Tiefgekühlte „Waisen“ suchen ein Zuhause

Embryoadoptionsprogramme in den USA und die Anti-Abtreibungs-Bewegung

Bereits seit der Bush-Ära gibt es in den USA sogenannte Adoptionsprogramme für überzählige Embryos, die im Rahmen einer künstlichen Befruchtung nicht mehr genutzt werden. Hinter der Idee steht eine christlich-fundamentalistisch geprägte Agenda, die Schwangerschaftsabbrüche verbieten und Embryonen Personenstatus verleihen möchte. 

Portraitaufnahme von Risa Cromer. Sie hat braun-grüne Augen, braune, halblange, glatte Haare und trägt einen schwarzen Puller mit rundem Ausschnnitt. Sie lächelt in die Kamera.

Risa Cromer. Foto: © privat

In Deutschland ist das Embryonenschutzgesetz vergleichsweise streng geregelt, so dürfen bei einer Fertilitätsbehandlung etwa nicht mehr Eizellen befruchtet werden, als innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen, es gibt also keinen Überschuss in nennenswertem Ausmaß – die Idee eines Embryoadoptionsprogramms klingt daher zunächst sehr befremdlich. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Embryoadoption ist eine Praxis der Familiengründung mithilfe assistierter Reproduktion und wurde in den USA ungefähr vor 25 Jahren durch weiße, „pro-life“ Evangelikale etabliert. In den USA gibt es bei In-Vitro-Fertilisation (IVF)-Behandlungen keine Regulierung, wie viele Embryos erzeugt werden dürfen. Also gibt es meistens mehr Embryos, als für einen Frischtransfer benötigt werden. Und die überschüssigen werden kryokonserviert, d.h. in flüssigem Stickstoff tiefgefroren und eingelagert, um sie für weitere Versuche einzusetzen. Aber einige Patient*innen beenden ihre Behandlung, bevor sie alle Embryos genutzt haben. In der Regel haben diese Patient*innen vier Möglichkeiten: sie können diese Embryos verwerfen, sie auf unbestimmte Zeit weiter einlagern, sie an die Forschung spenden oder anonym Dritten zur Fortpflanzung überlassen – etwa über das Programm einer Fertilitätsklinik.

Embryoadoption ist dann eine Art fünfte Option. Es geht um eine Weitergabe von eingefrorenen Embryonen zu Fortpflanzungszwecken, die dem Adoptionsprozess nachempfunden ist. Sie gleicht in vielerlei Hinsicht der Embryonenspende, aber unterscheidet sich auch deutlich davon, da sie in ihrer Mission, eingefrorene Embryonen zu „retten“ auf Anti-Abtreibungs-Diskurse aufbaut und die Anforderungen christlicher Adoptionsprogramme reproduziert. 

Embryoadoption hat in den letzten zwei Jahrzehnten in der konservativen Politik eine sehr große Rolle gespielt – sowohl in Debatten um öffentliche Investitionen in die Stammzellforschung als auch beim Dobbs-Urteil1 , das das landesweit garantierte Recht auf Schwangerschaftsabbruch zurückgenommen hat.

Das erste Programm hat sich selbst den Namen „Snowflake´s Embryo Adoption Program“ gegeben und hat sich an der Inlandsadoption orientiert, was einige Konsequenzen hatte. Das Programm behandelte die Spender*innen und Empfänger*innen als genetische bzw. Adoptiveltern. Und der Vertrag, der die Übertragung der Embryos ermöglichte, wurde zum Adoptionsvertrag – obwohl es rechtlich gesehen eigentlich immer noch ein Transfer von Eigentum ist. Solche Programme ermöglichen also nicht wirklich eine legale Adoption, aber in ihrer Rhetorik und Praxis tun sie so, als ob.

Sie haben schon erwähnt, dass die sogenannte Embryoadoption politisch eine große Rolle spielt – aber wie häufig ist sie tatsächlich?

In den USA sind seit Bestehen dieser Programme insgesamt etwa 2.500 Kinder mithilfe dieser Praxis zur Welt gekommen. Die Anbieter dieser Programme achten sehr darauf, diese Zahlen öffentlich zu machen. Die Geburten werden gezählt und als Indikator von Erfolg verkauft. Die Zahl, über die nicht gesprochen wird, ist wie oft diese Transfers eben nicht in einer Lebendgeburt resultieren. Statistisch gesehen kommt es bei jedem zehnten Embryo, der aufgetaut und eingesetzt wird, zu einer Lebendgeburt. Wenn wir das also nachrechnen, kommen auf 2.500 Lebendgeburten etwa 25.000 Embryos.

