Der Protest muss wieder lauter werden!

Interview mit Behindertenaktivistin Hannelore Witkofski

Die Behindertenaktivistin Hannelore Witkofski kritisiert den G-BA-Beschluss Bluttests für Schwangere auf Trisomie21 zur Kassenleistung zu machen. Sie befürchtet die Ausweitung pränataler Screenings und ruft zu mehr Widerstand auf.

Demonstration Inklusion statt Selektion

Unter dem Motto Inklusion statt Selektion fand am 10. April 2019 eine Demonstration hauptsächlich von Menschen mit Trisomie 21 und ihren Familien in Berlin statt. Foto: Kirsten Achtelik (c)

Der nichtinvasive Bluttest auf die Trisomien 13, 18 und 21 wird wohl ab Ende nächsten Jahres von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, das hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 19. September 2019 beschlossen. Was macht Ihnen daran Sorgen?

Ich war sehr erstaunt, dass es nach der G-BA-Entscheidung keinen Protest gab. Im Vorfeld hatten eine ganze Reihe Initiativen protestiert und Erklärungen abgegeben, warum sie das falsch fänden, wie die gute und ausführliche Stellungnahme des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik. Danach kam aber gar nichts mehr, das habe ich sehr bedauert.

Wir haben immer vor der Ausweitung der pränatalen Diagnostik gewarnt, schon seit Ultraschall und die invasive Fruchtwasseruntersuchung eingeführt wurden. Nur kurz nach dem Beschluss des G-BA wurde bekannt, dass ein Test auf unter anderem Mukoviszidose auf den deutschen Markt kommt. Es geht also immer weiter.

Ich habe bisher wenig dazu gehört wie das mit dem nichtinvasiven Test und der Kassenzulassung in der Praxis funktionieren wird. Was passiert denn, wenn die Schwangere in die Praxis kommt? Brauchen die Schwangeren eine Indikation? Machen die Gynäkolog*innen ein Angebot? Wird das extra vergütet und wenn ja, wie hoch? Für die Interaktion zwischen Schwangerer und Ärzt*in ist das ja nicht irrelevant, ob es da ein finanzielles Interesse gibt.

Die Bluttests haben keinen therapeutischen Nutzen, die einzige Entscheidung, die die Frau treffen kann, ist das Kind zu bekommen oder einen Abbruch zu machen. Mit der Kassenzulassung der Tests wird die Verantwortung weiter auf die einzelne Frau verschoben. Ich befürchte, dass die eugenischen Abtreibungen wegen einer Beeinträchtigung des Fötus zunehmen werden.

Sie waren Teil der behindertenpolitischen Bewegung, die sich gegen pränatale Diagnostik und humangenetische Beratungsstellen eingesetzt hat. Können Sie davon berichten?

Es gab bundesweite Zusammenschlüsse gegen Euthanasie und Eugenik, in denen haben Menschen mit und ohne Behinderung zusammengearbeitet. Wir haben zum Beispiel Aktionen gegen den australischen Philosophieprofessor Peter Singer gemacht, der sogar die Tötung behinderter Babys und Kleinkinder befürwortet. Als er Ende der 1980er Jahre in Deutschland auftreten wollte, haben wir nicht nur dagegen protestiert, sondern die Veranstaltungen auch gesprengt und verhindert.1

Die Antieugenik-Bewegung und andere Aktivist*innen haben überhaupt erst in die Diskussion gebracht, was während des Nationalsozialismus an Eugenik und Euthanasie2 passiert ist, was ja auch schon vorher, seit ca. 1900 diskutiert wurde. Wir haben viel darüber geredet, was die Kontinuitäten sind und haben da Veranstaltungen zu gemacht und Texte geschrieben. Ungefähr wie heute die Klimaaktivist*innen wollten wir auf Probleme aufmerksam machen und dass nachdrücklich etwas dagegen getan wird.

Wie beurteilen Sie die heutigen Proteste, was würden Sie sich wünschen?

Ich hätte mir gewünscht, dass sich hinterher mehr Leute und Initiativen noch mal gemeldet hätten und dass der Protest lauter gewesen wäre. Dass auch von Menschen mit Behinderung selbst mehr Kritik kommt, gerne auch etwas Aufsehenerregenderes, Drastischeres, was auch der Situation angemessen ist. Ich habe Angst, dass die Dinge heute nicht mehr beim Namen genannt werden, dass alle sich nur noch so weichgespült ausdrücken. Wir müssen wieder mehr bewusst machen wie Eugenik mit Euthanasie zusammenhängt, was der Bluttest mit Behindertenfeindlichkeit zu tun hat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Kirsten Achtelik.

  • 1 Auch 2015 gab es Proteste gegen Auftritte von Peter Singer in Deutschland: https://no218nofundis.wordpress.com/2015/05/11/ke…
  • 2Als „Euthanasie“ (zu deutsch: guter Tod) bezeichneten die Nationalsozialist*innen ihre systematischen Programme zur Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Leiden. Bekannt ist vor allem das Programm T4. Was in anderen Ländern als Euthanasie bezeichnet wird, wird in Deutschland „Sterbehilfe“ genannt.
17. Dezember 2019

Hannelore Witkofski ist Behindertenaktivistin, seit Mitte der 1970er Jahre setzt sie sich kritisch mit dem Nationalsozialismus und der aufkommenden Pränataldiagnostik auseinander. Heute ist sie Mitglied bei autonom Leben in Hamburg.

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