Krankenhauspolitik verändern!

Kritik am durchökonomisierten Gesundheitssystem

In der Coronapandemie offenbaren sich – massiv verdichtet – die Probleme eines Gesundheitswesens, das über Jahrzehnte marktförmig und profitträchtig umgestaltet wurde. Diese Krise könnte eine Chance für Einsichten und Veränderungen sein.

Das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik besteht seit Mai 2015. Wir kämpfen dafür, dass Krankenhäuser Einrichtungen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge werden und nicht Wirtschaftsunternehmen bleiben. Deshalb kritisieren wir das Fallpauschalensystem (DRG-System)1 , das der Motor für die Kommerzialisierung und die Privatisierung des Gesundheitswesens in Deutschland ist. Wir fordern, dass allein der medizinische Bedarf ausschlaggebend dafür sein soll, ob und wie Patient*innen behandelt werden. Wir haben dieses Bündnis gegründet, um uns einzumischen in die öffentliche Debatte über dieses bewusst installierte marktwirtschaftliche Steuerungsinstrument. Aufklärungsarbeit sehen wir als unsere zentrale Aufgabe an und haben eine Broschüre 2 mit Argumenten gegen das DRG-System veröffentlicht. Sie soll medizinisches Personal und gesundheitspolitisch tätige Aktivist*innen informieren und als Aufklärungsmaterial dienen. Im März dieses Jahres haben wir die vollständig überarbeitete Neuauflage unserer Broschüre gedruckt – und sie kam zur richtigen Zeit. Im Frühjahr 2020 traf die Coronapandemie in Deutschland auf ein Gesundheitswesen, in dem sich die aus der Ökonomisierung der Krankenhäuser resultierenden Widersprüche zwar schon zugespitzt hatten, das aber technisch zunächst gut ausgerüstet schien. Die Zahl der Intensivbetten ist laut OECD in Deutschland mit circa 33,9 pro 100.000 Einwohner*innen die höchste in der EU und um ein Vielfaches höher als beispielsweise in Italien (ca. 8,6), Spanien (ca. 9,7) oder Frankreich (16,3).3 Wie ist das zu erklären?

Absicht: Marktbereinigung?

Der Abbau von Betten beziehungsweise Krankenhäusern in Form einer „Marktbereinigung“ war die „Hidden Agenda“, also der nicht offen ausgesprochene Zweck der Unterwerfung des gesamten Krankenhaussektors unter Markt- und Konkurrenzlogiken. Dazu wurden schon in den 1980er Jahren Gewinne ermöglicht, die vorher schlichtweg verboten waren. Alle gesetzlichen Regelungen von Personalquoten wurden abgeschafft und das DRG-System eingeführt, sodass alle Krankenhäuser wie Unternehmen auf einem Markt agieren mussten. Das Kalkül der Gesundheitsökonom*innen und Politiker*innen war scheinbar, dass kleinere – oft despektierlich so genannte – „Wald- und Wiesenkrankenhäuser“ über die Sachzwanglogik des Marktes von allein verschwinden würden. Die kaufmännischen Direktor*innen verhielten sich jedoch der dem Kapitalverhältnis immanenten Dynamik folgend und machten ihre Krankenhäuser „fit für den Markt“ bzw. die kapitalistische Konkurrenz, indem sie sie zu „kleinen Maximalversorgern“ ausbauten. Da unter DRG-Bedingungen Operationen z.B. in der Orthopädie und der Kardiologie besonders lukrativ sind, wurden viele solcher Abteilungen hochgerüstet und die Zahl der Intensivbetten (und Intermediate Care-Betten – IC-Betten) und mit ihnen die Patient*innenzahlen entsprechend hochgefahren, denn im DRG-System werden nur „warme“ Betten bezahlt.

Auch wenn bis 2017 fast 20 Prozent der 1991 registrierten Krankenhäuser geschlossen wurden, was zu einer erheblichen Abnahme der Bettenzahlen führte, haben wir in Deutschland immer noch relativ viele Häuser und Betten.4 Das wurde dann in der Pandemie-Krise plötzlich von allen als Merkmal von Qualität und Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens angesehen. Auch von denen, die noch Ende letzten Jahres nichts anderes auf der Agenda hatten, als die Schließung von ca. 35 Prozent aller Betten und von einer entsprechend großen Zahl von Krankenhäusern, wie etwa die Bertelsmann-Stiftung oder die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina.5 Mit der Coronapandemie verschob sich die Debatte. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wird nicht müde zu betonen, dass Deutschland mit seiner im europäischen Vergleich hohen Dichte insbesondere von Intensivbetten gut auf Corona vorbereitet sei und über „ein vergleichsweise gut bis sehr gut ausgestattetes Gesundheitssystem“ 6 verfüge. Was gestern also noch eines der größten Probleme des deutschen Krankenhauswesens gewesen sein soll, verwandelt sich von einem auf den anderen Tag in ein wichtiges Argument für die „Leistungsfähigkeit des Deutschen Gesundheitswesens“.

Vom Markt zum Zwang

Nun sind aber Betten und (Beatmungs-)Maschinen nur ein Teil der Versorgung von Patient*innen. Vor allem braucht es gut ausgebildetes Personal in der entsprechenden Anzahl – und das ist bei schwer erkrankten Covid19-Patient*innen zum Teil eine Pflegekraft pro Patient*in. Es ist davon auszugehen, dass diesem Bedarf in Deutschland derzeit nicht entsprochen werden kann. Mit der Einführung der DRG wurde die Pflege endgültig zu einem Kostenfaktor im Preissystem degradiert und der schon seit den 1990ern beginnende Abbau der Pflegestellen beschleunigte sich. Dieser betriebswirtschaftlichen Logik folgend sanken in den Jahren um die DRG-Einführung die Pflegestellen bundesweit von 350.000 (1995) auf 258.000 (2007) VK; dies entspricht einem Stellenabbau um 26%, während die Patient*innenzahlen seit Einführung der DRGs immer weiter anstiegen.7 Entsprechend nahm die Zahl der Patient*innen pro Pflegekraft zu. Der Fachkräftemangel in der Pflege ist also Resultat dieser Politik der Ökonomisierung. Heute, in Zeiten der Pandemie, führt das zu Überlegungen, Medizinstudent*innen und Beschäftigte, die den Beruf wegen der unsäglichen Bedingungen verlassen haben, zu zwingen, an der Versorgung teilzunehmen.8 Auch dies eine wenig überraschende Kehrseite der naiven Marktgläubigkeit. Wenn der „Markt versagt“, fällt den Ideolog*innen schlicht nichts anderes ein als Zwang. Dass zwischenzeitlich von „Kriegswirtschaft“9 die Rede war, macht dies überdeutlich. Auch andere liberale Glaubenssätze wurden vorübergehend außer Kraft gesetzt: Mit der gleichen Sorglosigkeit, die auch das Robert-Koch-Institut noch Ende Januar von einer unbedenklichen Gefahrenlage sprechen ließ, schien man sich bis vor Ausbruch der Coronapandemie auf die Märkte zu verlassen, die schon dafür sorgen würden, dass zum Beispiel Atemschutzmasken, die aus Kostengründen größtenteils in China und Indien produziert werden, in ausreichender Anzahl vorhanden sein würden. Auch größere Vorräte hielt man nicht für nötig. Als nun im Frühjahr der Markt Wucherpreise für medizinisches Material hergab, gab es in den Unionsparteien z.B. Überlegungen die Preise dafür politisch festzusetzen.