Sind die Erfolgsaussichten schlechter als bei klassischer IVF?

Komplizierte Frage. Wir sprechen hier von Kryokonservierungstechniken der letzten 25 Jahre. Und in diesem Zeitraum wurden Klinikweise die Protokolle veränderte, vom „Slow Freeze“ zur Vitrifizierung einer erfolgreicheren Methode zur Kryokonservierung von Zellen, bei der ein schnellerer Gefrierprozess die Eiskristallbildung vermeidet. Es hat eine ernsthafte Verbesserung gegeben, wir erhalten mehr Embryos, die das Auftauen überstehen und sich normal weiterentwickeln. Aber 1997, da hat man „Slow Freeze“-Embryos eingesetzt, die wahrscheinlich an Tag zwei oder drei eingefroren wurden. Heutzutage nutzt man eher Embryos im Blastozystenstadium, die an Tag fünf oder sechs mit Vitrifizierung eingefroren werden und häufig nutzt man nur einen einzigen Embryo, der wahrscheinlich genetisch getestet wurde.

Wie sind Sie auf das Thema Embryoadoption gekommen?

Ich habe angefangen, mich für das Thema Embryoadoption zu interessieren, kurz nachdem ich mein Studium der Anthropologie abgeschlossen hatte. Ich kam zur Kulturanthropologie, nachdem ich einige Jahre als Community-Organizer für reproduktive Rechte und Gerechtigkeit in den USA gearbeitet hatte, insbesondere in konservativen Bezirken im pazifischen Nordwesten. Das war Anfang der 2000er, während der ersten Jahre der Bush-Regierung. Damals wurden beispiellose bundespolitische Maßnahmen von einem ausschließlich republikanischen Kongress beschlossen und von einem republikanischen Präsidenten unterzeichnet, es gab sehr aktive Bemühungen, Föten im Uterus den Status von Personen zu verleihen. Das war eine Kernstrategie der Anti-Abtreibungs-Bewegung. 

Das ist der Grund, warum ich mich so für diese Nische interessiert habe, für diese so befremdliche Praxis der Embryoadoption – weil ich gesehen habe, wie sehr das Teil einer politischen Agenda war, in der es darum ging, Embryos den rechtlichen Status einer Person zu verleihen. Genau wie andere Feminist*innen, die alarmiert waren über die Aufweichung reproduktiver Rechte, habe ich erkannt, dass jeder Zugewinn dieser Bewegung große Konsequenzen haben würde.

Wie sieht es aus mit dem Zugang zu solchen Programmen – wer kann sich das leisten?

Die Kosten für die Embryoadoption sind in der Regel etwas geringer als bei der konventionellen IVF und vor allem bei der IVF mit Samenspende, Eizelltransfer und Leihschwangerschaft, aber tendenziell teurer als bei einem Embryonenspendeprogramm in einer Klinik.

Einer der Hauptunterschiede ist, dass die Mitarbeitenden hier ein „Matching“ von Empfänger*innen und „Spender*innen“ ermöglichen, die Kommunikation zwischen den Parteien unterstützen und diese sich tatsächlich aktiv füreinander entscheiden, ähnlich wie bei einer offenen Adoption. Die Programmkosten liegen bei 8.000 bis 9.000 US-Dollar.

Im US-Kontext gibt es keine Regulation von IVF, es handelt sich daher um eine Dienstleistung des Privatsektors, die nicht vom Staat bezuschusst wird. Die Mehrheit der Leute zahlt das aus eigener Tasche. Der Zugang zu IVF bleibt also mehrheitlich weißen, cis-geschlechtlichen, heterosexuellen, verheirateten und gut situierten Paaren vorbehalten. Und das ist eine gesellschaftliche Gruppe, die von Gruppierungen der Religiösen Rechten, die sogenannte „Familienwerte“ thematisch bespielen, hofiert wird. 

Fundamentalistisch geprägte ChristInnen2  sprechen sich in Deutschland tendenziell eher gegen assistierte Reproduktion aus – was ist in den USA anders?

Zunächst müssen wir uns klar machen, dass evangelikale und katholische Traditionen sehr unterschiedlich ausgerichtet sind, wenn es um Reproduktion geht. Der Katholizismus ist die restriktivste Weltreligion. Solange der Vatikan Nein sagt zu Reproduktion mithilfe von IVF und Kryokonservierung, gelten diese als moralisch verwerfliche Praktiken.

Das protestantische Christentum ist allerdings größtenteils still geblieben, was das Thema angeht und hat es auf bestimmte Weise auch begrüßt bzw. erlaubt. Die größte Opposition sehe ich dort bei Praktiken, die das Band der Ehe durchbrechen, also Reproduktion mithilfe Dritter – Eizelltransfer, Samenspende, Leihschwangerschaft, während assistierte Reproduktion innerhalb der Ehe eher der Vorstellung davon entspricht, was eine Ehe sein soll. Ein Grund, dass Reproduktionstechnologien in den USA bis jetzt nicht stärker zu einem Ziel rechter Gegenwehr geworden sind, ist wahrscheinlich, dass sie einen gewissen Pronatalismus3  befeuern. 

Für evangelikale Befürworter*innen von Embryoadoption ist der Gedanke essentiell, dass Kryokonservierung Gottes heiligen Zeitplan unterbricht. Für sie muss der Embryo am richtigen Platz sein, damit Gottes Plan sich erfüllen kann – und Gott entscheidet am Ende, ob ein Baby zur Welt kommt oder nicht. Das Ziel der Embryoadoption ist nicht, Kinder zu bekommen, denn das steht außerhalb der menschlichen Macht. Die Verantwortung wird darin gesehen, Embryos, die nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurden, an einen Platz zu bringen, wo sich Gottes Vision realisieren kann. Und das ist nicht der Tiefkühler.

Worauf beziehen diese Gruppen sich, was ist ihr Ansatzpunkt?

Sie nutzen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus der US-Verfassung, um zu sagen, Embryos und Föten würden den gleichen Schutz durch das Gesetz verdienen, unabhängig davon, wo sie sich befinden – im Uterus oder außerhalb. Wenn ich also mitbekomme, wie Christ*innen anderen Christ*innen gegenüber vorbringen, dass ungeborene und eingefrorene „Kinder“, tiefgekühlte „Waisen“, moralisch gleichgestellt wären mit Kindern, die in Heimen leben und ein Zuhause brauchen, dann erkenne ich darin die politische Agenda einer Bewegung, die versucht, den Personenstatus radikal auf Embryos und Föten auszuweiten, der bis jetzt für geborene Menschen reserviert war und zunehmend auf höchster politischer Ebene Gehör findet.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass white saviorism4 , also weißes Retter*innentum, eine wichtige Rolle für diese Programme spielt. Was genau meinen Sie damit?

Saviorism ist der Subtext, der Embryoadoption als religiöse Praxis legitimiert, aber auch eine politische Praxis befördert, die eine Verbindung zwischen christlicher Adoption, die tief verwurzelt ist in weißem Retter*innentum und Anti-Abtreibungs-Politik herstellt. Saviorism ist ein sehr durchdringender und überzeugender Diskurs, der über verschiedene politische Projekte hinweg genutzt wird, aber er hat einen gemeinsamen Kern von Praktiken und Rahmungen. So bringt er beispielsweise sehr spezifische soziale Subjekte hervor: diejenigen, die gerettet werden müssen und diejenigen, die diese Rettung übernehmen. Die zu rettenden werden als gesellschaftlich wertvoll und extrem vulnerabel und schutzbedürftig gedacht, während die Retter*innen als gute Akteur*innen gelten, die zum Schutz berufen sind und berechtigt sind, so zu handeln. Ein wichtiger Teil dieses Narrativs ist auch, dass es eine existenzielle Bedrohung gibt, die moralisches Handeln erfordert. Wenn man diese narrativen Komponenten in einem US-Kontext betrachtet, wo weißes Retter*innentum eng verbunden ist mit weißem Überlegenheitsdenken, mit religiösen Vorstellungen von Erlösung und Wohltätigkeit, erhalten wir ein sehr paternalistisches Narrativ. Hinzu kommen die konservativen Ideale von Christ*innen, die zusammenfallen mit diesem „Rettungsauftrag“, dessen Ziel in dieser politischen Konfiguration der eingefrorene Embryo ist. Und der repräsentiert hier nicht einfach Embryos, sondern die Vulnerabilität der Idee eines christlichen Amerikas. Und so wurde das Retten von Embryos zu einem Synonym dafür, die Zukunft einer idealisierten Version einer christlichen Nation zu retten.

Inwiefern ist die Auswahl der Spender*innen und Embryonen von Rassismus beeinflusst?

Was bei der Embryoadoption passiert, wenn es zu kommerzialisiertem Marketing und selektiven Komponenten des Konsumverhaltens kommt, unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was wir auch in anderen Bereichen sehen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass „Rasse“ eine Rolle bei assistierter Reproduktion spielt. Das ist fast omnipräsent, Leute wählen Spender*innen nach diesem Kriterium aus. Leute wählen in Bezug auf „Rasse“ sowohl nach Übereinstimmung aus, als auch aus einem Wunsch nach Differenz, aus einer Vielzahl von Gründen. Was aber nötig ist um das tun zu können, ist eine Rassialisierung des Embryos.

