Qua Geburt in der DNA-Datenbank
Ein Forschungsprojekt schafft Rahmenbedingungen dafür, die DNA aller Neugeborenen in Deutschland zu untersuchen
Neugeborene auf verschiedene genetisch bedingte Krankheiten zu testen, ist in vielen europäischen Ländern üblich. Ambitionierte Pläne, diese Gesundheitsversorgung auszuweiten, könnten weitreichende ungewollte Folgen haben.

Das Blut eines Säuglings wird für ein Phenylketonurie-Screening gesammelt. Foto: Wikimedia
Mitte Juli lud das Projekt „NEW_LIVES“ an der Universität Heidelberg zu einem Abschlusssymposium ein. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Verbundvorhaben hatte seit 2022 Rahmenbedingungen entworfen, unter denen in Deutschland ein genomisches Neugeborenen-Screening durchgeführt werden könnte. Dieses würde beinhalten, das gesamte Genom von allen in Deutschland geborenen Babys auf angeborene Erkrankungen zu untersuchen, mit dem Ziel, betroffene Neugeborene möglichst früh zu behandeln und schwerwiegende Symptome zu verhindern. Die Internationale Konferenz über die Sequenzierung Neugeborener (International Conference on Newborn Sequencing – ICoNS) nennt 14 Projekte weltweit, die – angetrieben von Entwicklungen in der DNA-Sequenzierungstechnologie – Frühdiagnose von Erkrankungen bei Babys auf ein neues Niveau heben wollen. Acht davon führen bereits Pilotstudien durch, bei denen Tausende Babys untersucht werden. Auch in Großbritannien startete 2022 eine Pilotstudie mit 100.000 Neugeborenen. Obwohl diese längst nicht abschlossen ist, gab die Regierung im Juni ihre Pläne zur Ausweitung des genomischen Screenings bekannt.
Durch die Besonderheit von genetischen Daten und die Menge an sensiblen Informationen werfen solche Projekte ganz neue medizinethische Fragen auf als die bisherigen Untersuchungen nach der Geburt. Die riesigen Datenmengen, die von einer ganzen Bevölkerung erhoben werden würden, stellen zudem eine vielseitig begehrte Ressource dar – mit potenziell erheblichen Konsequenzen für betroffene Individuen und die Gesellschaft.
Das gläserne Baby
Die Umstellung des regulären Neugeborenen-Screenings auf eine Gesamtgenomsequenzierung (siehe Kasten) schüfe nicht nur einen medizinischen Informationsreichtum. Es entstünden auch ganz neue Möglichkeiten des Missbrauchs und ungewollter Folgen. Erst recht, wenn die DNA-Daten, wie momentan auch in Deutschland diskutiert wird, für die Weiterverwendung in der Forschung oder spätere Gesundheitsversorgung langfristig gespeichert würden. So würde indirekt eine nationale DNA-Datenbank erschaffen, auf die auch aus dem Ausland zugegriffen werden könnte, wenn die Daten als Teil der elektronischen Patientenakte in den geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum fließen.
Genomische Daten enthalten eine Vielzahl persönlicher Informationen, wie z. B. biologische Verwandtschaftsverhältnisse, Behinderungen, Gesundheitszustand und andere Merkmale. Sie sind zudem hochindividuell, nicht anonymisierbar und unveränderlich. Wegen dieser Eigenschaften sind Gendaten in der EU und Deutschland als besonders sensible Datenkategorie geschützt. Doch genomische Daten, die zu einem Analysezweck erstellt und gespeichert wurden, können relativ leicht zu anderen Zwecken verwendet werden.
Welche Begehrlichkeiten Gendaten von Neugeborenen wecken, zeigt ein aktueller Skandal um das genomische Neugeborenenscreening-Projekt in Griechenland. Im April enthüllten Journalist*innen, dass die griechische Regierung zugestimmt hatte, zwei privaten Unternehmen uneingeschränkten Zugriff auf die DNA-Informationen von Neugeborenen zu gewähren. Im Januar 2025 sollte eine Pilotstudie beginnen, bei der die genomischen Daten von 100.000 Babys erhoben werden sollten. Ein universales DNA-Screening für alle Neugeborenen in Griechenland sollte bis 2029 eingeführt werden. Laut der Vereinbarung zwischen den Unternehmen RealGenix und Beginnings und dem griechischen Gesundheitsminister Adonis Georgiadis wären die Genomdaten Eigentum von RealGenix geworden. Dafür hätten die Unternehmen die Kosten der Sequenzierung von 100.000 Genomen in Höhe von 56 Millionen Euro übernommen. Die Vereinbarung sieht weder Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der hochsensiblen Daten noch Anforderungen an eine elterliche Einwilligung oder Widerrufsrechte vor. Die Journalist*innen weisen in ihrem Bericht außerdem darauf hin, dass die Hälfte der von ICoNS aufgelisteten Projekte nicht von Ethikkomitees begutachtet und bewilligt wurden.
Weitreichende Konsequenzen
Zurück nach Deutschland: Bei NEW_LIVES ist die ethische Bewertung eine integrale Säule des Projekts. Die Abwägungen drehen sich vor allem um das Individuum: Auf welche Erkrankungen sollen die Genomdaten untersucht werden? Wie können Eltern ausreichend aufgeklärt werden, wie können sie zu negativen Befunden beraten werden? Ein aus dem Projekt hervorgegangenes Empfehlungspapier beschreibt Kriterien für die Auswahl der Zielkrankheiten sowie für die Qualität der informierten Einwilligung der Sorgeberechtigten.
