Ganz offen antidemokratisch

Der „Marsch für das Leben“ 2025

Wie jeden September ruft die Anti-Choice-Bewegung hier in Deutschland wieder zum „Marsch für das Leben“ auf. Hatte der Bundesverband Lebensrecht sich in den vergangenen Jahren noch um einen gemäßigten Auftritt bemüht, schlägt er in diesem Jahr andere Töne an. 

Eine leere Bühne. Oben unter der Decke ein Banner mit der Aufschrift "Marsch für das Leben". Auf der Bühne ein Rednerpult und ein großes Holzkreuz.

Haben rechts offensichtlich viel Platz: Bühne beim "Marsch für das Leben". Foto: Leonhard Lenz (cc)

Am 20. September ist es wieder soweit: Die selbsternannte „Lebensschutzbewegung“ wird ihre Forderungen nach einem vollständigen Abtreibungsverbot auf die Straßen Berlins – und nun bereits zum dritten Mal auch Kölns – tragen. Aus den ersten Jahren des damals noch unter dem Namen „1000 Kreuze Marsch“ firmierenden Auflaufs kennt man noch folgendes Bild: Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch in der ersten Reihe hinter dem Fronttransparent sowie Plakate, die Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust vergleichen. Seitdem hatte sich hinter den Kulissen des Marsches viel getan: Vor allem nach außen wollte man vermeiden, in der rechten Schmuddelecke gesehen zu werden. So inszenierte man in den vergangenen Jahren einheitlich vorgedruckte Schilder, vorne die „Jugend für das Leben“ oder andere nicht parteipolitisch bekannte Personen. Die Verbindungen waren freilich nie verschwunden – aber ganz so offensichtlich wollte man sie nicht präsentieren.

Der gesamtgesellschaftliche Rechtsruck und die damit einhergehende Diskursverschiebung scheinen jedoch auch die Organisator*innen des Marsches ermutigt zu haben, bestimmte Botschaften wieder ganz unverhohlen auszusenden. Im diesjährigen Aufruf für die Demonstrationen schreiben die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht Alexandra Maria Linder und ihr Stellvertreter Prof. Dr. med. Paul Cullen: „Der Wind dreht sich.“ Dabei nehmen sie unter anderem Bezug auf die Kampagne, die Frauke Brosius-Gersdorfs Kandidatur als Richterin am Bundesverfassungsgericht untergrub. 

Unverhohlene Freude über vereitelte Richter*innenwahl

Die von der SPD vorgeschlagene Staatsrechtlerin hatte in der Kommission zu reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin die stellvertretende Koordination der Arbeitsgruppe inne, deren Aufgabe es war, Möglichkeiten zur Legalisierung von Abtreibung auszuloten. In dem im Frühjahr 2024 vorgelegten Abschlussbericht der Kommission hatte Brosius-Gersdorf den Abschnitt zur verfassungsrechtlichen Einschätzung beigesteuert – wie es ihrer fachlichen Expertise entspricht. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass sich aus dem Grundgesetz keine Notwendigkeit einer grundsätzlichen Strafbewehrung von Schwangerschaftsabbrüchen ableitet. Dies reichte aus, um eine beispiellose Diffamierungskampagne gegen Brosius-Gersdorf loszutreten.

Eigentlich war die Wahl von Brosius-Gersdorf nur noch eine Formalie: Die Regierungsparteien hatten sich dazu längst abgestimmt, ein gewöhnliches Prozedere. Doch plötzlich signalisierte die Union, die Kandidatin nicht länger unterstützen zu wollen.Zuvor hatten Akteur*innen aus der Anti-Choice-Bewegung, wie die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) und die Kampagne 1000plus, Abgeordnete dazu aufgerufen, die Nominierung zu verhindern – Brosius-Gersdorf sei eine radikale Linke, eine Abtreibungsaktivistin, die die Menschenwürde nicht respektiere. Besonders die Unionsfraktion wurde mit den Anschreiben ins Visier genommen. Hier erhoffte man sich den größten Effekt – mit Erfolg. 

