Irritiertes Schweigen

Kritik an Beratung aus der Behindertenbewegung

Die Einführung der humangenetischen Beratung hat die pränatale Diagnostik vorbereitet. Die Behindertenbewegung spürte deren eugenischen Wurzeln nach und kritisierte die darin mainifestierte Furcht vor Behinderung.

Am 5. November 1976 erschien in der Tageszeitung Die Welt unter der Überschrift „Genetische Beratungsstellen können Leid verhindern“ ein Loblied auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik. Das Fazit des Artikels fiel eindeutig aus: „Gar nicht hoch genug einzuschätzen wäre der soziale und menschliche Gewinn. Wenn durch geeignete genetische Beratung die Geburt eines einzigen mongoloiden Kindes verhindert werden kann, wird Unglück von einer Familie abgewendet.“1 Der Zeitungsartikel dokumentiert, dass es wieder an der Zeit war, die Selektion von behindertem Nachwuchs öffentlich als Wohltat zu deklarieren.

Der Aufbau humangenetischer Beratungsstellen

Mit Beginn der 1960er Jahre hatten in bundesdeutschen Großstädten wie Hamburg oder Frankfurt humangenetische Institute ihre Beratungstätigkeit für Einzelfälle aufgenommen. Strukturelle, technische und personelle Notwendigkeiten wurden nach und nach auf eine Ausdehnung der genetischen Beratung ausgerichtet. Als eine treibende Kraft wirkte die Stiftung für das behinderte Kind, an deren Spitze der Marburger Humangenetiker Gerhard Wendt nicht müde wurde, das Bild der Bedrohung durch die unkontrollierte Zunahme von „erbkranken Behinderten“ zu zeichnen. Das Gewicht dieser Stiftung lässt sich mit einem Blick auf die Mitglieder erahnen: Im Stiftungskuratorium saßen unter anderen die damalige Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Fritz Berg und Kurt Engelhorn für den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Hanns Martin Schleyer saß für Daimler-Benz neben Ernst Fromm, dem Präsidenten der Bundesärztekammer und dem Präsidenten der Hessischen Landesbank, Wilhelm Conrad.2 Der Ausbau des Selektionsinstrumentes humangenetische Beratung lag Politik und Wirtschaft offenbar sehr am Herzen.

Folgerichtig wurde 1972 die erste für die Allgemeinheit zugängliche genetische Beratungsstelle in Marburg öffentlichkeitswirksam eingeweiht. Medien quer durch die Bundesrepublik berichteten ausführlich und positiv über das Modellprojekt. Die Beratung erfolgte in den ersten Jahren kostenlos und wurde hauptsächlich vom Bundesgesundheitsministerium finanziert. Ab April 1974 wurden die Kosten für die genetische Beratung von den Krankenkassen übernommen, drei Jahre später arbeiteten bereits nahezu flächendeckend 41 humangenetische Institute und Beratungsstellen. Die Zahl der Ratsuchenden stieg kontinuierlich an, in Hamburg waren es im Jahr 1983 etwa 3.700 Personen, die sich an die Humangenetiker wandten, und zwar überwiegend Frauen.

Aussonderung statt Integration

Diese Fakten waren bereits geschaffen, als die bundesdeutsche Behindertenbewegung begann, nach Kontinuitäten eugenischen Gedankengutes zu forschen und die Verlogenheit offizieller Politik anzuprangern. Denn nahezu zeitgleich mit der Propagierung humangenetischer Angebote machten Slogans aus dem Bundessozialministerium die Runde wie „Einander verstehen - miteinander leben!“ oder „Jeder ist ein Teil des Ganzen!“ Mit diesen Aussagen wollte die etablierte Behindertenfürsorge der Öffentlichkeit vorgaukeln, dass dank ihres unermüdlichen Wirkens behinderte Menschen ganz selbstverständlich am allgemeinen Alltagsgeschehen teilnehmen könnten und dazu gehörten.

Diese Einschätzung der selbsternannten Wohltäter deckte sich allerdings nicht mit den Erfahrungen von behinderten Kindern und Jugendlichen, Frauen und Männern. Sie sahen sich statt dessen mit einem System der Aussonderung konfrontiert, das häufig den Lebensweg vorzeichnete: Vom Sonderkindergarten ging es in die Sonderschule mit dem nahtlosen Übergang in die Werkstatt für Behinderte, gewohnt wurde entweder als „ewiges Kind“ bei den Eltern (bis diese starben) oder gleich im Sonderwohnheim. Und diese Institution war noch anstrebenswerter als das Dasein in Anstaltsghettos mit angegliedertem Sonderfriedhof. Die Aussonderung von der „Wiege bis zur Bahre“ war der reale Kern in der Sonntagsrede vom „Teil des Ganzen“ - das bittere Stück vom schönen Kuchen.

