Zwang und Fremdbestimmung
Historische Kontinuitäten der reproduktiven Selbstbestimmung von behinderten Menschen
Im NS wurden ca. 400.000 Menschen zwangssterilisiert. In der BRD wurde diese Praxis bis in die 1980er Jahre nicht als Unrecht anerkannt. Sterilisationen an behinderten Menschen gegen deren erklärten Willen wurden erst 1992 verboten, eine Sonderregelung für als „nicht einwilligungsfähige“ Personen wurde im Januar 2023 gestrichen. Ist damit nun endlich alles gut?
Bild von Amina, 10 Jahre.
Ansätze, mit Zwangsmaßnahmen die Fortpflanzung von als „minderwertig“ gelabelten Menschen zu verhindern, sind keine genuine Erfindung der NationalsozialistInnen.1 Der Gedanke, durch pro-natalistische Anreize die Geburtenrate bestimmter Bevölkerungsgruppen zu erhöhen und die Fortpflanzung anderer Gruppen bzw. Individuen zu verhindern und somit eine angebliche „Verbesserung“ der Gesamtbevölkerung zu erzielen, findet sich bereits bei Platon. Mit der Darwinschen Evolutionslehre und den Veröffentlichungen Galtons erhielt diese Idee neuen Aufwind und eine vermeintlich wissenschaftliche Unterfütterung. Veröffentlichungen zu diesem Thema und die Gründung eugenischer Gesellschaften hatten ab Ende des 19. Jahrhunderts Konjunktur. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zahlreiche Länder Sterilisationsgesetze und -programme ein, darunter die Bundesstaaten Indiana und Kalifornien in den USA, aber beispielsweise auch die Schweiz und Dänemark.2
Keines dieser Gesetze und Programme war allerdings so umfassend und systematisch wie das im nationalsozialistischen Deutschland. Laut dem am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) konnten Menschen, deren „Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden“, nach Entscheid der eigens dafür eingerichteten Erbgesundheitsgerichte sterilisiert werden – auch gegen ihren Willen. Unter das Gesetz fielen Menschen mit Lernbehinderung, psychisch kranke Menschen, Alkoholiker*innen, ebenso wie körper- und sinnesbehinderte Personen, sowie politische Gegner*innen und Menschen, die als moralisch verkommen galten und aufgrund ihres Lebenswandels als „schwachsinnig“ kategorisiert wurden. Bis 1945 wurden ca. 400.000 Menschen unter dem GzVeN sterilisiert, etwa 5.000 Personen, vorwiegend Frauen, starben bei den Eingriffen oder an deren Folgen.
Zwangssterilisationen auch nach dem NS
Auch nach dem NS wurde diese Praxis in Deutschland nicht als Unrecht anerkannt. In der DDR fokussierte man sich auf die zwangssterilisierten politischen Gegner*innen. In der BRD galten Zwangssterilisationen an behinderten und psychisch kranken Menschen weiterhin als normales bevölkerungspolitisches Instrument. Unter Verweis auf Sterilisationsprogramme in demokratischen Ländern und die Existenz der Erbgesundheitsgerichte wurde postuliert, es habe sich hierbei um eine rechtsstaatliche Praxis gehandelt. Nach langen Kämpfen erhielten Betroffene ab 1980 Entschädigungszahlungen, 1988 erklärte der Bundestag die Urteile der Erbgesundheitsgerichte zu NS-Unrecht. Erst 2007 erklärte der Bundestag das Gesetz sei „Ausdruck der menschenverachtenden nationalsozialistischen Auffassung vom ‚lebensunwerten Leben‘“, eine offizielle Anerkennung der Betroffenen als Opfer der NS-Verfolgung bleibt aber bis heute aus.3
Ein neues Sterilisationsgesetz gab es in der Bundesrepublik nicht. Sterilisationen an behinderten Menschen ohne deren Einwilligung wurden aber dennoch vorgenommen – teilweise auf Grundlage des GzVeN. 1966 entschied der Bundesgerichtshof, dass eine Sterilisation gegen den Willen der betroffenen Person eine schwere Körperverletzung darstelle. Er räumte aber eine Ausnahme ein, wenn Lebensgefahr für die Frau bestünde; dieser Zusatz schuf einen großzügigen Interpretationsspielraum, zudem griff die Regelung erst für volljährige Personen, viele Sterilisationen wurden somit vor dem 18. Lebensjahr vorgenommen.4
