Costa Rica: Ein offenes Versuchslabor

Um Kosten zu senken, lagern Pharmaunternehmen und staatliche Forschungseinrichtungen in Europa und den USA ihre Medikamententests oft ins "günstigere" Ausland aus. Der HPV-Impfstoff Cervarix zur Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs beispielsweise, über dessen Marktzulassung voraussichtlich Mitte des Jahres entschieden wird, wurde an Tausenden costaricanischen Frauen getestet – und dies unter fragwürdigen Bedingungen. Allmählich regt sich dort Widerstand gegen diese neue Form der Kolonialisierung aus dem Norden.

Die ländliche Region Guanacaste im Nordwesten Costa Ricas ist bei Forschern, die sich für den Zusammenhang zwischen bestimmten Viren und Krebserkrankungen interessieren, sehr beliebt. Bereits Mitte der 80er Jahre, so berichtet jedenfalls die einheimische Presse, sollen US-Forscher in den mittelamerikanischen Staat gekommen sein, um Untersuchungen zu den so genannten Humanen Papilloma-Viren (HPV) durchzuführen.(1) Einige Typen dieser Viren, die beim Geschlechtsverkehr übertragen werden, sind erwiesenermaßen krebserregend. Dem ersten Projekt folgte bald ein zweites, ein drittes und schließlich 1993 die Einrichtung des so genannten Epidemiologischen Projekts Guanacaste, PEG. Der costaricanische Mediziner und Projektleiter Rolando Herrero wartet dabei mit Superlativen auf: Nach seiner Darstellung handelt es sich um das bisher weltweit größte wissenschaftliche Projekt zur Untersuchung von HPV-Infektionen.(2) Finanziert wird diese Studie, deren Laufzeit inzwischen bis 2010 verlängert wurde, vom US-amerikanischen Krebsinstitut (NCI), einer Bundeseinrichtung, die für die Koordination der staatlich geförderten Krebsforschung in den USA zuständig ist.

Von der Grundlagenforschung zur Produktentwicklung

In den ersten Jahren ging es dabei vor allem um Grundlagenforschung. Man wollte wissen, welche Faktoren Infektionen mit Humanen Papilloma-Viren begünstigen und inwiefern diese wiederum in Zusammenhang mit – möglicherweise bösartigen – Veränderungen der Gebärmutterschleimhaut stehen. Außerdem sollten Methoden und Techniken zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs getestet werden. Der Anreiz für jene rund 10.000 Frauen, die in den ersten sieben Jahren als Probandinnen teilnahmen, bestand darin, dass sie im Falle auffälliger Befunde entweder direkt im Forschungsprojekt behandelt oder in die staatlichen Krankenhäuser überwiesen wurden.(3) Seit Juni 2004 läuft nun die bisher umfassendste und umstrittenste Phase des Projektes: An 20.000 Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren, so liest man in Berichten der lokalen Presse und des Parlaments, wird der vom britischen Unternehmen Glaxo-SmithKline (GSK) hergestellte HPV-Impfstoff Cervarix getestet - wobei die Hälfte der Probandinnen entsprechend der bei solchen Studien üblichen Vorgehensweise ein Scheinmedikament (Placebo) bekommt.(4) Nach Angaben von Herrero wurde die Rekrutierung und Impfung der Teilnehmerinnen Ende 2005 abgeschlossen. Die Probandinnen wurden – laut einer Informationsbroschüre des PEG – im ersten halben Jahr drei Mal geimpft und sollen sich in den vier darauf folgenden Jahren "mindestens sieben Mal" untersuchen lassen.(5) Der Anreiz für die Frauen besteht in diesem Fall wohl vor allem in der kostenlosen Verabreichung des Medikaments: Die Hersteller von Cervarix versprechen eine Immunisierung gegen zwei HPV-Typen, die für 70 Prozent aller Fälle von Gebärmutterhalskrebs verantwortlich gemacht werden. Wissenschaftlichen Veröffentlichungen zufolge, die allerdings fast ausschließlich von MitarbeiterInnen des PEG und seiner Vorgängerprojekte stammen, ist die Erkrankungsrate für diese Tumorart in Guanacaste im Vergleich zu Europa und den USA, aber auch zum Rest von Costa Rica trotz kostenloser Screening- und Behandlungsangebote überdurchschnittlich hoch. Setzt man die Zahl der Probandinnen ins Verhältnis zur Größe der Bevölkerung von Guanacaste (rund 300.000 – bei einer Bevölkerung von knapp vier Millionen in Costa Rica insgesamt), so kann man bereits von einer Massenimpfung sprechen – eine Dimension, die tatsächlich auch weder von den nationalen Behörden noch von den Verantwortlichen des Projekts bestritten wird. So erklärte die costaricanische Gesundheitsministerin, es sei "ein historischer Meilenstein der Geschichte, dass 22.000 Frauen diesen Impfstoff erhalten werden".(6)

Freundliche Menschen

Was die Ministerin verschweigt: Cervarix ist für den Markt noch nicht zugelassen. Erkenntnisse über seine Wirksamkeit und potentielle Nebenwirkungen sollen erst in den Studien gewonnen werden. Zudem kann - da ja die Hälfte der Frauen per Zufallsprinzip ein Placebo erhalten - keine der Probandinnen sicher sein, dass sie einen potentiellen Schutz gegen HPV erhalten hat. Impfstudien gelten dabei als besonders heikel, denn es geht um invasive medizinische Experimente an Gesunden. Für solche Versuche sind in internationalen Konventionen, die ethische Normen für medizinische Experimente formulieren, bestimmte Mindeststandards festgeschrieben. Dazu gehört beispielsweise die Form der Einwilligungserklärung, welche die Probanden unterschreiben, der so genannte "Informed Consent". Sie soll sicherstellen, dass Menschen nur in vollständiger Kenntnis aller für sie wesentlichen Informationen in die Teilnahme bei medizinischen Studien einwilligen. Im Fall der Impfstudie dürften die wenigsten Frauen, die sich den Experimenten bisher unterzogen haben, über deren Ausmaß und Ziele ausreichend informiert gewesen sein. "Mir hat eigentlich überhaupt niemand etwas erklärt", berichtete beispielsweise eine 23-jährige Frau gegenüber der feministischen Zeitschrift Pregonera. Vom nationalen Fraueninstitut INAMU wurde die Pregonera-Redakteurin Evelyn Vargas Carmona 2005 für ihre Recherchen zu den Hintergründen und Auswirkungen des Epidemiologischen Projekts Guanacaste mit einem Medienpreis ausgezeichnet.(7) In Interviews mit der Zeitschrift zeigten sich viele Frauen über die Behandlung durch die Mitarbeiter des Projektes irritiert. Die zitierte unfreiwillige Probandin etwa hatte sich gegen die Teilnahme an der Studie entschieden, nicht zuletzt, weil sie sich über die Hartnäckigkeit der "freundlichen Menschen" gewundert hat, die eines Tages an ihre Haustür kamen. "Sie haben sogar angeboten, mich mit dem Auto abzuholen und wieder nach Hause zu fahren", berichtete sie, "da haben wir uns schon gefragt, was diese Leute eigentlich für ein Interesse haben".(8) Andere Frauen berichteten, dass sie sich nach der Impfung schlecht gefühlt hätten. Man habe ihnen aber gesagt, das würde sich "bald wieder legen". Einige der Interviewten litten unter plötzlich eintretenden Menstruationsblutungen, wenige Tage nachdem sie eine Impfung erhalten hatten. Einer weiteren Frau spannten noch zwei Monate nach der Impfung die Brüste und "es kam so etwas wie Milch". Als sie daraufhin eine Ärztin konsultierte, habe die ihr nur gesagt, das liege an den "vielen Hormonen". Ungewöhnlich ist auch das Vorgehen der Wissenschaftler beim Double-blind Test. Denn anders als sonst üblich wurde hier der Hälfte der Versuchspersonen nicht ein Placebo, sondern einen Impfstoff gegen Hepatitis A verabreicht hatten. Im Aufklärungsbogen, den die Frauen unterschreiben, heißt es dazu lediglich: "Die Impfung gegen Hepatitis A, die in dieser Studie verwendet wird, ist sehr ähnlich zu den in den Apotheken verkauften Impfstoffen, aber sie wird in einer anderen Dosis verabreicht, damit sie genauso aussieht wie die Impfung gegen HPV".(9)

Im öffentlichen Interesse?

Seit ihrem Start zogen die US-finanzierten Testreihen zunehmend Kritik von verschiedensten Seiten auf sich. Für Diskussionen sorgt dabei unter anderem die Tatsache, dass die Ziele des Projektes nicht klar definiert sind. Zwar stammen die Gelder für die rund 20 Millionen Dollar teure Studie, wie die costaricanische Leitung des PEG nicht müde wird, zu betonen, vom staatlichen US-amerikanischen NCI. Doch wird für dessen Umsetzung auf die nationalen Ressourcen und die Infrastruktur des – im Vergleich zu den USA – sehr viel ärmeren Landes zurückgegriffen. Wie die PR-Abteilung des Impfstoffherstellers Glaxo-SmithKline in Deutschland gegenüber dem GID erklärte, handelt es sich aber in Costa Rica um Testreihen zu einem Produkt, dass von GSK entwickelt wurde, und das, wenn der derzeit in den USA laufende Genehmigungsantrag erfolgreich sei, voraussichtlich ab Mitte dieses Jahres dort und später auch in weiteren Ländern vermarktet werden soll.(10) Einen Vertrag, der dann beispielsweise eine kostenlose Impfung oder Gegenleistungen für den Staat vorsehen würde, gibt es im Falle Costa Ricas allerdings nicht.(11) Stattdessen gewährte die Regierung dem PEG "wegen seiner großen Bedeutung für die öffentliche Gesundheit" sogar eine Ausnahme von einer seit 2003 gültigen Richtlinie, nach der Antragsteller, die in Land medizinische Versuche durchführen, "eine Summe in der Höhe von 5 Prozent des Gesamtbudgets ihres Projektes an das Gesundheitsministerium zahlen müssen".(12) Während also der potentielle Nutzen der Cervarix-Studie für das mittelamerikanische Land unklar bleibt, hat sich umgekehrt das costaricanische Gesundheitsministerium laut Berichten der Zeitschrift Pregonera in einem Vertrag mit dem NCI dazu verpflichtet, das Projekt "kräftig zu unterstützen". Dazu gehört auch, die Zusammenarbeit mit der staatlichen Sozialkasse CCSS, welche die gesundheitliche Basisversorgung der Costaricaner und Costaricanerinnen bereitstellt, zu "erleichtern". So sollen Teilnehmerinnen der Studie, bei denen gesundheitliche Probleme auftauchen, zur Behandlung an staatliche Kliniken überwiesen werden. Außerdem bietet sich den PEG-Mitarbeiter damit der "Zugang zu medizinischen Akten, die für das Projekt erforderlich sind". In ähnliche Richtung zielt ein Abkommen, das zwischen der Sozialkasse und dem Projekt besteht. Darin erklärt sich die Einrichtung dazu bereit, das PEG in der Öffentlichkeit "wie ein eigenes Projekt" zu präsentieren.(13)

Wachsende Kritik

Es ist vor allem diese Vermischung institutioneller Zuständigkeiten und Interessen, die den Politiker Humberto Arce Salas von der liberalen Partei Bloque Patriótico dazu veranlasst hat, aktiv zu werden. Seiner Ansicht nach versuchen die Leiter des PEG mit dem Namen der Sozialkasse in der Öffentlichkeit Vertrauen zu gewinnen – und ziehen diese dadurch mit in die Verantwortung. "Wenn morgen einige von diesen guanacastekischen Frauen, die an der Studie teilnehmen, Beschwerden haben – an wen sollen sie sich wenden? An costaricanische oder an US-amerikanische Gerichte?", fragte Arce vor einem im September 2004 einberufenen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. "Wer wird bezahlen und wer wird ihnen helfen?"(14) In seiner Rede zitierte der Abgeordnete auch aus einem bereits 2001 erstellten Bericht eines internen Kontrollgremiums der Sozialkasse. Aus dem geht hervor, dass diese seinerzeit "über den Ablauf des Projektes nicht informiert" war und ebenso, dass dessen Studienprotokolle vom internen Ethikkomitee nicht abgesegnet wurden. Dennoch, so Arce Salas, wird den Probandinnen in den zu unterschreibenden Einwilligungserklärungen versichert, dass sie im Fall auftauchender Komplikationen auf Kosten der Kasse behandelt werden können. Unterstützung fand Arce Salas unter anderem bei dem costaricanischen Mediziner Carlos Páez, der mit seiner Kritik im Mai 2005 vor die nationale Ärztekammer (Colegio de Médicos) gezogen ist. Paéz weist unter anderem auf einen Vertrag zwischen der Universität von Costa Rica und einer vom PEG beauftragten privaten Stiftung hin, in der sich beide Einrichtungen "gegenseitige Unterstützung" zusagen. Nach Einschätzung des Mediziners steht dahinter das Interesse, Fördergelder aus den USA zu erhalten. Auch in diesem Fall soll das zuständige Ethikkomitee der Universität den Vertrag nicht zur Begutachtung erhalten haben.(15)

Erste Reaktionen

Die wachsende Kritik am PEG hat zwar nicht zu dessen Einstellung geführt, brachte aber das Projekt und klinische Tests im Allgemeinen in die Debatte: So veröffentlichten die Mitglieder jenes parlamentarischen Ausschusses, dem Humberto Arce über die Testreihen berichtet hatte, im August 2005 eine Stellungnahme, in der sie das "gefällige Verhalten" des Vorstands und der Geschäftsführung der Sozialkasse CCSS sowie der Gesundheitsministerin María del Rocío Sáenz gegenüber den Wissenschaftlern des PEG verurteilen.(16) Die Abgeordneten forderten überdies, sämtliche klinischen Studien, die gegenwärtig von privaten Firmen in Costa Rica durchgeführt werden, so lange auszusetzen, bis eine entsprechende gesetzliche Regelung in Kraft getreten ist. Bisher gibt es in Costa Rica kein Gesetz, das medizinische Experimente reguliert (siehe Kasten). Unter dem Druck der Öffentlichkeit erklärte schließlich im Jahr 2005 auch Studienleiter Herrero angedeutet, dass Leistungen der Sozialkasse, die im Rahmen des Projektes übernommen wurden, eventuell doch seitens des PEG entgolten werden könnten.(17)

Offene Fragen:

Das verhaltene Entgegenkommen der PEG-Leitung könnte aber auch ein taktischer Schachzug gewesen sein, um weitere Nachforschungen zu vermeiden. Hinsichtlich der Praxis der Projektmitarbeiter und ihrer Interessen sind immerhin grundsätzliche Fragen bislang offen geblieben. Unklar ist zum Beispiel der Verbleib der seit 1993 vom Projekt gesammelten Blut- und Gewebeproben. Laut Herrero selbst sollen diese "mit äußerster Sorgfalt in den USA" in gut ausgerüsteten Laboren, gelagert worden sein. Allerdings ist umstritten, ob sie rechtlich gesehen nach Ablauf des Projektes für weitere Zwecke verwendet werden dürfen.(18) Zumindest ungewöhnlich ist auch die anstelle eines "Placebo" verwendete Impfung gegen Hepatitis A, die vermutlich die Hälfte der Probandinnen erhalten hat. Arce Salas wittert gar, dass eine "parallele Studie" stattgefunden hat, "nicht autorisiert und ohne Wissen der Betroffenen". Dieser Verdacht erscheint nicht unbegründet, laufen doch derzeit im Auftrag vom Cervarix-Hersteller GSK tatsächlich weltweit mehrere klinische Studien zu Hepatitis A-Impfstoffen.(19) Costaricanische Medien berichten außerdem von häufigen Nebenwirkungen im Zusammenhang mit den experimentellen Impfungen. Und es soll bei jeder zehnten Schwangeren zu einem unerwünschten Abort gekommen sein.(20) Herrero behauptet nun, dies läge innerhalb der statistischen Normalverteilung. Die Anschuldigungen, so beteuerte er in einem Schreiben an die costaricanische Ärztekammer, seien "Zeichen von Unwissenheit oder schlechter Interpretation diverser wissenschaftlicher Aspekte des Projektes". Abgesehen davon sei dieses für solch kleinliche Kritik viel zu bedeutend. "Es gibt keine Forschungsgruppe, die auf internationaler Ebene so viel publiziert", schreibt Herrero, "das ist eine Sache, die man verteidigen muss. Das kann man nicht mit ein paar Dummheiten beiseite wischen".(21) Wieso überhaupt schwangere Frauen in die Versuchsreihe einbezogen wurden, dies erklärt der Mediziner allerdings nicht. Dieses Vorgehen steht tatsächlich auch im Widerspruch zu der Studienbeschreibung, die der Genehmigung der klinischen Versuche bei der US-Zulassungsbehörde FDA zugrunde liegt. Dort heißt es, dass schwangere Frauen und Frauen ohne zuverlässige Verhütung von der Studie ausgeschlossen werden sollten.(22)

Die verschwundenen Zehntausend

Ein großes Rätsel bleibt indes auch die Frage, wie viele Frauen in Guanacaste und angrenzenden Regionen tatsächlich eine Impfung gegen HPV erhalten haben. Denn während in der lokalen Presse und in Diskussionen des parlamentarischen Ausschusses von 20.-22.000 Frauen die Rede ist, wurden nach Angaben des NCI bis Dezember 2005 rund 7.500 Frauen in die Studie aufgenommen und die Rekrutierungsphase damit "abgeschlossen".(23) Unklar ist aber, ob es sich hierbei um die Anzahl der Probandinnen, denen der GSK-Impfstoff Cervarix verabreicht wurde, oder um die Teilnehmerzahl an der Studie handelt - also jene eingerechnet wurden, die den Hepatitis-Impfstoff erhielten. Für weitere Verwirrung sorgt die Tatsache, dass im offiziellen Register der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH), wo sämtliche weltweit laufenden klinischen Studien mit US-Beteiligung aufgelistet werden, bis Anfang Februar 2007 noch zwei Studien (NCT00344357; NCT 00128661) zur Erprobung von Cervarix in der Provinz Guanacaste aufgeführt waren. Die eine Studien ging von 20.000 Teilnehmerinnen aus, wurde inzwischen aber aus dem Netz genommen. Diese Ungereimtheiten lassen vermuten, dass die Leitung des Projekts das Ausmaß des Projekts entweder verschleiern will – oder dass sie möglicherweise auch aufgrund der wachsenden öffentlichen Kritik hinter ihrem eigentlichen Ziel, 20.000 Probandinnen zu rekrutieren, weit zurückgeblieben ist. Eventuell haben aber auch pragmatische Gründe dazu geführt, den Umfang des Projektes zu verändern: Mitte 2006 brachte die Firma Merck in den USA und wenige Monate später auch in Europa den Impfstoff Gardasil zur Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs auf den Markt. Dabei handelt es sich um ein Konkurrenzprodukt zu Cervarix von GlaxoSmithKline Unmittelbar nach der Zulassung von Gardasil kündigte auch GSK die bevorstehende Marktzulassung seines Produktes an. Zwar erklärte das Unternehmen auf Nachfragen des GID, die Untersuchungen des PEG in Costa Rica seien nur eine "Ergänzung" zu den von GSK an insgesamt 30.000 Frauen in 25 Ländern durchgeführten Studien, welche die Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Produktes zeigen sollten. Das Impfprojekt in Guanacaste sei somit nicht "zulassungsrelevant".(24) Dennoch ist vorstellbar, dass die Untersuchungen in Costa Rica in Erwartung der bevorstehenden Zulassung abgekürzt wurden. Schließlich laufen in den USA und in Europa bereits die ersten Impfprogramme mit dem Merck-Impfstoff Gardasil an. GlaxoSmithKline sieht also Marktanteile schwinden. Um dem etwas entgegenzusetzen kündigte das Unternehmen bereits eine neue Studie (NCT00423046) an: An Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren soll ab diesem Jahr die Wirksamkeit von Gardasil mit der des hauseigenen Produkts Cervarix verglichen werden. Die Testerei wird offensichtlich auch weiterhin kein Ende nehmen.

  1. "Epidemia de ensayos clínicos," informe especial, Periódico Pregonera, Investigación publicada, ganadora del Premio Nacional "Angela Acuña Braun" 2005. http://cibersivas.net/pregonera/inicio.htm
  2. siehe zum Beispiel Herrero in der costaricanischen online-Zeitung Informatico, "Proyecto Epidemiológico Guanacaste se sacude", 11.07.05
  3. National Institutes of Health Annual Report of International Activities for the John E. Forgarty International Center, 1999, Chapter 8: National Cancer Institute, www.fic.nih.gov/news/publications/ annual_report1999/chapter8.pdf; Bratti, Maria Concepción, Description of a seven-year prospective study of human papillomavirus infection and cervical neoplasia among 10 000 women in Guanacaste, Costa Rica, Rev Panam Salud Publica. 2004, 15(2):75-89. www.scielosp.org/scielo.php?pid=S1020-49892004000…, Zugriff 7.2.2007; Herrero Rolando, et al., Design and methods of a population-based natural history study of cervical neoplasia in a rural province of Costa Rica: the Guanacaste Project, Rev Panam Salud Publica. 1997, 1(5):362-375. www.scielosp.org/scielo.php?script=sci_arttext&pi…, 7.2.2007
  4. Informatico, 11.07.05; "Costa Rica: vacuna contra el cáncer de cérvix, vida cotidiana, 23.01.2003; informe especial, Pregonera, 2005. Asamblea legislativa de la República de Costa Rica, Comisión especial para que investigue, analice y diagnostique programas sociales y de salud, acta de la sesión ordinaria no.36, 13.09.2004.
  5. zitiert in Informatico, 11.07.05; so auch im Studienprotokoll "Vaccination against Human Papillomavirus to Prevent Cervical Cancer", das bis Anfang Februar in der Datenbank der U.S. National Institutes of Health unter der Nummer NCT00344357 gelistet gewesen ist.
  6. Asamblea legislativa, acta no.36, 13.09.2004.
  7. www.radiofeminista.net/junio06/notas/premios_entr…
  8. Informe especial, Pregonera, 2005
  9. Evelyn Vargas Carmona, Ensayo de vacunación contra el VPH" Con el sospechómetro encendido”, in informe especial, Periódico Pregonera, 2005
  10. Gespräch mit Daria Munsel, PR-Managerin bei GSK Deutschland, am 6. Februar 2007
  11. siehe Asamblea legislativa, acta 36, September 2004.
  12. Decreto Ejecutivo 31078-S, www.ministeriodesalud.go.cr/reglamentos/31078-s.p…
  13. Evelyn Vargas Carmona, PEG immune a la intervención, in Informe especial, Periódico Pregonera, 2005
  14. Asamblea legislativa, acta 36, September 2004
  15. Carlos A. Páez, Dudas sobre vacuna, comentario, al día, 14.01.05. und Informatíco, 11.07.05
  16. "Diputados exigen frenar los ensayos clínicos aquí, la nación", 24.08.05; "censura a ministra de Salud y CCSS", aldía, 24.08.05
  17. Mónica Umaña D., Investigadores podrían pagarle a la Caja, al día, 1.3.05
  18. Informatico, 11.07.05
  19. Studienregister GSK: http://ctr.gsk.co.uk/Summary/ Vaccine_Hepatitis/studylist.asp
  20. Alonso Mata Blanco, "Investigador defiende proyecto. `Cuestionamientos son infundados`", Seminario Unversidad, Costa Rica, Nov. 2005
  21. Informatíco, 11.07.05
  22. Clinicaltrials.gov, NCT00344357 und NCT 00128661
  23. NCI, Las vacunas contra los virus del papiloma humano: preguntas y respuestas, National Cancer Institute, Factsheet, 17.07.2006, www.cancer.gov/cancertopics/factsheet/Prevention/…
  24. Mail von Daria Munsel, PR-Managerin GSK, vom 9.2.2007
  25. Darren Kline, Clinical Trials in Latin America, white Paper, Fast Track Systems, 2001
  26. Karen DeYoung and Deborah Nelson, Latin America is Ripe for Trials, and Fraud, Washington Post, 21.12.2000.
  27. Pregonera, informe especial, 2005

Das neue Eldorado der Pharmafirmen

Bis heute gibt es in Costa Rica kein Gesetz, dass medizinische Experimente reguliert. Zwar haben diverse Gremien und Komitees die Aufgabe, die Einhaltung ethischer Mindeststandards zu garantieren. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese ihrer Pflicht nur unzureichend nachkommen und die Verantwortlichen in Ethikgremien häufig an den Forschungsprojekten, die sie begutachten, selbst beteiligt sind. Immer wieder gab es in Costa Rica in der Vergangenheit Berichte über unethische Experimente bis hin zu Menschenrechtsverletzungen. Bereits in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden experimentelle Impfungen an 20.000 costaricanischen Kindern und Erwachsenen durchgeführt – in offener Verletzung des Nürnberger Codex und ähnlicher internationaler Konventionen. Mitte der 90er Jahre fanden heimliche Medikamententests in der staatlichen Kinderklinik statt. Berichte über solche "Unregelmäßigkeiten" wie sie in den vergangenen Jahrzehnten seitens verschiedenster Organisationen und Untersuchungskommissionen wiederholt veröffentlicht worden sind, blieben stets ohne Konsequenzen.

Keine ausreichende Gesetzgebung

Diese Laxheit im Umgang mit medizinischen Studien kommt Pharmaunternehmen sehr entgegen: US-amerikanische und europäische Firmen lagern die Tests ihrer neuen Produkte gern in ärmere Länder aus, um lästige Kontrollen zu umgehen. Nur zum Teil geht es ihnen dabei darum, größere Probandengruppen zu erschließen. Ausschlaggebend sind vor allem niedrigere Personal- und Verwaltungskosten und die Tatsache, dass kaum bürokratische Hürden existieren. In Lateinamerika ist die Zahl klinischer Studien zwischen 1995 und 2000 auf das Zehnfache angestiegen.(25) Der Kontinent vereint nach Ansicht von Marktanalysten viele Vorteile aus der Sicht von Pharmafirmen: Hier leben rund 450 Millionen Menschen, die zu einem großen Teil in Städten wohnen und von denselben "Zivilisationskrankheiten" wie US-AmerikanerInnen und EuropäerInnen betroffen sind. Für Medikamente ist der Kontinent mittlerweile der drittgrößte Absatzmarkt – nach Westeuropa und den USA. Trotzdem gilt die Bevölkerung größtenteils als "treatment naiv", das heißt, sie nehmen selten Medikamente, deren Einfluss bei der Testung neuer Wirkstoffe störend wirken könnte. Praktisch jedes Pharmaunternehmen unterhält inzwischen in Lateinamerika ein ganzes Netzwerk von Regionalbüros, die oftmals an der Grenze der ethischen Vertretbarkeit und Legalität klinische Studien durchführen. Alternativ bieten private Contract Research-Organisationen, die sich auf die Durchführung Kontrolle und Auswertung von Studien spezialisiert haben, ihre Dienste an. "Wir kolonisieren eine Region mit klinischen Studien", zitiert die Washington Post einen Vertreter der Firma Searl and Pharmacia auf einem Jahrestreffen der Drug Information Association in San Diego. "Wir müssen einfach annehmen, dass am Ende dieser Reise das Gold auf uns wartet".(26) Lateinamerika gilt offenbar als das neue Eldorado der Pharmafirmen. Die Regierungen und Verwaltungen der Länder haben angesichts der Antragsflut und unter dem Druck der Firmen Mühe, den Überblick zu wahren und ihrer Pflicht zur Regulierung und Kontrolle nachzukommen. In Costa Rica ist das staatliche Zentrum für die strategische Entwicklung und Aufklärung im Bereich Gesundheit und Soziale Sicherung CENDEISSS dem Thema nachgegangen: Die Recherche ergab, dass dort zwischen März 1998 und Juni 2004 insgesamt 84 klinische Studien im Auftrag von Pharmaunternehmen durchgeführt wurden – in einem Land von der Größe Niedersachsens, mit nur 3,6 Millionen Einwohnern. Keines dieser Projekte erfüllte laut CENDEISSS die in internationalen Richtlinien formulierten Mindestanforderungen, keines bezahlte eine Abgabe an die Regierung.(27) (mf)
Quellen: Darren Kline, Clinical Trials in Latin America, white Paper, Fast Track Systems, 2001 Karen DeYoung and Deborah Nelson, Latin America is Ripe for Trials, and Fraud, Washington Post, 21.12.2000 "Epidemia de ensayos clínicos," informe especial, Periódico Pregonera, Investigación publicada, ganadora del Premio Nacional "Angela Acuña Braun" 2005. http://cibersivas.net/pregonera/inicio.htm

Erschienen in
GID-Ausgabe
180
vom Januar 2007
Seite 10 - 15

Monika Feuerlein ist freie Journalistin und arbeitete mehrere Jahre lang als Redakteurin für den Gen-ethischen Informationsdienst (GID).

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