Was macht Deine DNA so besonders?

Diskussionsbeitrag zu reproduktiver Gerechtigkeit und assistierter Reproduktion

Loretta J. Ross ist eine der bekanntesten Protagonist*innen aus dem Schwarzen Feminismus in den USA, die das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit eingeführt und verbreitet haben. Am 10. Februar 2022 hielt sie eine Keynote in der Kampnagel-Fabrik in Hamburg. Anlass war eine Veranstaltung zu Gender-Medizin. Ross antwortete im Anschluss an ihren Vortrag auf eine Frage aus dem Publikum. Die Frage war, wie sie Leihschwangerschaften und Eizelltransfer aus einer Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit bewertet und wie das in den USA diskutiert wird.

Portraitfoto von Loratta J. Ross. Ihr Gesicht ist vor einem Bücherregal zu sehen und sie lächelt in die Kamera.

Loretta J. Ross 2018. Foto: © privat.

„In den Communities, die sich mit reproduktiver Gerechtigkeit befassen, wird relativ umfangreich über das diskutiert, was wir assistierte Reproduktionstechnologien nennen. Dazu gehört auch die Leihmutterschaft, also das Mieten der Gebärmutter eines anderen Menschen, um ein Kind zu bekommen. Zwar ist das Menschenrecht, sich für ein Kind entscheiden zu können, ein sehr wichtiger Wert der reproduktiven Gerechtigkeit. Aber dieses Recht kommt nicht ohne eine Rücksichtnahme auf die Verletzlichkeit anderer Menschen aus. Du hast kein Menschenrecht darauf, Menschen in verletzlichen Situationen auszubeuten. Du kannst dein Menschenrecht nicht dadurch verwirklichen, indem du die Menschenrechte anderer verletzt: das ist ein Widerspruch in sich. Dieses Gespräch müssen wir führen und uns fragen, ob es in einer Situation, in der wir es mit kapitalistischen Geschäftsmodellen zu tun haben, Leihmutterschaftsarrangements geben kann, die nicht ausbeuterisch sind. Wenn Menschen mit Geld Menschen ohne Geld ausbeuten, um ihre Elternschaft zu erreichen, dann ist das nicht akzeptabel.

Gleichzeitig müssen wir eine wirkliche Diskussion über die Ideologie der weißen Vorherrschaft führen, die besagt, dass die eigene DNA der einzige und beste Weg zur Elternschaft ist. Was zur Hölle macht denn deine DNA so verdammt besonders? Blut und Gene politisch anzubeten, hat seinen Hintergrund in einer Geschichte weißer Vorherrschaft und neofaschistischer Weltanschauungen. Und auch wenn du dich anders identifizierst, bedeutet das nicht, dass du nicht anfällig dafür bist, dich den damit verbundenen patriarchalen Werten unterzuordnen – also anfällig dafür, die eigene DNA, die eigene biologische Mutter- oder Vaterschaft anzustreben und zu vergöttern. Diese Gespräche müssen wir meiner Meinung nach führen. Denn es gibt so viele Kinder, die bereits auf der Welt sind und liebevolle Eltern brauchen. Warum bist du so darauf erpicht, deine DNA zu vervielfältigen? Warum ist das die einzige und beste DNA, auf der du Elternschaft begründen willst? Letztendlich sagt das mehr über deinen Egoismus aus als über deinen Wunsch, einem anderen Menschen tatsächlich elterliche Liebe geben zu wollen. Dass wir diese Gespräche nicht führen, zeigt, dass wir schon so an diese patriarchalen Werte angepasst sind, dass wir schon so von der Besonderheit unserer Gene, die wir unbedingt erhalten und weitergeben wollen, überzeugt sind, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken. Im Grunde ist das immer die gleiche Politik des Blutes: Wir kritisieren sie, wenn sie mit einer bestimmten Symbolik einhergeht, die wir nicht mögen; aber wir finden sie ok, wenn wir sie mit einer Identität in Verbindung bringen, die wir mögen.“

Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Schultz.
Auf Englisch nachzuhören unter: www.kurzelinks.de/gid266_rk.

Zum Weiterlesen:

Loretta J. Ross (2021): Reproductive Justice. Ein Rahmen für eine anti-­essentialistische und intersektionale Politik, in Kitchen Politics (Hg.): Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit, edition assemblage: Münster, S.17-60.

Ross, L.J./Roberts, L./Derkas, E./Peoples, W./Bridgewater Toure, P. (Hg.) (2017): Radical Reproductive Justice. Foundations – Theory – Practice – Critique. Feminist Press, New York.

Erschienen in
GID-Ausgabe
266
vom August 2023
Seite 8

Loretta J. Ross ist eine der bekanntesten Protagonist*innen aus dem Schwarzen Feminismus in den USA.

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