War im NS der rassistische und behindertenfeindliche Gedanke an einen „gesunden Volkskörper“ die Motivation hinter dem GzVeN, trat nun eine paternalistische Fürsorgehaltung an seine Stelle. Im Nachgang des Contergan-Skandals5 wurde schwangeren Personen zumindest implizit eine Verantwortung für die Geburt eines nicht-behinderten Kindes zugeschrieben. Hier herrschte ein Bild vor, das Behinderung vor allem mit Leid gleichsetzt. Anstatt eines kollektiven Volkskörpers fand sich vermehrt der Gedanke einer individualisierten Verantwortung zur Vorsorge, wenngleich dieser weiterhin mit ableistischen Normvorstellungen aufgeladen blieb. Die ab den 1970er Jahren überall in Deutschland entstandenen humangenetischen Beratungsstellen wurden öffentlich auch damit beworben, „zukünftiges Leiden“ vermeiden zu können. Neben der voranschreitenden Pränataldiagnostik gaben diese Institutionen auch Sterilisationsempfehlungen aus. Obwohl Sterilisationen am Samenleiter leichter vorzunehmen sind, wurden hauptsächlich Tubenligaturen, also Eingriffe an den Eileitern, durchgeführt. Die Datenlage ist ungenau, Schätzungen für die 1980er Jahre gehen aber von etwa 1.000 Sterilisationen an Frauen und Mädchen mit Lernbehinderung pro Jahr aus. Die Krüppelfrauenbewegung forderte bereits damals die Schließung der humangenetischen Beratungsstellen.6
Die Menschen, denen die vermeintliche Fürsorge galt, wurden in der Debatte nicht als Subjekte mit eigenen Interessen, Zukunftsplänen und Wünschen wahrgenommen, sondern als zu schützendes Mündel, wobei der Schutzgedanke selbst ebenfalls ein vordergründiger blieb. Bei Menschen mit Lernbehinderung genügte lange eine Erklärung ihres gesetzlichen Vormundes, der regionalen Ärztekammer und des*der ausführenden Gynäkolog*in, um von einer Freiwilligkeit der behandelten Person auszugehen. Für die ausreichende Aufklärung trugen dafür nicht ausgebildete Ärzt*innen die Hauptverantwortung. In zahlreichen Gutachten finden sich Passagen, in denen eine Sterilisation mit dem Verweis auf mögliche (zukünftige) sexualisierte Gewalt empfohlen wird.7 Unfruchtbarkeit verhindert aber nicht die Gewalt, sondern lediglich eine Schwangerschaft und damit auch das Sichtbarwerden sexualisierter Gewalt ebenso wie konsensueller Sexualität von behinderten Menschen. Eine unrühmliche Rolle nahmen in dieser Diskussion Träger der sogenannten Behindertenhilfe ein, die sich mehrfach gegen eine Erschwerung der Sterilisationspraxis sträubten, was nahelegt, dass hier nicht die Interessen der Klient*innen, sondern der reibungslose Ablauf des Betreuungsalltags und die Interessen der Träger im Vordergrund standen.
1990 schließlich wurde die Sterilisation Minderjähriger verboten. 1992 wurden dann auch die Hürden für die Sterilisation als nicht-einwilligungsfähig geltende Person über eine Reform des Betreuungsrechts erschwert, das nun neben der rechtlichen Betreuung die Bereitstellung einer gesonderten Sterilisationsbetreuung vorsah. Bis Januar 20238 galt für als einwilligungsunfähig geltende Menschen eine Ausnahmeregelung, über §1905 BGB, wonach Sterilisationen auch gegen ihren erklärten Wunsch vorgenommen werden konnten:
Besteht der ärztliche Eingriff in einer Sterilisation des Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann, so kann der Betreuer nur einwilligen, wenn
- die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht,
- der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird,
- anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde,
- infolge dieser Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren zu erwarten wäre, die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte, und
- die Schwangerschaft nicht durch andere zumutbare Mittel verhindert werden kann.
