Die Glyphosat-Bewertung: Dreiste Lügen
Trotz erdrückender Beweislage wird Krebsgefahr heruntergespielt
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat zu großen Teilen die vielfach kritisierte Bewertung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) übernommen, derzufolge von Glyphosat keine Krebsgefahr ausgehe. Diese Einschätzung steht im unverhüllten Widerspruch zu den vorliegenden Daten und lässt erahnen, welcher Lobbydruck da aufgebaut wurde.
Glyphosat ist der aktive Wirkstoff in Unkrautvernichtungsmitteln wie Roundup von Monsanto oder Touchdown von Syngenta. Er ist das weltweit am häufigsten verwendete Ackergift und spielt beim Anbau gentechnisch veränderter herbizidtoleranter Pflanzen eine besondere Rolle. Die Zulassung von Pestiziden in der EU muss in regelmäßigen Abständen erneuert werden. Für Glyphosat läuft dieser Neubewertungsprozess seit 2012. Die Federführung obliegt den deutschen Behörden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) ist damit beauftragt, die Giftigkeit des Wirkstoffs zu bewerten und der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eine Empfehlungvorzulegen. Mitten in diesen Bewertungsprozess platzte im März dieses Jahres die Meldung, dass die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation WHO, Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend für den Menschen“ einstufte. VerbraucherInnen weltweit waren alarmiert, staatliche Stellen in mehreren Ländern haben Anwendungsstopps verhängt oder gefordert - nur das BfR zeigte sich unbeeindruckt: Seine eigene Bewertung ergäbe keine Krebsgefahr durch Glyphosat. Wie kommt es zu den gegensätzlichen Einschätzungen?
Gefahreneinstufung oder Risikobewertung?
Ende August veröffentlichte das BfR eine detaillierte Stellungnahme zu den Unterschieden zwischen seinem eigenen Bewertungsbericht und dem Bericht der IARC. Unter anderem wurde die unterschiedliche Bewertung der Krebsstudien an Versuchstieren betrachtet, was von besonderer Wichtigkeit ist. Denn wenn die Beweiskraft ausreicht, um „eine karzinogene Wirkung beim Tier (wahrscheinliches Humankarzinogen) nachzuweisen“, wird der Stoff in die EU-Kategorie 1B eingestuft.1 Die Pestizidverordnung der EU schreibt vor, dass Wirkstoffe dieser Kategorie grundsätzlich nicht als Pestizide zugelassen werden dürfen.2 Diese Einstufung der Gefahr eines Wirkstoffs (des so genannten „Hazard“) ist in der EU der Risikobewertung vorgeschaltet: Erst im zweiten Schritt, nach der Gefahreneinstufung, folgt die eigentliche Risikobewertung. Dieses schrittweise Vorgehen wurde vom BfR missachtet. Sowohl in seinen Verlautbarungen als auch in einem entsprechendem Statement seines Präsidenten Andreas Hensel wird suggeriert, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der Einschätzung durch das BfR und die IARC darin bestünde, dass letztere „sich einfach oft mit dem sogenannten Hazard (beschäftigt)“, während „(d)as BfR eine Bewertungsbehörde (ist), die Exposition berücksichtigen soll“.3 Dieses Vorgehen muss als Versuch einer Irreführung gewertet werden, denn die Berücksichtigung der Exposition kann erst erfolgen, nachdem eine Hazard-Einschätzung vorgenommen wurde. Wenn der Hazard „wahrscheinlich beim Menschen karzinogen“ lautet, gelten völlig andere Spielregeln. Das ist der Grund, warum das BfR - und nunmehr auch die EFSA - eine Einstufung von Glyphosat in die Kategorie 1B scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
Mäusestudien zeigen Krebsgefahr
Folgen wir Herrn Hensels „dringender Empfehlung“, die Bewertung der vorliegenden Studien auf „wissenschaftlicher Ebene zu diskutieren“ 4 und konzentrieren uns auf die Ergebnisse der Krebsstudien an Mäusen. Laut EU-Verordnung 1272/2008, die explizit den Kriterien der IARC folgt, ist eine Einstufung in die Kategorie 1B bereits dann angemessen, wenn die Entstehung von Krebs bei einer Tierart bei nur einem Geschlecht aber in zwei unabhängigen Laboren nachgewiesen wurde. Die IARC identifizierte zwei Studien, in denen die Aufnahme Glyphosat-haltigen Futters eine erhöhte Tumorbildung zur Folge hatte und damit potentiell krebserregend wirkte. Dem BfR standen drei weitere Studien zur Verfügung, zu denen die IARC keinen Zugang hatte, aber lediglich in einer Studie erkannte es einen signifikanten Krebseffekt. Dieser wurde jedoch für bedeutungslos erklärt, weil in den anderen vier Studien angeblich keine signifikant größere Tumorhäufigkeit auftrat.