Dennoch taten die Funktionäre von Behindertenverbänden und die Schönfärber aus der Sozialpolitik so, als würden behinderte Menschen über kurz oder lang und mit etwas Geduld zu „vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft“. Gleichzeitig erhielt der Volkswirt Hans Heinrich Freiherr von Stackelberg vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den Gesundheitsökonomiepreis, der für zukunftsweisende Arbeiten vergeben wurde. Stackelberg hatte 1980 in einer „Effektivitäts- und Effizienzanalyse“ sämtliche denkbaren Kosten, die die Existenz einer behinderten Person verursachen könnte, addiert. Die Summe stellte er dem finanziellen Aufwand für umfassende genetische Beratung gegenüber  und pries letztere als Investition in das „Vitalvermögen“ von Familie und Gesellschaft.3

Suche nach Kontinuitäten

Die junge politische Behindertenbewegung entlarvte Anfang der 1980er Jahre die salbungsvollen Worte ihrer Gönner als verlogenes Geschwätz und forderte konkrete Taten statt Warten. Sie wandte ihr Interesse den handelnden Personen der bundesdeutschen Behindertenpolitik zu, ihrer jeweiligen Motivation und ihren Interessenlagen:  den Experten in Behindertenvereinen und karitativen Verbänden, den Kinderärzten, Psychiatern oder Neurologen in den mildtätigen Stiftungen, den Zusammenschlüssen der Behindertenvertretungen und den Leitern von Kliniken und Anstaltsabteilungen. Sie fand bei Dutzenden von Fachleuten, die die Ausrichtung der Fürsorge bestimmten, direkte oder indirekte Beteiligungen an den Verbrechen an ausgegrenzten Menschen während des nationalsozialistischen Regimes. Die angeblichen Interessenvertreter entpuppten sich als Förderer genetischer Beratung zur Vermeidung der Geburt behinderter Menschen.

Angesichts dieser Gemengelage wurde der Begriff von der „Wohltäter-Mafia“ geprägt. Damit war ein Geflecht aus subjektiv fürsorglichen Anliegen mit einer ungebrochenen, aber der Zeit angepassten Orientierung auf Selektionsmaßnahmen gemeint. Ökonomisches Kalkül verband sich mit einem Menschenbild, das in der behinderten Person nur das zu verhindernde Übel sah und vor körperverletzenden Eingriffen nicht zurückschreckte. Selbstbestimmung und Kompetenz in eigener Sache kamen in diesem Weltbild nicht vor. Und während die Frauenbewegung darum kämpfte, keine Kinder bekommen zu müssen, stand für behinderte Frauen die Forderung auf der Tagesordnung, Kinder bekommen zu dürfen.4 Dieser Selbstverständlichkeit standen nicht zuletzt eugenisch geprägte Denktraditionen im sozialen Umfeld entgegen.

Die Auseinandersetzung mit dem System der Aussonderung und Entrechtung führte zu der Forderung der Schließung aller genetischen Beratungsstellen als eine moderne Variante der Selektion von Nachwuchs mit bestimmten Besonderheiten. Eine der Begründungen: Zukünftig werden behinderte Menschen zusätzlich das Stigma tragen, nicht rechtzeitig erkannt worden zu sein. Aus gegenwärtiger Sicht ist die Prophezeiung wahr geworden, berichten doch immer häufiger Mütter mit einem behinderten Kind von der irritierten Frage von Nachbarn oder Verwandten, ob „das“ denn heute noch sein muss.5 Ebenso treffend hieß es 1984 in einer Positionierung zur Beratung: „Wir lehnen die humangenetischen Beratungsstellen ab. Uns ist klar, daß dies in der Bundesrepublik ein einsamer Standpunkt ist. Schon jetzt kommen Vorwürfe: Wir würden es uns zu leicht machen, wir sollten die Vorteile eingehender Beratung berücksichtigen, die Situation der Mütter (und Väter) einbeziehen oder der Hinweis ‚Gebrochene Chromosomen sind gebrochene Chromosomen‘“.6 Die Frage, was hinter der Angst vor behinderten Kindern steckt, hat dagegen nie wirklich interessiert.

Welche Kritik?

Auf zahlreichen Veranstaltungen zur Kritik an der Humangenetik erhielt ich Mitte der 1980er Jahre heftig zustimmenden Beifall, wenn ich beispielsweise den Genetiker Widukind Lenz kritisch zitierte: „Wir kennen doch in den Randgebieten der großen Städte die Asozialen-Siedlungen. Hier haben viele Mütter doch schon vor ihrem dreißigsten Lebensjahr sieben oder acht Kinder, obwohl es ihnen wirtschaftlich schlecht geht und sie mit ihren Kräften dekompenisiert sind und den Erziehungsproblemen weitgehend hilflos gegenüberstehen. Diese Mütter bekommen ihre Kinder nicht nur, weil sie unfähig zur Empfängnisverhütung sind, sondern auch, weil die Familie praktisch vom Kindergeld lebt. Hier glaube ich, ist die soziale Indikation zur Sterilisation zugleich auch eine humane und eugenische.“7 Wenn ich aber anmerkte: „Ein paar mehr behinderte Neugeborene können nicht schaden!“, dann herrschte eher irritiertes Schweigen oder Schmunzeln über eine vermeintliche Provokation, die wohl nicht ganz so ernst gemeint sein dürfte.

