Rezension: Autonomie als Eigenschaft?

Das Autorenduo Michael Pauen und Harald Welzer will mit seinem im vergangenen Jahr erschienen Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“ die Autonomie gegen einen schleichenden Konformitätszwang verteidigen. Dazu definieren sie Autonomie zuerst einmal als „zentrale Eigenschaft des Menschen“ und begeben sich auf einen Streifzug durch Philosophie- und Demokratiegeschichte, utopische und dystopische Literatur, Totalitarismus- und Modernitätstheorien sowie sozialpsychologische Studien. An keiner Stelle gelingt es ihnen aber, ihre These von Autonomie als Eigenschaft schlüssig herzuleiten. Die Fähigkeit zum autonomen Handeln als eine grundsätzliche Eigenschaft des Menschen zu definieren, die sich unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich gut entfalten kann, scheint analytisch sinnvoller. Die wichtige Frage, wie Einzelne überhaupt in ihrem eigenen Verhalten auseinanderhalten können, ob sie gerade eine autonome oder konforme Entscheidung treffen, bleibt leider ebenso ungelöst. Dies wäre jedoch eine Grundvoraussetzung für eine Verteidigung der Autonomie. Die Inanspruchnahme von social freezing (S. 232) und pränataler Diagnostik (S. 260) stellen für die Autoren eindeutig konformes Verhalten dar. Zu Recht problematisieren sie die „schleichende Veränderung sozialer Standards“ durch diese Techniken. Zu behaupten, diese würden lediglich unter der „Flagge der Emanzipation“ segeln, ignoriert aber die vielschichtige und komplexe Debatte über Wünsche, Ängste und gesellschaftliche Erwartungen, die Feminist_innen über diese Fragen seit Jahrzehnten führen. Es wäre lohnend gewesen, an diesen Beispielen, die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen autonomen und heteronomen Verhalten intensiver durchzuspielen. In ihren abschließenden „Verteidigungsregeln“ bewegen sich Pauen und Welzer bedauerlicherweise völlig auf der individuellen Ebene, während es doch vielmehr die Bedingungen sind, die geändert werden müssen, um selbstbestimmte Entscheidungen zu ermöglichen.

Kirsten Achtelik

➤ Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung, Fischer Verlag (2015), 336 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-10-002250-9.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
237
vom September 2016
Seite 44

Kirsten Achtelik arbeitet als freie Autorin und Journalistin zu behinderten- und geschlechterpolitischen Themen.

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht