung in der Organisation und der „kreative Umgang mit dem Recht“ führen dazu, dass MASIPAG-Selektionen etwa nach den Regeln des Internationalen Verbandes zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (UPOV) nicht patentierbar sind. Das UPOV-Regelwerk hatte übrigens das Nachbaurecht bis 1978 noch eingeräumt. Seit 1991 wird es indes erheblich eingeschränkt.
- 4MASIPAG wird von Misereor, dem Hilfswerk der katholischen Bischöfe, finanziell unterstützt. Siehe zum Beispiel: www.kurzlink.de/gid215_y.
- 5C. C. Launio, G. O. Redondo, J. C. Beltran, Y. Morooka (2008): Adoption and Spatial Diversity of Later Generation Modern Rice Varieties in the Philippines. Agronomy Journal, Band 100, Ausgabe 5, S. 1380-1389.
Silke Helfrich ist selbständige Autorin, Moderatorin und Bloggerin. Sie ist Mitbegründering der Commons Strategies Group und lebt in Jena. Ihre Texte finden sich zum Beispiel unter www.commonsblog/wordpress. com.
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