Schuldprinzip: Ein Fuß in der Tür
Im gesundheitspolitischen Diskurs wird inzwischen ganz offen über Sanktionen für "Vorsorgemuffel" diskutiert. Anfang. Februar hat der Bundestag beschlossen, dass Versicherte, die bestimmte Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrgenommen haben, finanziell stärker belasten werden. Der GID sprach mit dem Experten für Gesundheitspolitik, Rolf Rosenbrock, über Sinn und Unsinn der Vorsorgepolitik.
Herr Rosenbrock, vor kurzem wurde in Deutschland eine Schutzimpfung gegen Gebärmutterhalskrebs zugelassen. Sie wird als nahezu sichere Vorsorgemaßnahme gegen eine Infektion mit bestimmten Papillomaviren und damit in Zusammenhang gebrachtem Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinom) gehandelt. Voraussetzung ist, dass "rechzeitig" – bereits im Alter von zirka neun Jahren, noch vor dem ersten "sexuellen Kontakt" – geimpft wird. Wie sind diese Versprechen ihrer Ansicht nach zu beurteilen?
Am Zervixkarzinom erkranken derzeit in Deutschland zirka 6.000 Frauen, zirka 2.000 sterben jährlich daran. Gleichzeitig ist das Zervixkarzinom eine der wenigen Krebsarten, bei denen eine Virusinfektion eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung der Krankheitsentwicklung ist. Wenn es gelingt durch eine Impfung, wie jetzt versprochen, 60 bis 70 Prozent dieser Infektionen sicher zu verhindern und entsprechend die Entstehung des Zervixkarzinoms zu senken, wäre das ein Fortschritt.
In verschiedenen US-Bundesstaaten wurden Gesetzentwürfe eingebracht, welche die Impfung für Mädchen ab der sechsten Klasse verpflichtend machen. Sind solche Forderungen im derzeitigen Vorsorge-Diskurs auch in Deutschland "salonfähig" geworden?
Über die Situation in den USA weiß ich nichts. Ich glaube, das Problem beim Zervixkarzinom ist, wie bei den meisten Krankheiten, dass Menschen aus sozial benachteiligten Schichten daran wesentlich häufiger erkranken als Menschen aus besser gestellten Schichten. Gleichzeitig erreichen Früherkennungsuntersuchungen und auch Impfungen Menschen aus unteren Sozialschichten schlechter. In Deutschland halte ich eine Pflichtimpfung auf Zervixkarzinom für unwahrscheinlich. Es gibt in Deutschland keine Pflichtimpfung. Alle Impfungen sind freiwillig und wir sind darauf angewiesen im Falle wichtiger und erfolgreicher Impfungen durch Mobilisierung und Überzeugungsarbeit die Teilnahme zu erreichen. Eine Pflichtimpfung wäre mit der deutschen Rechtslage kaum vereinbar.
Im gesundheitspolitischen Diskurs wird aber inzwischen ganz offen über Sanktionen für "Vorsorgemuffel" diskutiert. Beispielsweise gibt es den Vorschlag, erkrankte Versicherte, die bestimmte Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrgenommen haben, finanziell stärker zu belasten. So sieht es jedenfalls der Regierungsentwurf für ein Gesetz zur Wettbewerbsstärkung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) (1) vor. Was ist genau geplant und welche Vorsorgeuntersuchungen beziehungsweise Erkrankungen sind davon betroffen?
Es ist derzeit noch nicht absehbar, was letztlich im Gesetz stehen wird. In der von Ihnen zitierten Fassung war vorgesehen, dass Versicherte, die angebotene Früherkennungsuntersuchungen nicht in Anspruch nehmen und dann die Zielkrankheit entwickeln, künftig zwei Prozent, statt bisher ein Prozent ihres Bruttoeinkommens als Zuzahlung zu leisten haben. Das heißt, die Höhe der Belastungsgrenze würde für diese Patienten zur Strafe glatt verdoppelt werden. Das ist angesichts des sehr unklaren Nutzens vieler Früherkennungsuntersuchungen nicht vertretbar. Bei Brustkrebs halte ich es zum Beispiel durchaus für notwendig, dass eine Frau sich aufgrund genauer Kenntnisse der erwünschten und unerwünschten Wirkungen von Früherkennungsuntersuchungen auch dagegen entscheiden können muss, ohne dafür bestraft zu werden.
Das Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen (2) kommt in einer neuen Übersicht zu einer äußerst kritischen Bewertung der Mammographie. So wird die Reduktion der Brustkrebssterblichkeit von den häufig genannten 30 Prozent auf 15 Prozent nach unten korrigiert. Welche Rolle spielen solche wissenschaftlichen Untersuchungen?