Wichtig hierbei ist, dass als schwerwiegende Beeinträchtigung der schwangeren Person explizit auch die psychischen Folgen einer etwaigen zukünftigen Fremdunterbringung des Kindes gefasst wurden. Hier wurde nicht nur die Vorstellung zugrunde gelegt, Menschen mit Lernbehinderung könnten keine angemessene Elternrolle einnehmen; fehlende Unterstützungsmöglichkeiten wie ein Mangel an geeigneten Eltern-Kind-Wohnplätzen wurden darüber hinaus zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt und als Begründung für körperliche Eingriffe herangezogen. Die Ausnahmeregelung bot einen enormen Ermessensspielraum, z.B. auch in der Einschätzung, ob eine Schwangerschaft anderweitig verhindert werden könne. Initiativen der Behindertenrechtsbewegung kritisierten das Gesetz immer wieder scharf, gleichzeitig lief es von Deutschland ratifizierten internationalen Abkommen wie der UN-Behindertenrechtskonvention und der Istanbul-Konvention zuwider. Zuletzt wurde Deutschland 2015 vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgefordert, den Passus zu streichen und den menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.9
Kein Raum für selbstbestimmte Sexualität
Sterilisationen sind jedoch nicht die einzige Form, in der in Deutschland in die reproduktiven Rechte von behinderten Menschen eingegriffen wurde und wird. Bereits die Wohnstrukturen in der sogenannten Behindertenhilfe zielten lange auf eine Verhinderung von Sexualität und damit verbundenen möglichen Schwangerschaften. So waren Einzelzimmer bis weit in die 1990er Jahre in Wohngruppen noch längst kein Regelfall. Gesellschaftlich hält sich, in Teilen bis heute, ein Bild von Sexualität und Behinderung, wonach diese entweder als triebhaft konstruiert oder Menschen mit Lernbehinderungen überhaupt keine erwachsene, selbstbestimmte Sexualität zugestanden wird.
In der Verhütungspraxis zeigen sich noch immer deutliche Unterschiede zur Gesamtbevölkerung. Laut einer Erhebung des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) unterzogen sich noch 2013 17 Prozent aller behinderten Frauen zwischen 15 und 65 Jahren einer Sterilisation.10 Die meisten dieser Eingriffe fanden freiwillig statt – inwiefern dieser Einwilligung aber eine tatsächlich verständliche Aufklärung vorausging und wie groß der Einfluss von Angehörigen und Betreuer*innen auf die Entscheidungsprozesse war, lässt sich nicht ergründen. Die Erhebung zeigt zudem einen erheblichen Unterschied in der Wahl der Verhütungsmittel: so verhüteten 43 Prozent der in Einrichtungen lebenden Menschen mit der Dreimonatsspritze. Im Bevölkerungsdurchschnitt wird diese Methode lediglich von ein bis zwei Prozent angewandt; die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt sie wegen starker Nebenwirkungen nur Personen, die Probleme mit anderen Verhütungsmitteln haben. Eine Befragung von 245 Betreuungskräften in allen Bundesländern aus dem Jahr 2019 weckt zudem erhebliche Zweifel an der Selbstbestimmtheit der Verhütungspraxis im Sinne einer informierten Entscheidung: so gaben 21,6 Prozent der Betreuungskräfte an, dass einige/alle Klient*innen nicht über die Anwendung der Verhütungsmittel informiert seien, da sie dies kognitiv nicht verstehen könnten, und 4,5 Prozent sogar, obwohl sie dies verstehen könnten. 70,6 Prozent der Betreuungskräfte gaben an, dass Klient*innen Verhütungsmittel nutzen, obwohl sie aktuell nicht sexuell aktiv seien.11
Auch der juristische Umgang mit Sterilisationen zeigt auf, dass die reproduktive Selbstbestimmung von behinderten Menschen weiterhin wenig respektiert wird und Verletzungen ihrer körperlichen Unversehrtheit nicht in ihrer Schwere anerkannt werden. So wurde im Juni 2023 ein bayerischer Arzt zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er in Absprache mit dessen Eltern eine Sterilisation an einem Mann mit Lernbehinderung vorgenommen hatte – ohne Beschluss des Betreuungsgerichtes. Das Gericht erkannte keine kriminelle Absicht, der Arzt musste 10.000 Euro an eine gemeinnützige Organisation zahlen und eine Fortbildung zum Thema „Ärztliche Aufklärungspflicht und Einwilligung“ besuchen. Die Eltern mussten lediglich an einer Fortbildung zum Thema „Rechte und Pflichten von ehrenamtlichen Betreuern“ teilnehmen.12
Hier wird abermals deutlich, welcher enorme Aufholbedarf in Deutschland weiterhin besteht, wenn es um die reproduktive Selbstbestimmung behinderter Menschen geht – gesellschaftlich, rechtlich und alltagspraktisch, denn diese ist ein Menschenrecht. Dafür sind Aufklärung, Beratung, finanzielle Mittel und vor allem ein kritischer Blick auf diskriminierende Strukturen dringend nötig.