Gezielte Kampagne von rechts

Doch die Briefe aus dem christlich-fundamentalistischen Spektrum standen nicht allein. Vielmehr waren sie Teil eines konzertierten Angriffs aus rechten und antifeministischen Netzwerken. Anfangs fokussierten die Stimmungsmacher*innen vor allem auf ein mögliches AfD-Verbotsverfahren, dessen Prüfung Brosius-Gersdorf befürwortet hatte, schließlich zeigte sich aber ein anderes Thema als erfolgversprechender, um Unions-Abgeordnete zu gewinnen: der Schwangerschaftsabbruch. Dies zeigt eine Analyse des Thinktanks polisphere. Laut dessen Auswertung war das gezielte Agieren auf Social-Media, vor allem auch durch AfD-Accounts, von großer Bedeutung. So stellte u.a. Beatrix von Storch die Falschbehauptung auf, Brosius-Gersdorf befürworte legale Abbrüche bis zum neunten Schwangerschaftsmonat). Eine besondere Rolle spielten auch sogenannte alternative Medien. Hierzu zählt auch das zumindest rechtspopulistische Onlineportal Nius, gegen das immer wieder Beschwerden wegen Verstößen gegen die journalistische Sorgfaltspflicht eingehen und das regelmäßig mit Falschbehauptungen und Übertreibungen arbeitet. Immer mehr Medien griffen die Fehlinformationen über die Juraprofessorin auf, online tobten erbitterte Debatten. Und die Union ließ unmissverständlich durchblicken, dass sie der Nominierung von Brosius-Gersdorf nicht zustimmen würde. Diese ließ angesichts dieser Aussichtslosigkeit schließlich ihre Kandidatur fallen.

Beifall beim Bundesverband Lebensrecht

Führen wir uns nochmal kurz vor Augen, was hier passiert ist: Mit einer gezielten Schmähkampagne gehen rechte und christlich-fundamentalistische Akteur*innen gegen eine fachlich qualifizierte, angesehene Juristin vor, da ihnen ihre Positionen zu progressiv erscheinen. Sie machen aus der durchaus eher gemäßigt auftretenden Brosius-Gersdorf eine vermeintliche linksradikale Aktivistin, sie stellen Falschbehauptungen auf. Sie nehmen die Abgeordneten der Union gezielt ins Visier – und haben damit Erfolg. Damit verhinderten rechte und konservative Netzwerke nicht nur die unliebsame Kandidatin, sondern sie hebeln mithilfe von Fake News einen demokratischen Usus aus und untergruben die vor der Kampagne eigentlich sichere Zweidrittelmehrheit für Brosius-Gersdorf. 

Der Aufruf zum anstehenden „Marsch für das Leben“ klingt dazu folgendermaßen: „Wir im Bundesverband Lebensrecht freuen uns über diese Entwicklung.“ Dass die Anti-Choice-Organisation sich über das Scheitern einer Kandidatin freut, an deren Verhinderung Personen aus ihren Reihen fleißig mitgearbeitet haben, ist wenig verwunderlich. Bemerkenswert ist aber der offensichtliche Beifall für Fake-News-Portale: Die Causa zeige auch „die wachsende Bedeutung und Vielfalt von bisher weniger einflussreichen und von neuen Medien.“ Für Linder und Cullen sei dies ein „watershed moment“ – ein Wendepunkt, an dem sich alles ändert. 

Der Gebrauch des englischen Begriffs dürfte nicht zufällig gewählt sein, sondern soll wohl eine Parallele zu den USA eröffnen. Auch dort wurde die Wahl von Verfassungsrichter*innen zu einem Schauplatz des rechten Kulturkampfes. Im deutschen Kontext gilt zu beachten, dass das Geschehen eins zu eins dem Drehbuch der AfD entspricht: Laut einer im Juli geleakten Strategie der Partei will die AfD einen Keil zwischen die CDU/CSU und die anderen demokratischen Parteien treiben, der in Zukunft eine Koalition mit der AfD notwendig machen soll. Eines der Themenfelder, in dem die Differenzen unüberbrückbar gemacht werden könnten, ist der Rechtsstatus des Schwangerschaftsabbruchs.  

Falsche Verbündete

Was bedeutet das für das Engagement von uns und unseren Partner*innen gegen selektive Pränataldiagnostik? Die jüngsten Entwicklungen zeigen einmal mehr, dass selbsternannte „Lebensschützer“ keine Verbündeten sind. Die Gründe hinter den Forderungen sind nicht egal – es gibt einen Unterschied zwischen einer Kritik an der inhärenten Behindertenfeindlichkeit selektiver Pränataldiagnostik und einer rigorosen Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen. Denn bei letzterem sind die Rechte behinderter Menschen nicht mehr als ein vorgeschobenes Argument, während es eigentlich um die Kontrolle gebärfähiger Körper und die Aufrechterhaltung veralteter Geschlechter- und Familienbilder geht. Die Nähe zur AfD sowie die Bereitschaft, Kampagnen mit rechten Medien und Plattformen voranzutreiben,  lassen diese Heuchelei offenkundig werden. Zumal diese Akteur*innen in anderen Bereichen, etwa bei der schulischen Bildung, zutiefst behindertenfeindliche Positionen vertreten. Die Mittel, mit denen man für eine Sache streitet, sind ebenso wenig egal. Der Beifall für Hetzkampagnen und rechts-kulturkämpferische Angriffe auf demokratische Institutionen zeigt deutlich: Die „Lebensschutzbewegung“ ist kein geeigneter Partner für alle, denen Behindertenrechte wichtig sind. Sie ist antidemokratisch, antifeministisch und – jetzt auch wieder ganz unverstellt – weit rechts verortet.

 

 

    15. September 2025

    Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.

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