Leerstelle Behinderung - linke Normalität?
Behindertenbewegung und Humangenetik
Die Forderung nach Schließung aller genetischen Beratungsstellen markierte den Anfang der Auseinandersetzung der Behindertenbewegung mit Eugenik und Humangenetik. Die Befürchtungen von damals sind leider wahr geworden, doch Thema linker Debatte ist das nicht.
Als 1984 die ‚Krüppelzeitung’ brisante Dokumente aus einer Hamburger humangenetischen Beratungsstelle veröffentlichte, löste das einen handfesten politischen Skandal aus. Panorama berichtete. Die Diskussion entfachte sich an der Veröffentlichung von Stammbaumforschungen, die in Form und Sprache an die historischen Vorbilder anknüpften und offenbar mehrfach zur Sterilisation minderjähriger Mädchen geführt hatten - auch ohne deren Einwilligung. Nachzulesen waren behindertenfeindliche Notizen wie: Muskelkranke Kinder „braucht es nicht mehr zu geben und darf es nicht mehr geben“. Es kam zu einer öffentlichen Debatte, in deren Verlauf die Zunft der Humangenetiker zeitgemäß hektisch und überheblich reagierte. Der Vorwurf war nicht selten, die Kritiker hätten wohl ihre Behinderung nicht verarbeitet. In einer Diskussion über die Spuren der Vergangenheit in der Humangenetik bekam ich von einem Experten zu hören, als spastisch Gelähmter sei ich inkompetent - ich hätte doch gar keine Erbkrankheit. Seither haben Humangenetiker viel dazu gelernt. Sie geben sich als objektive Berater von werdenden Müttern und Vätern und in öffentlichen Vorträgen kommt ihnen die proklamierte Solidarität mit behinderten Menschen aus ‚allen Knopflöchern’. Ins Wanken gerät diese Selbsteinschätzung nur noch, wenn die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild gestellt wird. ‚Hauptsache gesund’ geht noch immer flüssiger über die Lippen als ‚Behinderung ist schön’.
Formierung der Behindertenbewegung
Die kritische Beschäftigung mit der Humangenetik bewegte in den achtziger und neunziger Jahren viele autonome Frauengruppen, studentische Initiativen oder kirchliche Kreise. Neben den historischen Bezügen ging es vornehmlich um politische Perspektiven und gesellschaftliche Auswirkungen. Die Auseinandersetzung mit Körperidealen dagegen wurde von wenigen behinderten Personen angestoßen. Es war ein heikles Thema, das einen zwar auf Schritt und Tritt verfolgte, das aber auch nach einer Hinterfragung der gängigen Ideale und Normen verlangte. Um dies einigermaßen selbstbewusst anzugehen und öffentlich zu äußern, war die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertehierarchien in Bezug auf Körper und Ästhetik eine Voraussetzung. Die eigene Art der Fortbewegung wird nicht mit Behinderung in Verbindung gebracht, weil sie selbstverständlich rund um die Uhr vonstatten geht. Dabei ist es unbestritten, dass die Behinderung manchmal von Nachteil ist und Leid bedeuten kann. Zugeben konnten behinderte Frauen und Männer dies im Disput mit der Humangenetik aber schwer: Denn ständig lag die Aufforderung in der Luft, doch zuzugeben, dass das Leben mit Behinderung eine trübsinnige Angelegenheit sei. Die Behindertenbewegung hatte sich dagegen vorgenommen, dem gängigen Bild des hilflosen, abhängigen behinderten Menschen einen Gegenentwurf zu präsentieren: Die Krüppelmänner und Krüppelfrauen waren kämpferisch, aktiv, mutig und stolz auf sich selbst. Wenn man sich aber unverhofft im Schaufenster spiegelte, schlich sich der unangenehme Gedanke des Andersseins an. Das eigene Erscheinungsbild, die eigenen Bewegungen wichen ganz offensichtlich von der Normalität der Umgebung ab. Daran gab es nichts zu deuteln und es half auch kein Herumreden. Das Sichtbare zu akzeptieren und nicht selbst zu erschrecken und zu verstecken, diese Position brachten ausschließlich eine kleine Gruppe behinderter Streitlustige in die humangenetische Debatte ein. Sich offensiv hinzustellen mit der Behauptung ‚Behinderung ist schön!' war nicht nur Provokation, sondern Ausdruck eines neu eingeschlagenen Weges, auf dem die Vorgaben der Normalität ernsthaft hinterfragt wurden.
Der wachsende Normalitätsdruck kennt keine Ausnahmen
Dieser offensive Ansatz spielt(e) in der allgemeinen Auseinandersetzung mit dem humangenetischen Wirken eine untergeordnete Rolle. Das liegt einerseits daran, dass einige etablierte Behindertenverbände traditionell der Meinung sind, ihr Klientel sei von einem ‚Übel’ befallen, das es tunlichst mit allen zur Verfügung stehenden medizin-technischen Methoden zu vermeiden gilt. Andererseits wird die Kritik schnell zu ‚Schnee von gestern’, wenn sich die Kritiker von einst heute bei der genetischen Beratung einfinden, weil die ‚Hasenscharte’ großväterlicherseits eben doch Sorgen bereitet. Der Normalitätsdruck wird unterschätzt und spielt gleichzeitig eine treibende Rolle im privaten und im öffentlichen, politischen Rahmen.
Behindertenpolitik noch immer Randgebiet
Folgerichtig spielt die Auseinandersetzung mit solchen Fragen auch im linkspolitischen Spektrum keine Rolle. Behindertenpolitik ist für Attac oder Buko noch immer ein Randgebiet, das im Zuständigkeitsbereich von Pädagogik, Recht und Medizin verortet wird. Die Kritik von behinderten Personen an der Umweltbewegung, dass die unreflektierte Idealisierung von heiler Natur und Gesundheit als Kehrseite die Ausgrenzung von Behinderung und Krankheit befördere, ist bis heute unverstanden oder wird ignoriert. Über die selektierende Pränataldiagnostik regt sich niemand mehr auf: Offenbar war die linkspolitische Empörung eng verknüpft mit der Aufdeckung der personellen Kontinuitäten aus dem NS-Regime und mit den haarsträubenden Kosten-Nutzen-Analysen aus den achtziger Jahren, die den volkswirtschaftlichen Wert genetischer Praxis untermauern sollten. Beide Aspekte stehen aktuell nicht mehr auf der politischen Tagesordnung und gelten als historisches Moment. Die Befürchtung, behinderte Menschen könnten zusätzlich das Stigma tragen, nicht rechtzeitig erkannt worden zu sein, hat sich bewahrheitet. Es ist im Alltag nicht einfach, auf der Unnormalität zu bestehen und den angeblichen Segnungen der Humangenetik im Wege zu stehen. Lebenslänglich bedeutet in diesem Zusammenhang kein Strafmaß, sondern die Herausforderung, ständig Energien zu entwickeln, um sich die individuellen Wünsche nach Möglichkeit zu erfüllen. Und zwar mit den eigenen langsamen oder spontanen, gleitenden oder ruckartigen, ungewöhnlichen oder bekannten Bewegungen.
Udo Sierck ist Dozent an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Publizist und seit fast vier Jahrzehnten in der emanzipatorischen Behindertenpolitik aktiv.