Sicherlich ist es gut, dass wir mittlerweile weltweit Cochrane-Zentren haben, die Evidenz, das heißt Wirksamkeitsbelege, für medizinische Interventionen gründlich untersuchen. Und nach diesen Untersuchungen müssen 2.000 Frauen zwischen 40 und 64 Jahren zehn Jahre regelmäßig an qualitativ sehr gut gemachten Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen, damit eine einzige von ihnen länger überlebt. Bei zehn der 2.000 Frauen wird fälschlicherweise Brustkrebs diagnostiziert. Sie werden unnötigerweise behandelt und damit auch stark psychisch und gesundheitlich belastet. Hinzu kommt, dass 200 von den 2.000 Frauen zunächst erst einmal mit einer falsch positiven Diagnose konfrontiert werden, die dann erst im weiteren Verlauf abgeklärt werden kann. Wir müssen immer zur Kenntnis nehmen, dass bei Früherkennungsuntersuchungen ganz regelmäßig zunächst einmal mehr falsch positive als richtig positive Ergebnisse anfallen. Es gibt praktisch bei jeder medizinischen Intervention nicht nur erwünschte, sondern immer auch unerwünschte Wirkungen. Dabei liegen diese Wirkungen oft auf unterschiedlichen Ebenen, so dass es nicht leicht ist, sie gegeneinander fair abzuwägen. Die moderne Gesundheitswissenschaft plädiert in diesen Fällen dafür, sehr viel mehr Verantwortung und das heißt auch Information und Kompetenz bei den Versicherten und Patienten zu entwickeln. Der Regierungsentwurf zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz spricht aber exakt die gegenteilige Sprache. Er ist ein Schlag gegen den Gedanken der Patientenbeteiligung und setzt stattdessen auf autoritäre Formen, Normen und Bestrafungen.
Im Ratgeber "Untersuchungen zur Früherkennung Krebs. Nutzen und Risiken" der Stiftung Warentest (3) werden die meisten Untersuchungen als nicht sinnvoll bewertet. Sind diese Ergebnisse ernst zu nehmen?
Die Untersuchungen der Stiftung Warentest folgen der von mir eben genannten Entscheidungsregel: erwünschte und unerwünschte Wirkungen zu ermitteln und dann gegeneinander abzuwägen. In der Pharmakologie, in der gesamten Medizin und auch in der Gesundheitspolitik sollte die Regel gelten, dass eine Maßnahme nur dann ergriffen werden darf, wenn die erwünschten Wirkungen erheblich sind, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreffen und erheblich größer sind als die unerwünschten Wirkungen. Außerdem müssen die unerwünschten Wirkungen insgesamt tolerabel sein. Diese Entscheidungsregel lässt natürlich im Einzelfall viel Luft für Diskussionen und Kontroversen, die man sicherlich nicht - wie es im Fall des Gesetzentwurfes geschehen ist - allein von Politikern und medizinischen Kapazitäten ohne Beteiligung von Patientenvertretern führen kann.
Werden Ihrer Meinung nach die Kontroversen, die es in der Fachwelt zu den Früherkennungsuntersuchungen gibt, in der Gesundheitspolitik berücksichtigt?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Generell ist es ein sehr großes Problem, wissenschaftliche Ergebnisse in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen, weil Politik nach anderen Kriterien und oft auch nach anderer Logik entscheidet als Wissenschaft. Was die Früherkennungen betrifft, so muss man glaube ich darauf hinweisen, dass von Medizinern durchgeführte Maßnahmen immer eine erheblich bessere Durchsetzungschance in der Politik haben als zum Beispiel Maßnahmen der nicht-medizinischen Primärprävention. Das liegt einfach daran, dass der medizinische Apparat eine sehr viel bessere Lobby im Politikbereich hat. Es finden zunehmend wissenschaftliche Ergebnisse zu Kosten-Effektivitäts-Bewertungen Eingang in die Entscheidungen der Politik. Daran kann kein Zweifel bestehen. Aber man kann sehr wohl darüber streiten, ob sich diese Tendenz schnell und stark genug durchsetzt. Und sicherlich wird es nicht funktionieren, wenn nicht immer wieder Druck ausgeübt wird. Denn wenn kein Druck ausgeübt wird, dann regeln das im Zweifel immer die für Intervention votierenden Mediziner und Politiker unter sich. Und das muss nicht immer Ergebnisse haben, die für die Versicherten und Patienten gut sind.
Die geplante Regelung würde bedeuten, dass Versicherte nicht mehr selbstbestimmt über Früherkennungsuntersuchungen entscheiden dürfen. Im Gegenteil, mit der geplanten finanziellen Belastung würde das Verschuldungsprinzip Realität. Wie ist das zu beurteilen?
Nach wissenschaftlichen Maßstäben ist die Evidenz für Früherkennungsuntersuchungen auf Zervixkarzinom, Brustkrebs, Darmkrebs sowie auch für Bluthochdruck, Zucker und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gegeben. Für alle anderen Früherkennungs-Screenings gibt es keine hinreichende Evidenz nach den internen Maßstäben der Wissenschaft. Eine zweite Frage ist das Verschuldensprinzip. Wir haben seit 1883 in Deutschland eine verschuldensunabhängige Krankenversicherung und das hat auch gute historische und sozial friedensstiftende Gründe. Denn wenn man zum Beispiel die Finanzierung der Krankenversorgung von Verschulden abhängig machen wollte, müsste man zweifellos auch Arbeitgeber heranziehen, die durch schlechte Organisation und Stress überdurchschnittlich hohe Krankenstände produzieren. Das Prinzip der Verschuldensunabhängigkeit ist im gegenwärtigen Gesetzentwurf stark beschädigt. Da wird zwar noch ganz harmlos davon ausgegangen, dass die gesundheitlichen Folgen von medizinisch nicht indizierten Eingriffen wie Piercings oder Tattoos nicht mehr voll von der GKV bezahlt werden sollen. Aber dies ist wie oft in der Gesundheitspolitik nur ‚der Fuß in der Tür’. Wenn die Tür dann weiter aufgeht, stehen dort nicht mehr nur Spaßthemen wie Piercing und Tattoo, sondern sicherlich auch Rauchen, Bewegungsmangel und ungeschützter Geschlechtsverkehr als –Zitat: "medizinisch nicht indiziertes Verhalten" - als verschuldensauslösend auf der Tagesordnung. Das aber wäre Versicherung nach dem individuellen Risiko und nicht mehr wie heute Versicherung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des/der Einzelnen. Das wäre das Ende der GKV. Das Interview führte Jana Böhme
- Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzli-chen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 25.10.2006, Gesetz und Dokumente zur Anhörung unter www.die-gesundheitsreform.de
- Die Cochrane Collaboration ist ein weltweites Netz von Wissenschaftlern und Ärzten, dessen Ziel es ist, systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung von medizinischen Therapien und Untersuchungen zu erstellen, aktuell zu halten und zu verbreiten. www.cochrane.org/ und www.cochrane.de/de/index.htm
- Untersuchungen zur Früherkennung Krebs. Nutzen und Risiken, Stiftung Warentest, 2005.
Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, ist Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik u.a. an der Technischen Universität Berlin. Seine wichtigsten Themen sind die sozial bedingten Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik, Betriebliche Gesundheitsförderung, sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung und Politikberatung und ist u.a. Mitglied im Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR – G), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Mitglied des Nationalen Aids-Beirates (NAB) sowie des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) etc.
Lexikon
Als Primärprävention gilt das Vorbeugen von Krankheiten. Das heißt, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit von Krankheiten verringert werden sollen. Hierzu zählen viele vom Individuum nicht beeinflussbare Faktoren (Bildung, Einkommen, Stellung im Beruf, physische, psychische und soziale Belastungen), aber beispielsweise auch eine ausgewogene Ernährung, Bewegung, die Folsäure-Gabe in der Schwangerschaft, die Jodierung von Speisesalz. Eingeschlossen in die Primärprävention ist auch die Verminderung von Risikofaktoren wie Rauchen und Alkoholkonsum. Zudem werden Impfungen darunter gefasst, da durch Impfungen Infektionskrankheiten wie Tetanus, Diphterie und Kinderlähmung verhindert werden können. Davon abzugrenzen ist die Sekundärprävention. Damit soll eine Krankheit durch Früherkennungsmaßnahmen in einem möglichst frühen Zeitpunkt der Entstehung behandelt werden können. Bei der Früherkennung handelt es sich um eine vorverlegte Erst-Diagnose. Hierunter fallen alle Maßnahmen der Krebsfrüherkennung wie zum Beispiel die Mammographie oder die Koloskopie. Der Begriff Evidenz-basierte Medizin steht für eine "beweisgestützte Heilkunde". Das heißt, es soll der wissenschaftliche Beweis geführt werden, dass eine medizinische Maßnahme sinnvoll ist. Ein zentraler Punkt der Evidenz-basierten Medizin ist, dass der Patient durch Aufklärung in medizinische Entscheidungen mit einbezogen werden soll. (Jana Böhme) Quelle: http://.de.wikipedia.org/