Die Tumorhäufigkeit kann mit zwei verschiedenen mathematischen Verfahren analysiert werden: mit paarweisen Vergleichen oder mit Trendtests. Obwohl die relevante Richtlinie seit 2012 ausdrücklich die Anwendung von Trendtests empfiehlt, gab sich das BfR mit paarweisen Vergleichen zufrieden. Im Gegensatz dazu hatte die IARC Trendtests angewendet. Dies erklärt den Unterschied in der Bewertung. Die Analyse mit dem Trendtest wurde vom BfR in seinem im August 2015 vorgelegten Addendum nachgeholt. Das Ergebnis war frappierend: Statt nur in einer waren plötzlich in allen fünf Mäusestudien signifikante Krebseffekte sichtbar (siehe Tabelle). Das Argument, vier Studien ohne Effekt würden eine Studie mit Effekt entkräften, war also nicht mehr haltbar.
Andere Argumente - gleiches Ergebnis
Die Tatsache, dass dem BfR das entscheidende Argument (vier krebsfreie Studien „neutralisieren“ eine Studie mit Krebseffekt) wegbrach, führte jedoch nicht zu einer Änderung in den Schlussfolgerungen, sondern zu einer Änderung in der Argumentation. Die Schlussfolgerung, dass von Glyphosat keine Krebsgefahr ausgehe, schien bereits festzustehen, egal wie hanebüchen die Argumente ausfallen. Das BfR änderte kurzerhand die Spielregeln zur Bewertung der Studien: „(Man) solle vermeiden, seine Schlussfolgerungen allein aus statistischer Signifikanz abzuleiten.“ 5 Völlig absurd wird es bei der Gesamtbewertung der Befunde: „Weil es an ausreichenden Beweisen für ein Krebsrisiko fehlt, liefern die mechanistischen Studien keine weiteren Beweise für einen krebserregenden Wirkungsmechanismus.“ Zuerst wird also gesagt, statistische Belege allein genügen nicht; den nachgewiesenen Krebseffekten wird damit die Bedeutung aberkannt. Wenige Zeilen später erklärt das BfR dann, dass Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus der Krebsentstehung nicht berücksichtigt werden müssen, weil die Tierversuche keine Hinweise auf Krebseffekte ergeben hätten. Das BfR zieht diese Schlussfolgerung, obwohl es sowohl Wirkungsmechanismen zur Krebsentstehung als auch statistisch signifikante Effekte in Tierversuchen in seinem eigenen Bericht dokumentiert hat.
Das ganze kulminiert in einer abenteuerlichen Präsentation so genannter historischer Kontrolldaten. Ohne ins Detail zu gehen, genügt es zu wissen, dass in begründeten Fällen eine Krebsstudie zusätzlich bewertet werden kann, indem man die Daten unbehandelter Kontrolltiere aus früheren Studien berücksichtigt. Um verzerrte Vergleiche zu verhindern, gelten für dieses Verfahren strenge Regeln.6 So sollen unter anderem nur Daten verwendet werden, die nicht älter als fünf Jahre sind, und diese sollen in verschiedenster Hinsicht mit den Daten des aktuellen Versuchs gut vergleichbar sein. Diese Vorgaben wurden vom BfR massiv verletzt - ein Vorgehen, das von der EFSA bedenkenlos und unter Hinzufügung einer expliziten Lüge übernommen wurde. Die EFSA schreibt in ihrer im November 2015 publizierten Schlussfolgerung: „Der EU Peer Review zog relevante historische Kontrolldaten des durchführenden Laboratoriums in Betracht.“7 Tatsächlich gibt es im Bewertungsbericht nur eine einzige Stelle, wo brauchbare historische Kontrolldaten des durchführenden Laboratoriums Erwähnung finden, und dort unterstützen diese Daten die Schlussfolgerung, dass Glyphosat Krebs erzeugt.
Auch der letzte Versuch von BfR und EFSA, sich der erdrückenden Beweislage bezüglich der von Glyphosat ausgehenden Krebsgefahr zu erwehren, basiert auf Lügen. BfR und EFSA argumentieren, dass Krebseffekte - wenn überhaupt - nur bei extrem hohen Wirkstoffdosen (oberhalb von 1.000 mg pro Kilogramm Körpergewicht und Tag) zu sehen waren. Dies sei mit „exzessiver Toxizität“ verbunden gewesen. Doch bei den Studien aus den Jahren 1993 und 2009 wurde das 1.000 mg-Limit gar nicht überschritten (vgl. Tabelle). Bei den anderen Studien bestand die „exzessive Toxizität“ nicht in massiven Organschädigungen, sondern in einer verringerten Gewichtszunahme, die aber - und das wird von EFSA und BfR verschwiegen - nur durch eine geringere Futteraufnahme bedingt war. Außerdem ist bekannt, dass im Magen-Darm-Trakt nur etwa 20 Prozent des verabreichten Glyphosats resorbiert werden. Würde man dies berücksichtigen, lägen sämtliche Studien unterhalb der 1.000 mg-Grenze.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die deutsche und die europäische Behörde trotz klar erkennbarer gegenteiliger Beweise den Interessen der Pestizidhersteller folgen und an ihrer Bewertung festhalten, dass Glyphosat nicht krebserregend sei. Das Ausmaß und die Offensichtlichkeit der Diskrepanz zwischen dieser Schlussfolgerung und der tatsächlichen Datenlage stellt eine grob fahrlässige, wenn nicht vorsätzliche Verletzung des gesellschaftlichen Auftrags dieser Behörden dar, die - wenn es die Möglichkeit dazu geben sollte - gerichtlich verfolgt werden müsste.
