Von der Tagesordnung gestrichen?

Ampel-Aus, Behindertenpolitik und Neuwahlen

Am 6. November letzten Jahres entließ Bundeskanzler Scholz Finanzminister Lindner – damit wurde das Ende der Ampelkoalition offenbar. Zwei Tage später hätte im Bundestag über den interfraktionellen Antrag für ein Monitoring des NIPT abgestimmt werden sollen. Doch die Lesung wurde in den Wirren von der Tagesordnung gestrichen. Bald hieß es, besonders wichtige Vorhaben sollten noch vor den Neuwahlen verabschiedet werden. Gehören behindertenpolitische Anliegen schlicht nicht dazu?

Das Bild zeigt eine Menschenmenge bei einer Kundgebung, draußen ist es dukel. Im Vordergrund sind ein leuchtender, regebnbogenfarbener Schirm, ein Plakat mit der Aufschrift "Demokratie schützern" sowie die Fahne der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) zu sehen.

Kundgebung "Die Brandmauer verteidigen" © Leonhard Lenz

Eine Entschließung aus dem Bundesrat, ein interfraktionell getragener Antrag von 121 Abgeordneten von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und der Gruppe Die Linke, eine Expert*innenanhörung im Gesundheitsausschuss, in der sich die Geladenen mehrheitlich für ein Monitoring der Folgen der Kassenzulassung aussprachen: Es sah gut aus für die Abstimmung zum Antrag „Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests – Monitoring der Konsequenzen und Einrichtung eines Gremiums“. Doch dann kam alles anders. 

Die zweite und dritte Lesung verschwanden von der Tagesordnung – zunächst ersatzlos. Zwar beteuerten SPD und Grüne wiederholt, „wichtige Vorhaben“ noch vor den für Ende Februar angesetzten Neuwahlen voranbringen zu wollen – der Antrag zum NIPT-Monitoring schien aber trotz guter Aussichten für eine Mehrheit wohl nicht wichtig genug zu sein. An zivilgesellschaftlicher Initiative mangelte es nicht – das Bündnis gegen die Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien* (#NoNIPT) rief dazu auf, die eigenen Wahlkreisabgeordneten anzuschreiben, Aktivist*innen und Elternvertreter*innen verliehen den Forderungen auf Social Media Nachdruck. Scheinbar vergeblich – die Wahlen wird in weniger als einer Woche stattfinden.

Zwar hat der Antrag, zumal er von einer interfraktionellen Gruppe vorgebracht wurde, auch im neu gewählten Bundestag mit anderen Mehrheiten eine realistische Chance. Allerdings dürfte sich der Zeitpunkt erheblich verzögern. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Regierungsbildung nicht einfach werden und Zeit in Anspruch nehmen. Das klanglose Verschwinden von der Tagesordnung im November deutet außerdem nicht darauf hin, dass das Monitoring für irgendeine Partei Priorität hat. Und die zu befürchtende Zunahme an Sitzen für die AfD-Fraktion wird wohl auch bedeuten, dass der Arbeitsbetrieb des Parlaments in noch größerem Maße als bisher durch den Missbrauch von Instrumenten wie kleinen Anfragen verzögert und gestört wird. 

Schlechte Bilanz der Ampelkoalition bei Inklusionsthemen

Auch vor dem Koalitionsbruch konnte die Bundesregierung im Bereich Inklusion keine nennenswerten Fortschritte vorweisen. Vorhaben wie die Reform des Werkstattentgelts, Nachbesserungen beim Bundesteilhabegesetz und Behindertengleichstellungsgesetz wurden nicht umgesetzt. Stattdessen gab es in einigen Bereichen sogar deutliche Verschlechterungen: im Zuge der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts werden behinderte Menschen im Vergleich zur vorherigen Fassung deutlich benachteiligt. Die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen kann demnach nur noch, wer keine Sozialleistungen empfängt und seinen Lebensunterhalt vollumfänglich selbständig bestreitet – für viele behinderte Menschen ist diese Hürde faktisch unüberwindbar. Zuvor hatte es hier eine Ausnahmeregelung gegeben, deren Streichung die FDP in das Gesetz hineinverhandelt hat.

Kleiner Trost: Überfällige Anerkennung der Opfer der NS-Euthanasie als Verfolgte des Naziregimes

Nach dem Ende der Regierungskoalition hat es immerhin ein Antrag geschafft: der Antrag mit dem Titel „Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation – Aufarbeitung intensivieren“, der von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP eingebracht wurde, wurde am 29. Januar 2025 einstimmig angenommen. Damit wird nicht nur aus der bisher lediglich symbolischen Anerkennung der 300.000 im Zuge der nationalsozialistischen „Euthanasie“ umgebrachten und 400.000 unter dem sogenannten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisierten Menschen eine Anerkennung als offizielle Opfergruppe. Auch die Bereitstellung von Mitteln für die wissenschaftliche Aufarbeitung der behindertenfeindlichen Gewalt sowie den Erhalt der Gedenkstätten wurden in diesem Zuge beschlossen.

Behindertenpolitik – (k)ein Thema fürs Wahlprogramm?

Im Wahlprogramm der SPD kommt das Wort „Inklusion“ ganze zwei Mal vor – im Abschnitt zu Sport. Es fehlt dagegen beispielsweise im Kapitel „Gute Bildung für alle“ oder in dem zum Arbeitsmarkt. Die CDU/CSU widmet dem Anliegen „Teilhabe von Menschen mit Behinderung sichern“ zumindest einen eigenen Abschnitt. Allerdings zählt zu den aufgezählten Punkten auch der Erhalt von Parallelstrukturen wie Förderschulen: „Wir sorgen für individuelle Bildungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und sehen neben Inklusionsangeboten auch Förderschulen als Bestandteil der Bildungswelt.“. Die FDP hält diese ebenfalls für „unverzichtbar“. Damit untergraben sie die Forderungen von Behindertenrechtsaktivist*innen, Elternvertreter*innen und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Grünen hingegen geben die UN-Behindertenrechtskonvention als Maßstab an, bezeichnen das Werkstattsystem als ausgrenzend und formulieren inklusive Bildung von Anfang an als Ideal. Sie nennen neben Ausbildung und Arbeitsmarkt auch weitere Bereiche, in denen die Gleichberechtigung behinderter Menschen vorangetrieben werden muss, wie etwas Wohnungsmarkt und Sozialraumplanung und weisen auf die Notwendigkeit von Peer-Beratung und Unterstützung für gewaltbetroffene behinderte Menschen hin. Die Linke weist Parallelstrukturen wie große Wohnstätten und Förderschulen explizit als ausgrenzend aus, fordert eine inklusive Beschulung und Mindestlohn für behinderte Menschen. Bemerkenswert ist hier gegenüber den anderen Parteien der Anspruch, die Privatwirtschaft gesetzlich zur Herstellung von Barrierefreiheit zu verpflichten. Eine Abschaffung von Parallelstrukturen wie Werkstätten fordert allerdings auch die Linke nicht.

Die AfD jedoch spricht sich nicht nur für den Erhalt der Förderschulen aus, sie möchte diese „wieder zum Regelfall für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ machen, laut ihrem Programm würde die inklusive Beschulung Lehrkräfte überfordern und Mitschüler*innen „am Lernfortschritt hindern“. In vergangenen Wahlprogrammen hatte die Partei Inklusion als „Ideologieprojekt“ bezeichnet, Björn Höcke bezeichnete sie sogar als „Irrweg“. Ressentiments gegen behinderte Menschen finden sich bei Vertreter*innen der AfD vielfach und sind Teil der Ideologie der Ungleichwertigkeit, die die Partei vertritt. So bezeichnete etwa der damalige Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, die Tagesschau in einfacher Sprache als „Nachrichten für Idioten“. Bereits 2018 hatte die AFD mit einer kleinen Anfrage für einen Skandal gesorgt: In der Anfrage hatte sie einen Zusammenhang zwischen der Anzahl von Schwerbehinderungen und Zuwanderung hergestellt. Eine positive Bezugnahme auf „Eugenik“ gab es öffentlich zumindest aus dem Vorfeld der Partei, so hatte Krah-Mitarbeiter Erik Ahrens auf der Plattform X geschrieben: „Weil ich immer wieder höre, Beschäftigung mit Genetik von rechts sei Eugenik und darum böse. Was auch Eugenik ist: Verbot von Inzest, um erbliche Defekte (verursacht durch doppelte rezessive Gene) zu vermeiden.“ 

Zwar spricht sich die AfD allgemein und pauschal gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aus, das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass sie damit auch die behindertenfeindliche vorgeburtliche Selektion ablehnt – statt diese per Pränataldiagnostik im Bauch Schwangerer vorzunehmen, geht es der AfD darum, früher zu regulieren, wer überhaupt Kinder bekommen sollte. Welche Rolle genetische Tests für bestimmte Erbanlagen dabei spielen könnten, bleibt abzuwarten. 

Fest steht: Behindertenfeindlichkeit ist ebenso wie Rassismus, Misogynie und Queerfeindlichkeit fester Bestandteil der von der AfD vertretenen Ideologie. Auch ohne Regierungsbeteiligung wird sie versuchen, Abstimmungen mit dieser Stoßrichtung zu Mehrheiten zu verhelfen. Und spätestens seit der Abstimmung vom 30. Januar 2025 im Bundestag ist klar: Es gibt auch auf Bundesebene Parteien, die die Stimmen der AfD-Fraktion bereitwillig annehmen und ihre Normalisierung so vorantreiben.

17. Februar 2025

Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.

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