Was „Rasse“ an einem jeweiligen Ort oder in einem bestimmten Kontext bedeutet, ist nie etwas, das a priori feststeht. Es ist kein biologischer Fakt, sondern benötigt einen sozialen Markierungsprozess. Um also Embryos als Träger einer bestimmten „Rasse” zu markieren, braucht es ein Verständnis davon, wie die Spender*innen sich identifizieren und davon, wie man diese Embryos für den Matchingprozess betitelt.

Ich habe über Fälle geschrieben, wo es darum ging, ob ein Embryo als weiß betitelt werden sollte oder nicht. Es ist einfach eine völlig absurde Idee, zu denken, Embryos hätten eine „racial identity“. Und das ist ein Artefakt eines schrägen biologistischen Rassismus. Bei der Embryoadoption werden die Grenzen davon, was als weißer Embryo oder als Embryo weißer Spender*innen gilt, zu etwas sehr porösem, über das verhandelt wird. 

Es gibt diese vorwiegend weißen evangelikalen Familien, die BIPoC Kinder wollen, für die das eine Affirmation ihres Glaubens ist. Für die ist die Gründung von Familien, die aussehen, wie ihre Vorstellung des Himmels mit dieser plakativen Diversität, Ausdruck einer religiösen Wertvorstellung. Und das lässt sich auch als eine Art Fetischisierung von Differenz beschreiben, die den antirassistischen Gerechtigkeitsgedanken untergräbt.

Auch bei anderen Praktiken assistierter Reproduktion sehen wir teilweise eine behindertenfeindliche selektive Komponente, etwa bei Tests von „Eizellspender*innen“ auf bestimmte Genabweichungen oder bei der Präimplantationsdiagnostik. Wie sieht der Umgang mit Behinderung in den Embryoadoptionsprogrammen aus?

Im Kontext der Embryoadoption wird Behinderung auf eine Weise konstruiert, die der Herstellung von „Rasse” nicht unähnlich ist, Embryos werden als solche mit „besonderen Bedürfnissen“ markiert, genauso wie andere Embryos als „multi-ethnisch“ klassifiziert und an mögliche Empfänger*innen vermarktet werden. Ein Grund, warum Embryos irgendwann als „multi-ethnisch“ angepriesen wurden, war, dass irgendwann auffiel, dass es Embryonen gab, die nicht ausgewählt wurden. Und der Grund, warum es kein Match gab, war, dass sie „nicht weiß“ waren. Daher wurde begonnen, diese Embryos als multi-ethnisch zu kategorisieren und auf eine extra Webseite zu stellen, um mehr Interesse zu generieren. Sie haben diese Embryos also erst markiert und dann vermarktet. Irgendwann haben sie alle Embryos, die aus unterschiedlichen Gründen nicht „adoptiert“ wurden, online in der Kategorie „special cases“ zusammengefasst.

Einige Adoptionsprogramme bewerben die Embryos auch in Newslettern. Es gibt von einer christlichen Organisation einen Newsletter, der bereits geborene behinderte Kinder vermitteln soll. In diesem wurden dann auch Anzeigen für Embryos aus einem Embryoadoptionsprogramm veröffentlicht, die als „special needs“ kategorisiert waren.

Ein großes Problem bei vielen dieser Praktiken ist, dass diese Glorifizierung des Retter*innentums die Ansätze von „Disability Justice“5  unterminiert. Dieser ganze Mitleidssprech, die Wohltätigkeit – das läuft Praktiken der Behindertenrechtsbewegung zuwider, die personenzentriert sind und anerkennen, dass es um ausschließende und behindernde Strukturen geht, nicht um behinderte Körper oder Personen. 

Das Verfassungsgericht des US-Bundesstaates Alabama hat im Februar mit einem Urteil menschliche Embryos rechtlich zu Kindern erklärt. Vorausgegangen war eine Klage von drei Paaren, deren kryokonservierte Embryos bei einem Vorfall in einer Fertilitätsklinik beschädigt worden waren. Das Verfassungsgericht hat diese Entscheidung nun kassiert und geurteilt, dass das Verbot der Tötung Minderjähriger für „alle ungeborenen Kinder“, egal ob innerhalb oder außerhalb des Uterus, gelte. Kann das als Erfolg der Bewegung hinter den Embryoadoptionsprogrammen gesehen werden?

