Gentests beim Neugeborenen-Screening

Ein Erfahrungsbericht aus Frankreich

Warum der „informed consent” eine Fiktion ist - ein Erfahrungsbericht aus Frankreich.

September 2009. Wir befinden uns in einem großen Hospital westlich von Paris. Um 18.56 Uhr ist es endlich soweit: Unser kleiner Sohn kommt auf die Welt, wir sind sehr glücklich. Doch schon bald nach der Geburt folgt die medizinische Nachbearbeitung des Falles. Am dritten Lebenstag soll der Kleine auf alle möglichen Krankheiten untersucht werden. Zwischen Windelwechsel und Babybad händigt mir die Säuglingspflegerin eine kleine Pappkarte aus, auf der wir unterschreiben sollen. Dort werden später neun Tropfen Fersenblut aufgetropft. Erstaunt sehe ich auf der Screeningkarte, dass wir bereits vorsorglich einem möglichen Mukoviszidose-Gentest zustimmen sollen, falls er als notwendig erachtet wird. Nach Rücksprache mit meiner Partnerin entscheiden wir uns, dort „Nein” anzukreuzen - nicht ahnend, welchen Sturm der Empörung wir damit auslösen. Schon die Säuglingsschwester wirft einen prüfenden Blick auf das Formular, als wollte sie sicherstellen, dass wir die „richtige Entscheidung” getroffen haben. Als sie entsetzt bemerkt, dass wir keine pauschale Einwilligung geben, setzt sie mich unter Druck: Morgen sei der Kinderarzt da, der würde dann ein Wörtchen mit mir reden. Einige Stunden später fährt mich die Leiterin der Neonatologie auf dem Krankenhausflur an, wie wir nur auf die Idee kommen könnten, einen Gentest zu verweigern. Unser Verhalten spricht sich beim Personal herum: Als mich eine Hebamme nach meiner nationalen Herkunft fragt, ist der Höhepunkt erreicht.

Neugeborenen-Screenings rekurrieren auf genetische Information

Zum Hintergrund: Im Rahmen des sogenannten Neugeborenen-Screenings werden alle in Frankreich geborenen Säuglinge auf die Stoffwechselstörungen Phenylketonurie, Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion), Adrenogenitales Syndrom, die Lungenerkrankung Mukoviszidose (Cystische Fibrose) und bei Bedarf auf Sichelzell­anämie getestet. Seit 2005 gibt es dieses Screening auch in Deutschland, hier werden sogar bis zu zwanzig Krankheiten getestet.1 Im Gegensatz zu Frankreich wird in Deutschland aber bisher kein flächendeckendes Mukoviszidose-Screening durchgeführt. Die Kosten für das Screening übernehmen in beiden Ländern die gesetzlichen Krankenversicherungen. Alle getesteten Krankheiten können durch spezielle Diäten oder Hormongaben schon früh behandelt werden und nehmen dann einen wesentlich weniger schweren Verlauf. Dies ist der entscheidende Punkt, der für die Diagnostik spricht. Doch weshalb ist für die Mukoviszidose-Diagnostik ein Gentest notwendig? Zunächst überprüfen die französischen Ärzte, ob das Säuglingsblut eine erhöhte Trypsinkonzentration aufweist. Ist dies der Fall, liegt damit aber nur ein Indiz für die Krankheit vor - die meisten Kinder mit erhöhten Trypsinwerten haben keine Mukoviszidose. Deshalb wird zur Sicherheit mit einem Gentest nachgeprüft, ob Mutationen im CFTR-Gen vorliegen. Da der Säugling noch nicht selbst über den Gentest entscheiden kann, ist hierfür die Zustimmung der Eltern erforderlich. Die Tests können bisher nur 85 Prozent der über 1000 CF-Mutationen detektieren, es gibt also auch hier keine vollkommene Eindeutigkeit. Trotzdem spricht dies nicht grundsätzlich gegen den Gentest, der in Frankreich bei einem von 200 Neugeborenen gemacht wird.2

„Informed Consent“ im Praxistest

Problematisch ist der Gentest dann, wenn die Eltern ers­tens nicht über diesen Hintergrund informiert werden und zweitens ihre Entscheidung für oder gegen den Test nicht akzeptiert wird. Das obige Fallbeispiel zeigt, dass die Idee vom informed consent in der Praxis nicht funktioniert: Eigentlich ist es vorgesehen, dass vor der Blutabnahme zwischen den Eltern und dem Klinikpersonal ein Dialog über das Ziel der Untersuchung stattfindet, schreibt die Association Française pour le Dépistage et la Prévention des Handicaps de l’Enfant (AFDPHE).3 Zweitens weist der Verein ausdrücklich darauf hin, dass die Eltern das Recht haben, einen Gentest zu verweigern.4Auch Philippe Busquin, EU-Kommissar für Forschung betonte 2004, dass „Gentests freiwillig sind und niemals aufgezwungen werden können”.5 Sogar in der Patientencharta ist vermerkt, dass jeder Patient das Recht hat, eine Behandlung zu verweigern, insbesondere wenn es sich um eine biomedizinische Untersuchung handelt. Ihm dürfen durch eine Verweigerung keine Nachteile entstehen.6 Diese Grundsätze wurden hier verletzt: Beides, die Beratung und die Entscheidungsautonomie der Betroffenen stellten sich in der klinischen Praxis als völlige Fiktionen heraus. Die Information blieb auf ein Werbefaltblatt der AFDPHE 7 beschränkt, das uns nebenbei in die Wiege gelegt wurde und unbemerkt blieb. Anstatt eine sachliche Beratung durchzuführen und die Entscheidung der Eltern neutral zur Kenntnis zu nehmen, setzten uns Klinikmitarbeiter psychologisch unter Druck und versuchten, bei uns Schuldgefühle auszulösen. Somit kann von einer freien Entscheidung keine Rede mehr sein.

„Informed Dissent“ als Skandal

Selbst wenn wir über den vielleicht unbedenklichen Hintergrund des Tests aufgeklärt worden wären, hätten wir uns aber vermutlich dagegen entschieden. Gerechtfertigt ist das Unbehagen gegenüber einem Gentest aus drei Gründen. Brisant ist erstens, dass es sich um einen prädiktiven Test handelt, der prekäres Wissen über einen möglichen zukünftigen Krankheitsausbruch liefert. Zweitens kommen hier die gesamten Erbinformationen des Kindes ins Spiel - und mit ihnen auch jene der Eltern. Bestätigt sich eine Genmutation bei dem Neugeborenen, so ist der Vater oder die Mutter notwendigerweise heterozygote(r) MerkmalsträgerIn. Drittens - und dies ist das stärks­te Argument - stellt sich auch die Frage, wo und wie lange das entnommene genetische Material aufbewahrt wird, ob es anonymisiert wird und wer darauf Zugriff hat, etwa für Forschungen. So betreibt die oben erwähnte französische Klinik Forschungen zur Mukoviszidose, wie wir später herausgefunden haben. Vielleicht war das Personal deshalb so erpicht auf unsere Zustimmung zum potentiellen Gentest? Ein großer Vergleichsgenpool an gesunden Profilen, der mit den tatsächlich kranken verglichen werden kann, ist in der biomedizinischen Industrie Gold wert. Die Eltern werden davon aber nie etwas mitbekommen. In jedem Fall wurde deutlich, das wir mit unserer ablehnenden Haltung offenbar zu einer verschwindenden Minderheit gehören. Während der informed dissent für einen Skandal sorgt, rührt sich nur wenig Protest gegen Babygentests, die von privaten Firmen angeboten werden. Die Frage des informed consent stellt sich hier nicht, weil diese Tests auf dem freien Markt angeboten werden. Skandalös sind aber die Versprechungen, die besorgten Eltern gemacht werden; denn viele der angebotenen Test erlauben nur vage Aussagen über künftige Erkrankungen, und das einzige Ergebnis solcher Tests ist die Verunsicherung schlecht informierter Eltern.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
198
vom Februar 2010
Seite 31 - 32

Fabian Kröger ist Kulturwissenschaftler und Journalist in Paris.

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