- 1Anm. zur Schreibweise: Im Großteil des Textes wird mit Sternchen * gegendert, wenn es sich um Personengruppen handelt, da die fehlende sprachliche Abbildung zu dieser Zeit nicht zwangsläufig die Abwesenheit der damit sichtbar gemachten Personen bedeutet. „NationalsozialistInnen“ hingegen ist bewusst mit dem Binnen-I versehen, da es innerhalb ihrer Ideologie keinen Raum für Identitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit gibt. Weitere Ausnahmen sind Eigenbezeichnungen wie „Krüppelfrauen“ und die Wiedergabe von Studienergebnissen.
- 2Torres, Émile P. (2023): A Short History of Eugenics: From Plato to Nick Bostrom. The idea of selective human breeding is as enduring as it is dangerous. Online: www.kurzelinks.de/gid266-lg.
- 3Braun, K./Hermann, S. (2013): Unrecht zweiter Ordnung. Die Weitergeltung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in der Bundesrepublik. In: Claudia Fröhlich et al. (Hg.): Rechtsstaatliche Demokratie und Erbschaft des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik, Baden-Baden.
- 4Köbsell, S. (1987): Eingriffe. Zwangssterilisation geistige behinderter Frauen, AG SPAK, München.
- 5Das Beruhigungsmittel Contergan wurde in den 1950er Jahren gegen Beschwerden in der frühen Schwangerschaft verschrieben. In der Folge kam es zu einer Zunahme von Körperbehinderungen bei Neugeborenen, in Deutschland etwa 4.000 Kindern. Ein Zusammenhang mit der Einnahme von Contergan wurde erst 1961 aufgedeckt.
- 6Marzell, P. (2020): Krüppelfrauengruppen. Online: www.kurzelinks.de/gid266-lh.
- 7Schenk, B.-M. (2013): Behinderung – Genetik – Vorsorge. Sterilisationspraxis und humangenetische Beratung in der Bundesrepublik. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10, H, 3, www.doi.org/10.14765/zzf.dok-1507.
- 8Die Änderung war Teil einer umfassenderen Reform des Betreuungsrechts, während des Gesetzgebungsverfahrens brachten sich unterschiedliche Verbände durch Stellungnahmen ein und forderten die explizit Ausformulierung, dass dem Wunsch der Betroffenen zu entsprechen sei.
- 9Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015): Concludig observations on the initial report of Germany. Online: www.kurzelinks.de/gid266-li.
- 10Zinsmeister, J. (2017): Behinderungen reproduktiver Freiheit und Gesundheit. In: djbZ - Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes 20(1), www.doi.org/10.5771/1866-377X-2017-1.
- 11Habermann-Horstmeier, L. (2020): Schwangerschaftsverhütung bei Menschen mit geistiger Behinderung. www.doi.org/10.13140/RG.2.2.14737.45924.
- 12Ärzteblatt (30.06.23): Bayerischer Arzt wegen Zwangssterilisierungen zu Bewährungsstrafe verurteilt. Online: www.kurzelinks.de/gid266-lj.
Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.
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