Meine Annahme aus den frühen 2000ern, dass die Bemühungen Föten im Uterus Personenstatus zu verleihen gefährlich werden, wenn sie auf Embryonen außerhalb des Uterus ausgeweitet werden, realisiert sich momentan. Dieser Fall, dieses Urteil, ist der aktuellste und hochrangigste Beweis für den Erfolg einer Bewegung, die einmal als randständiger und radikaler Flügel der Anti-Abtreibungs-Bewegung galt, mit seinem Fokus auf die sehr absolutistische Strategie, Embryonen und Föten unabhängig von ihrer Position (innerhalb oder außerhalb des Körpers) als Personen zu definieren.

Einige waren überrascht oder schockiert, dass Politiken rund um den Personenstatus Auswirkungen auf IVF haben. Aber nach meinen Beobachtungen ist assistierte Reproduktion nicht einfach ein Feld, das von Anti-Abtreibungs-Politik beeinflusst wird, sondern seit langem eine Arena, in der die Sprache und das Momentum für die radikale Strömung dieser Bewegung aufgebaut wurde, die wir jetzt gerade sehen. 

Selbstverständlich ist der Begriff „Anti-Abtreibungs-Politiken“ nur die Spitze des Eisbergs einer Agenda, die viel breiter ist und viel, viel tiefer reicht als Abtreibung. Menschen in Alabama oder in Staaten wie Indiana, wo ich lebe – dem ersten Bundesstaat der nach dem Dobbs-Urteil von 2022 ein Abtreibungsverbot erlassen hat – Leute, die hier leben bekommen jetzt die Auswirkungen dieser Politik zu spüren, in allen Bereichen der reproduktiven und sexuellen Gesundheitsversorgung. Die Müttersterblichkeitsrate in Indiana ist eine der schlimmsten im ganzen Land. Das ist kohärent mit Anti-Abtreibungs-Politiken, die Zugänge zu lebensrettenden Abbrüchen erschweren oder gar verbieten.

Meine Hoffnung als Wissenschaftlerin, die schon lange zu diesem Themenfeld arbeitet und in einem Bundesstaat lebt, in dem sich das nun in Echtzeit vor uns entfaltet ist, dieselben Methoden zu nutzen, um zu hinterfragen, zu verstehen und dokumentieren, was genau das ist, welche Konsequenzen das hat – und das wir als Bevölkerung direkte und vehemente Antworten darauf finden, denn diese Konsequenzen sind einfach nur entsetzlich.

Vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Jonte Lindemann.

Im GID abgedruckt ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Dies ist das vollständige Gespräch.
 

  • 1Das sogenannte Dobbs-Urteil betitelt eine Entscheidung des US Supreme Court aus 2022, das die bisherige Rechtsprechung, die der Annahme folgte, dass die Verfassung ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch vorsehe, außer Kraft setzte. Dies veranlasste eine Reihe von Bundesstaaten zur Verabschiedung strengerer Abtreibungsgesetze.
  • 2In der Ideologie des christlichen Fundamentalismus gibt es nur zwei Geschlechter, daher wird hier das Binnen-I genutzt
  • 3Unter Pronatalismus versteht man eine Haltung, die kinderreiche Familien bevorzugt und auf politischer Ebene mit verschiedenen Mitteln versucht, die Geburtenrate innerhalb eines Nationalstaates zu erhöhen.
  • 4White saviorism ist ein kritischer Begriff, der beschreibt, wie weiße Menschen sich in paternalistischer Weise vermeintlich für Schwarze Menschen und People of Color einsetzen. Diese Handlungen sind letztlich geprägt von weißem Überlegenheitsdenken: die Akteur*innen glauben, besser zu wissen, was diese Menschen und ihre Communities brauchen, als sie selbst und sprechen ihnen auf diese Weise Handlungsmacht ab. White saviorism zielt nicht darauf ab, Ungleichheit auf struktureller Ebene aufzulösen.
  • 5Soziale Bewegung, die Behinderung in ihrer sozialen Dimension und in der Verschränkung mit anderen gesellschaftlichen Machtverhältnissen begreift, intersektional und kapitalismuskritisch ausgerichtet ist.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
270
vom August 2024
Seite 22 - 23

Risa Cromer ist Associate Professor für Anthropologie an der Purdue University in Indiana, USA. Sie arbeitet zum Schwerpunkt Medizinanthropologie und hat mit ihrem Buch „Conceiving Christian America. Embryo Adoption and Reproductive Politics“ eine aufschlussreiche Analyse dieser Adoptionsprogramme vorgelegt.

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