Mit einer gesonderten informierten Einwilligung solle nach den Empfehlungen von NEW_LIVES auch eine Sekundärnutzung der Daten möglich sein. Der Gesetzgeber habe dabei „den Diskriminierungsschutz sicherzustellen“ gegenüber Arbeitgeber*innen oder Versicherungen. Der Schutz durch das Gendiagnostikgesetz vor staatlichem Zugriff auf Gendaten greift jedoch nicht mehr, wenn diese den medizinischen Kontext verlassen und zur Forschung benutzt werden. Und sollten die Daten in die elektronische Patientenakte der Neugeborenen fließen, können sie auch von pharmazeutischen Unternehmen beforscht werden – vermeintlich anonym, aber genetische Daten sind nie wirklich anonym. Ob eine Aufklärung der Sorgeberechtigten alle möglichen Konsequenzen dieser Datennutzung abdecken kann, bleibt unklar. Und wenn die informierte Einwilligung als Bedingung in den Vordergrund gerückt wird, bedeutet dies zugleich eine Abwälzung der Verantwortung auf das Individuum. In diesem Fall nicht mal auf die betroffene Person selber – das Neugeborene kann schließlich nicht einwilligen.
In Zeiten des politischen Rechtsrucks – in Deutschland und weltweit – müssen nicht nur individuelle Konsequenzen, sondern auch weitreichendere gesellschaftliche Folgen Teil einer Abwägung sein. In den USA nutzt die Polizei für ihre Ermittlungen sowohl kommerzielle, zu anderen Zwecken erstellte Gendatenbanken als auch im Rahmen des Neugeborenen-Screenings entstandene medizinische Fersenblut-Biobanken. In autoritären Regimen wie in China werden bevölkerungsweite Gendatenbanken zur Überwachung von ethnischen Minderheiten verwendet. Wenn die AfD zweitstärkste Kraft im Bundestag ist, muss mitgedacht werden, was eine extrem rechte Regierung mit sensiblen individuellen Daten z. B. über Behinderungen und Abstammung von Menschen anfangen könnte, die im Rahmen von Gesundheitsversorgung flächendeckend erhoben werden. Aus der deutschen NS-Geschichte gibt es mehr als genug Beispiele für die Missverwendung von Datensätzen zur effizienteren Verfolgung von Minderheiten. Für potenziell Betroffene und Datenschutzinteressierte ist es also höchste Zeit, sich in die komplexe medizinethische Fachdebatte zum genomischen Neugeborenen-Screening einzumischen.
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.
Vom biochemischen zu genomischen Screening
Im Unterschied zu anderen Gesundheitsuntersuchungen durch Hebammen oder Ärzt*innen, geht es bei Neugeborenen-Screenings darum, erkrankte Babys zu identifizieren und diese zu behandeln, bevor Symptome auftreten und Folgeschäden hinterlassen. Der erste flächendeckende Screening-Test in Deutschland startete 1969 auf Phenylketonurie (PKU). Hier verursacht eine seltene Variante des Gens PAH Probleme bei der Verstoffwechselung der Aminosäure Phenylalanin. Unbehandelt können Betroffene eine Reihe von Symptomen von Lernschwierigkeiten bis hin zu Krampfanfällen entwickeln. PKU ist ein ideales Ziel für ein Neugeborenen-Screening, da bei frühzeitiger Diagnose die ansonsten irreversiblen Folgen durch eine strenge Diät umgangen werden können. Das betroffene Kind kann somit eine durchschnittliche Gesundheit und Lebenserwartung erreichen.
Das Screening geschieht meist durch die biochemische Analyse von Fersenblut, das in den ersten Tagen nach der Geburt durch einen kleinen Nadelstich gewonnen, auf einen Papierträger getropft, getrocknet und in ein Labor geschickt wird. Bei auffälligen Befunden werden weitere Untersuchungen durchgeführt, um den Anfangsverdacht zu bestätigen und therapeutisch zu intervenieren. In Deutschland werden Babys momentan – nach Einverständnis der Eltern – auf 16 Erkrankungen getestet. Obwohl alle Erkrankungen genetische Ursachen haben, werden bisher nur einige Untersuchungen per Gentest durchgeführt. Tests, die auf DNA-Analysen statt auf der Analyse von Stoffwechselprodukten beruhen, haben den Vorteil, dass sie noch früher stattfinden können und nicht erst nach ein bis drei Tagen, wenn Erkrankungen auf biochemischer Ebene feststellbar sind. Rein hypothetisch könnten so aber auch Neugeborene als „krank“ identifiziert werden, die nie krank werden – was derzeit durch die strengen Einschlusskriterien für Erkrankungen in das Screening verhindert wird. Doch durch das technologische Upgrade auf Gesamtgenom-Sequenzierung ist eine grenzenlose Ausweitung des Screenings theoretisch möglich. Die Zahl der bekannten monogenetischen Krankheiten und Eigenschaften wächst ständig an; derzeit weiß man von den Auswirkungen von mehr als 4.600 Genen. Aber nicht alle diese Zusammenhänge sind lebensbedrohend oder behandlungswürdig. Studien zeigen immer wieder, dass viele gesunde Proband*innen vermeintlich pathologische Genvarianten besitzen.
Der Artikel erschien in ähnlicher Form zuerst am 25.07.2025 im nd.Die Woche.