Die Krise offenbart das Scheitern von Markt und Konkurrenz

Doch die Materialfrage ist nicht das einzige aus der Ökonomisierung entstandene Problem: Das Ministerium forderte die Krankenhäuser auf, erst einmal keine planbaren Eingriffe mehr zu machen, um Kapazitäten freizuhalten für Covid-19-Patient*innen. Da im DRG-System aber nur „warme Betten“ bezahlt werden, wurde versprochen, entstehende Defizite auszugleichen. Während die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und auch der Ärzt*innenverband Marburger Bund eine Aussetzung des DRG-Systems bis Ende des Jahres forderten, hat das Gesundheitsministerium ein Gesetz verabschiedet, mit dem dieses beibehalten und von einem komplizierten Kompensationssystem für Erlösausfälle und Mehrkosten flankiert wird. Das Ministerium – so scheint es – will den Systembruch unter allen Umständen verhindern. Jedes Krankenhaus bekommt nun pro leeres Bett und Tag zwischen 560 und 760 Euro. Ob dies ausreicht, hängt von vielen Bedingungen ab. Der Streit darum ist voll entfacht.

Es ergeben sich aber noch mehr Probleme: Die privaten Träger müssen sich nicht an die Weisung des Ministeriums zu planbaren Eingriffen halten, denn hier gibt es kein Zugriffsrecht der Politik. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hatte sich Ende März für eine bundesweit zentrale Verteilung von Covid-19-Patient*innen auf die Krankenhäuser des Landes ausgesprochen, wenn der Höhepunkt der Infektionszahlen erreicht würde. Die Bundesregierung müsse so schnell wie möglich eine zentrale Stelle einrichten, die Patient*innen bundesweit auf weniger ausgelastete Kliniken verteile. Damit eine solche länderübergreifende Verteilung funktioniere, müssten zudem Kliniken mit Intensivstationen staatlich verpflichtet werden, ihre Kapazitäten im bundesweiten Intensivregister der DIVI zu melden. Von Marktsteuerung ist da kaum mehr die Rede. Wissenschaftliche Fürsprecher*innen, zum Beispiel Prof. Reinhard Busse von der TU Berlin, fiel angesichts der Pandemie plötzlich ein, dass die neoliberalen Handlungsprinzipien nun nicht mehr gälten. Busse sprach sich für einen Umstieg von Wettbewerb auf (freiwillige) Kooperation aus. Beispielsweise sollten Versorgungsregionen gebildet werden.10 Wie das gehen soll in einem vollkommen fragmentierten und teilprivatisierten Krankenhaus-Sektor, verrät Busse aber nicht.

Proteste zeigen Wirkung

Nun muss man fairerweise auch erwähnen, dass Gesundheitsminister Jens Spahn schon vor dem coronabedingten Lockdown eine Abkehr von Markt- und Preismechanismen vollzogen hatte. Massive Proteste und Streiks von Beschäftigten, vor allem aus der Pflege, aber auch von Bürger*innen in „Bündnissen für mehr Personal“ hatten in vielen Krankenhäusern und Städten die Gesundheitspolitik so unter Druck gesetzt, dass seit 2019 die Pflege (am Bett) nicht mehr DRG-finanziert wird, sondern über ein Selbstkostendeckungsprinzip (alle durch Pflege entstehenden Kosten werden auf Nachweis bezahlt). Dies bedeutete in diesem Bereich eine Abkehr von Markt und Ökonomisierung. Auch hatte Spahn minimalistische (Pflege-)Personalvorgaben („Pflegepersonaluntergrenzen“) für die Krankenhäuser eingeführt und war Ende des Jahres sogar bereit für eine gesetzliche Personalregelung in den Krankenhäusern insgesamt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und ver.di haben ein Instrument zur Bemessung der Anzahl der Pflegekräfte entwickelt, das sie „PPR2.0“ nennen. Damit knüpfen sie an die alte Pflegepersonalregelung aus den Zeiten vor der Ökonomisierung an. Über all dies wird angesichts der Pandemie gerade gar nicht mehr öffentlich gesprochen, aber die Beschäftigten und Aktivist*innen haben das auf dem Schirm und halten den Druck weiter aufrecht – mit Maske und Schutzabstand.