- 1Verordnung (EG) Nr. 1272/2008, S. 104.
- 2Verordnung (EG) Nr. 1007/2009, S. 42.
- 3Zitat während der öffentlichen Anhörung vor dem Landwirtschaftsausschuss im Deutschen Bundestag, 28.09.2015, S. 22. Wortprotokoll unter www.kurzlink.de/GID232_y.
- 4Siehe Fußnote 3, S. 14.
- 5BfR: Glyphosate. Renewal assessment report. Addendum 1 to RAR, 31. August 2015. Download unter www.mdr.de beziehungsweise www.kurzlink.de/GID233_x. Laut MDR wurde das Dokument aufgrund einer einstweiligen Verfügung von der Website genommen.
- 6OECD (2012): Guidance Document 116 on the Conduct and Design of Chronic Toxicity and Carcinogenicity Studies, Supporting Test Guidelines 451, 452 and 453, 2nd Edition Series on Testing and Assessment No. 116.
- 7EFSA Journal 2015;13(11):4302, S. 11.
Peter Clausing ist Toxikologe, arbeitet beim Pestizid Aktions-Netzwerk e.V. und publiziert zu verschiedenen Themen unter anderem bei www.welt-ernaehrung.de.
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Toxizitätsbewertung von Pestiziden:
das Problem der Beistoffe
Die vermarkteten Gemische aus Pestizidwirkstoff und Formulierungshilfsstoffen (Beistoffen) werden auch als Präparate bezeichnet. Für diese ist nur ein Minimalprogramm an toxikologischer Prüfung gefordert. Während für die Bewertung der Pestizidwirkstoffe langfristige Organschäden, mögliche Schädigungen von Erbgut, ungeborenem Leben und Krebseffekte in Betracht gezogen werden (EU-Verordnung 1107/2009), reduziert sich der geforderte Umfang bei den Präparaten auf die Untersuchung eines „repräsentativen“ Handelsprodukts. Dieses wird auf akute Toxizität (nach einmaliger Verabreichung), Arbeitsschutzaspekte (Haut-, Augen- und Schleimhautreizung und Sensibilisierung) und eventuelle Zusatzuntersuchungen getestet. Über letztere entscheiden die Behörden „von Fall zu Fall“ (EU-Verordnung 284/2013). Den Wirkstoff umfangreich zu testen und die daraus hergestellten Präparate einem geringeren Testumfang zu unterwerfen, mag akzeptabel sein, so lange die Beistoffe „inert“ sind, also selbst keine Wirkung haben und die des Wirkstoffs nicht beeinflussen. Um dies zu beurteilen, sind die oben genannten Untersuchungen jedoch nicht ausreichend. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Tests in Zellkulturen, die unter Vermeidung zusätzlicher Tierversuche Toxizitätsunterschiede zwischen Wirkstoff und Präparat aufdecken könnten. Wichtig wäre jedoch, dass die Behörden in einem solchen Fall dann entsprechende Konsequenzen ziehen. Aber die ungenügende Testung der Präparate ist nicht das einzige Problem. Hinzu kommt, dass die Auswahl des „repräsentativen“ Präparats für die Testung zunächst der Industrie überlassen wird. Ein Mitarbeiter des BfR machte deutlich, dass bei Glyphosat (in Deutschland sind 29 Präparate auf dem Markt) die Industrie ein „ziemlich harmloses“ Präparat für die Testung auswählte.1 Dabei ist Glyphosat nicht der einzige Fall, bei dem Präparate toxischer sind als der Wirkstoff.2 Vollkommen abwegig wird das Ganze, wenn eine höhere Toxizität der Präparate nicht nur ohne Folgen für die Bewertung des Stoffes bleibt, sondern wissenschaftlichen Publikationen mit genau dieser Begründung - dass nämlich das Präparat und nicht der Wirkstoff untersucht wurde - die Relevanz aberkennt wird. Genau diese Praxis wurde im Bewertungsbericht zu Glyphosat in zahlreichen Fällen angewendet.
(Peter Clausing)
- 1Lars Niemann: Stand der toxikologischen Neubewertung von Glyphhosat durch das BfR. Vortrag auf dem BfR-Symposium zu Glyphosat, Berlin, 20.01.2014.
- 2Robin Mesnage et al. (2014): Major Pesticides Are More Toxic to Human Cells Than Their Declared Active Principles. BioMed Research International, www.kurzlink.de/gid233_t.
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