Diese zwei Beispiele verweisen auf ein Dilemma, das sich im Verlauf der Auseinandersetzung verdichtete: Je mehr sich die moderne Zunft der Humangenetik von Kosten-Nutzen-Analysen und sozialhygienischen Denkmustern distanzierte sowie die Bezüge zur Selektionspolitik im Nationalsozialismus für aufgearbeitet erklärte, desto geringer wurde das Interesse, sich kritisch mit diesem medizin-technischen Zweig zu befassen. Der gängigen Parole „Hauptsache gesund!“ widersprachen nur wenige. Anders ausgedrückt: Je unpolitischer sich die Humangenetik präsentierte, desto bedenkenloser ließ sich der individuellen Furcht vor Behinderung nachgeben. Da ist es konsequent, dass nach der Akzeptanz genetischer Beratung auch nachfolgende Fahndungsmethoden wie pränatale Screenings und invasive Untersuchungen zum Aufspüren von Auffälligkeiten hingenommen und nachgefragt werden.

Die Humangenetiker dagegen können zufrieden sein und sich verbale Behindertenfreundlichkeit leisten. Durch den Paradigmenwechsel gegen Ende der fünfziger Jahren - statt staatlichen Zwangsmaßnahmen der Appell an eigenverantwortliches Handeln mit Blick auf (Volks-)Gesundheit und Familienglück - ist die „Eugenik von unten“ im Alltag angekommen: Pränatale Diagnostik gilt mittlerweile als völlig normal, wenn man „das Beste für sein Kind“ will.

Stimmen aus der Behindertenbewegung melden Zweifel an der Behauptung an, dass es eine objektive Beratung geben könne. Denn dagegen spricht allein schon die Erfahrung, regelmäßig mit abwertenden Reaktionen und Ansichten konfrontiert zu werden - trotz aller Ansätze, die Theorie und Praxis von Normalisierung, Integration und Inklusion versprechen.

  • 1Friedrich Deich: Genetische Beratungsstellen können Leid verhindern, Die Welt, 05.11.1976. „Mongoloid“ war die geläufige Bezeichnung für Menschen mit der Chromosomen-Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt.
  • 2Die Welt, 13.06.1967.
  • 3Vgl. Hans Heinrich Freiherr von Stackelberg: Probleme der Erfolgskontrolle präventivmedizinischer Programme, dargestellt am Beispiel einer Effektivitäts- und Effizienzanalyse genetischer Beratung. Dissertation, Universität Marburg 1980.
  • 4Auch nach dem Nationalsozialismus wurden sogenannte einwilligungsunfähige Personen sterilisiert, bis 1992 jährlich etwa 1.000 Mädchen und Frauen mit kognitiven Einschränkungen. Dass behinderten Frauen eine Abtreibung häufig nahegelegt wurde, thematisieren Carola Ewinkel, Gisela Hermes und andere in dem Sammelband Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen. München 1985.
  • 5Gerade Eltern von Kindern mit Trisomie 21 berichten von dem Vorwurf einer vermeintlich nicht ausreichenden Inanspruchnahme pränataler Untersuchungen aus ihrem engeren sozialen Umfeld. Vgl. Wolfgang Lenhard: Die psychosoziale Stellung von Eltern behinderter Kinder im Zeitalter der Pränataldiagnostik, Würzburg 2005, S. 87.
  • 6Udo Sierck, Nati Radtke: Die Wohltäter-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung, Hamburg 1984, S. 5.
  • 7Widukind Lenz zitiert in Gerhard Wendt: Genetik und Gesellschaft, Stuttgart 1970.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
235
vom April 2016
Seite 11 - 13

Udo Sierck ist Dozent an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Publizist und seit fast vier Jahrzehnten in der emanzipatorischen Behindertenpolitik aktiv.

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Humangenetische Beratung im Fokus von Bewegungen

1984 waren bei einem Einbruch in die humangenetische Beratungsstelle des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek Akten entwendet und der Hamburger Krüppelgruppe zur Auswertung überlassen worden. Die Auswertung der Akten bildete die Basis für das 1984 erschienene Buch „ Die Wohltäter-Mafia“. Mit ihrer detaillierten Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen und Praktiken in den humangenetischen Beratungsstellen trafen Udo Sierck und Nati Radke einen Nerv jener Zeit, in der sich Frauengruppen, studentische Initiativen oder kirchliche Kreise kritisch mit der Humangenetik beschäftigten.

1985 fand der erste feministische Kongress gegen Gen- und Reproduktionstechnologien statt. Die Forderung der Behindertenbewegung nach Schließung der humangenetischen Beratungsstellen wurde nur von einer Minderheit der 2.000 Teilnehmerinnen unterstützt.

Im August 1986 brachen Aktivistinnen der militanten Gruppierung Rote Zora in das Humangenetische Institut in Münster ein, sie enteigneten Akten und legten Feuer. Reproduktionstechniken und humangenetische Beratungsstellen wurden daraufhin vom Bundeskriminalamt zu „anschlagsrelevanten Themen“ erklärt.

(Kirsten Achtelik)