Dass dies nötig ist, zeigten die ersten Maßnahmen von Jens Spahn nach Ausbruch der Pandemie: Er ließ die Pflegepersonaluntergrenzen vorerst wieder außer Kraft setzen und – das erzürnte die Pflege-Branche noch viel mehr – er machte es möglich, dass im Krankenhaus 12-Stunden-Schichten gefahren werden können. Und dies, obwohl die Erfahrungen in Wuhan/China gezeigt haben, wie gefährlich die Arbeit nach mehr als sechs Stunden in Schutzkleidung und unter sehr schweren Bedingungen bei Coronapatient*innen ist. Hier wird die Gesundheit der Pflegenden und die der Patient*innen aufs Spiel gesetzt. Wertschätzung sieht anders aus. Applaus hin oder her!

Fazit: Es braucht vernünftige und solidarische Lösungen der Probleme. Alles, was unter anderem vom Bündnis Krankenhaus statt Fabrik schon lange an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens kritisiert wurde, bewahrheitet sich in der gegenwärtigen Krise und dringt zum Teil weit in die liberale Öffentlichkeit und bis in die konservative Politik ein. Es zeigt sich allerdings, dass den Marktideolog*innen angesichts des Scheiterns des Marktes auf die Schnelle nur staatlich-autoritäre Lösungen einfallen. Was es aber eigentlich braucht, sind gesellschaftliche, solidarische und vernünftige Lösungen. Diese zu formulieren ist unsere Aufgabe als linke Bewegung im Gesundheitswesen. Es braucht ein Selbstkostendeckungsprinzip, eine gesetzliche Personalbemessung und ein Gewinnverbot für die Krankenhäuser.

  • 1Zu den Fallpauschalen siehe auch Achtelik, K. (2020): Schließungen und Unterversorgung. In: GID 252, S. 7f.
  • 2Bündnis Krankenhaus statt Fabrik (2020): Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser - Kritik und Alternativen, 5. Auflage, Maintal. Online: www.krankenhaus-statt-fabrik.de/114 [letzter Zugriff: 29.06.2020].
  • 3SOS Save Our Services (2020): Wie deutsche PolitikerInnen den Gesundheitsnotstand in der EU verschärften. Online: www.kurzelinks.de/gid254-td [letzter Zugriff: 08.07.2020].
  • 4Siehe (1), S. 57ff.
  • 5Busse, R./Ganten, D. et al. (2016): Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, Leopoldina. Online: www.kurzelinks.de/gid254-te [letzter Zugriff: 08.07.2020].
  • 6Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel, Bundesgesundheitsminister Spahn und RKI-Chef Wieler (11.03.2020). Online: www.kurzelinks.de/gid254-tf [letzter Zugriff: 08.07.2020].
  • 7Siehe (1), S. 82ff.
  • 8Ärzteblatt (30.03.2020): Nordrhein-Westfalen will Zugriffsrechte auf Krankenhäuser und medizinisches Personal erweitern. Online: www.kurzelinks.de/gid254-tg [letzter Zugriff: 08.07.2020].
  • 9Seibt, G. (21.03.2020): Außerordentliche Gewinne in außerordentlichen Zeiten. Beatmungsgeräte aus der Autofabrik? In: Süddeutsche Zeitung. Online: www.kurzelinks.de/gid254-tp [letzter Zugriff: 10.07.2020].
  • 10Nachzuhören beim DRG Forum: www.bibliomedmanager.de/drgforum/news/ [letzter Zugriff: 08.07.2020].
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
254
vom August 2020
Seite 7 - 9

Nadja Rakowitz ist Medizinsoziologin und Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) und im Bündnis Krankenhaus statt Fabrik aktiv.

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht